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Wobei man aber auch anmerken sollte, dass die Hintergründe bzw. die Ursachen für das Aufbegehren der Bevölkerung gegen die quasi absolutistische Monarchie des Shah teilweise wiederum andere waren als jene, die das jetzige Aufbegehren gegen die religiös verbrämte Mullahkratie verursacht haben. Parallelen sehe ich im Grunde eigentlich nur in den sozialen Sorgen (schlechte Arbeitsperspektiven, Korruption, Inflation, Lebenshaltungskosten etc.), aber das war es dann auch.
1979 bzw. davor waren das religiöse und das sozialrevolutionäre Element bei den Protesten gegen die Diktatur des Shah sehr stark dominierend, hinzu kam natürlich noch die Annahme, dass Khomeini eine Art von Erlöserfigur sei, die beide Aspekte bedienen könnte. In der Realität war dies dann aber später nicht der Fall, da sich die religiösen Eiferer nach der Machtübernahme aller sozialrevolutionären Kräfte versuchten zu entledigen. (Was dann auch recht blutrünstig geschah.)
Das Problem, das das gegenwärtige iranische Regime mit den Volksmudschahedin hat, rührt letztlich noch daher. Dieses sind eigentlich die militanten Überbleibsel der in den 1960ern gegründeten und gegen den Shah eingestellten säkular-sozialrevolutionären Gruppierungen. Während und vor der Revolution haben die religiösen Anführer diese Gruppen noch gerne gewähren lassen, schadeten sie doch (auch) dem verhassten Shah. Nach der schiitischen Revolution allerdings hat man sie kurzerhand als "gottlose Kommunisten" - ein säkularer Staat ist in den Augen der Mullahs beinahe schon Gotteslästerung - bezeichnet und teils auch massakriert, was dazu führte, dass die Reste in den Untergrund gingen. Und das Problem hat man noch heute am Hals...
Insofern: Während sich also die Proteste damals in den 1970ern quasi für die Religion (und teils sozialrevolutionäre Gedanken) aussprachen und einsetzten, wenden sich die Protestierenden von heute jedoch gegen das religiöse Regime - ich sage bewusst nicht, dass die Demonstrationen gegen die Religion gerichtet seien, das wäre nicht ganz zutreffend, da es auch Gläubige unter den Protestierenden gibt - und seine völlig überzogenen, einengenden Moralvorstellungen. (Und natürlich auch gegen die Brutalität der Polizei.)
Schneemann
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(02.10.2022, 03:52)I_Need_A_Medic schrieb: 2. Du behebst die Probleme nicht. Indem du die Menschen ignorierst, ignorierst du den Grund der Proteste. Warum das so aus dem Ruder läuft. Kein Volk würde über Wochen sich niederschießen lassen wenn es nicht daran glaubt. Für die Geheimdienste anderer Länder würden Frauen nicht ihre Hijabs verbrennen.
Ne so war es ja auch nicht gemeint. Studenten, junge Leute aus der oberen Mittelschicht, die für westlichere Kleidung usw. demonstrieren sind mal das Eine. Wenn sich unter Protestierende dann bewaffnete Einzelpersonen mischen, sich Gerüchte und Absprachen über soziale Medien verteilen, Banken und Polizeistationen mit Waffen und Brandmunition angegriffen werden, dann sind DAS keine jungen Frauen denen ihr ohnehin in der islamischen Welt vergleichsweise locker sitzender Hijab auf den Zeiger geht.. Im Iran sind Handwaffen innerhalb der Zivilbevölkerung nicht so verbreitet. Insbesondere nicht in der Stadt. Wer damit erwischt wird, hat in der Regel ernsthafte Schwierigkeiten. Da mischen sich Kräfte unter die Protestierenden, die als Trittbrettfahrer die Gewalteskalation suchen. Beispielsweise MEK, KDPI, usw. Das Schema ist ja weltweit bekannt und durchaus bewährt. Gerade westliche Geheimdienste (insb. CIA) sind Experten auf diesem Gebiet und die MEK und KDPI sind ebenfalls keine Anfänger, sowohl im Westen als auch im Iran sehr gut vernetzt, mit recht freiem Gestaltungsraum und ohne Finanzierungsprobleme. Insofern haben diese Proteste mehrere Ebenen und da verbinden sich eine Reihe von Interessenslagen, die die iranischen Sicherheitskräfte in einen Mehrfrontenkrieg zwingen.
Zitat:Zu deinen Drei-Fronten:
In Belutschistan gab es schon seit Jahrzehnten separatistische Bewegungen. Das ist nun wirklich nichts neues. Iran ist nun einmal ein Vielvölkerstaat, diese haben oftmals separatistische Minderheiten.
Separatisten aus Kurdistan. Kurdistan hat in allen der vier Länder (Syrien, Türkei, Irak, Iran) Anhänger. Türkei ist NATO Mitglied. Wundert es wen? Die Kurden sind hauptsächlich Sunniten, die Theokratie im Iran ist aber schiitisch geprägt. Religiöse Minderheiten werden hier diskriminiert. Ethnische Minderheiten wie die Kurden werden ebenfalls diskriminiert.
Ich habe nicht gesagt, dass das neue Entwicklungen sind. Im Gegenteil. Die betreffenden Bewegungen und deren Funktion ist hinreichend bekannt. Im Gegensatz zu Pakistan und Irak, bieten die Türkei und der Iran solchen Gruppen keine offenen Rückzugsräume. Die KDPI kontrolliert quasi auf irakischer Seite der Grenze und "zollfreien Handel". Die KRG tut exakt nichts dagegen und US Kräfte, sogar Israelis, gehen dort ein und aus. In Pakistan ist die Situation nicht wesentlich anders und beide Grenzen sind unglaublich schwer zu kontrollieren. Die Situation wird daher ausgenutzt.
Zitat:Die Volksmujahideen sind irrelevant. Sie haben keinen Rückhalt in der Bevölkerung, der Sohn vom letzten Shah will ja nicht mal regieren, die Mehrheit der Iraner will das auch nicht.
Die MEK werden sich nicht als solche zu erkennen geben. Solche Leute kontaktieren einen auch in Deutschland. Die laden einen zu Treffen und Persischen Nächten, Diskos und sowas ein, tragen in ihren Parteibüros aber alle ein strenges Kopftuch. Genau die Doppelmoral, die jungen Frauen im Iran eigentlich auf den Trichter geht, wird dort praktiziert. Es gibt tausende davon, überall, und viele, die sich in diesem Dunstkreis bewegen, wissen es gar nicht. Es ist vollkommen ausgeschlossen in Deutschland mit iranischen Wurzeln zu leben, ohne von diesen Personen auf die Freundliche belästigt zu werden. Darunter sind ein paar wenige besonders soziale, die Bescheid wissen und ihre Schäfchen (Freund oder Feind) im Griff haben, kartografieren. Das ist in Frankreich, UK, USA, Schweden nicht anders. In diesem Dunstkreis hat sich die MEK ganz bewusst eingenistet, gibt ihnen den besten Zugang im Westen und im Iran. Und sie haben hier völlig freie Handhabe.
Zitat:Das westliche Geheimdienste im Iran agieren ist nichts neues. Der Iran agiert ja auch in Gaza, Syrien und auch in Deutschland (Mykonos Attentat). Warum soll man jetzt noch die Straße von Hormuz unsicher machen und die Ölpreise ins unermessliche steigen lassen? Die Regierungen wollen die Inflation bekämpfen, nicht anheizen. Keiner hat momentan Zeit, Geld, Lust, sich auf ein iranisches Abenteuer einzulassen.
Ich hatte nicht die Absicht den iranischen Staat als Opfer darstellen. Als Opfer bleibt man nicht lange an der Macht. Das beißt sich. Inflation wiederum ist ein sehr komplexes Thema, ist per se erstmal gesünder als eine Stagflation. Wenn die eigene Währung nicht mehr taugt, um ausländische Konsumgüter zu beschaffen und ausländische Währung schwer erhältlich ist, steigt die Inflation automatisch. Plötzlich wollen viele Menschen ihre Rial gegen Dollar oder Euro tauschen und wer Dollar hat, bestimmt den Preis. Der Staat ist genötigt Dollar unter Schwarzmarktkurs anzubieten (woher auch immer die herkommen) um das zu bremsen. Ausländische Investitionen sind sehr gering, was den Staat zwingt günstiges Geld für Projekte auf den Markt zu werfen. Iranische Devisen in der Höhe eines zahlungsunfähigen Griechenlands liegen mal eben so unerreichbar auf ausländischen Banken. Im Iran kommt die staatlich geförderte Landflucht hinzu, womit Wohnraum in den Städten exorbitant teuer geworden ist. Dazu wirkt auch dass die Energiepreise (Benzin, Gas) jahrzehntelang aberwitzig subventioniert wurden. Selbst ohne Subvention kostet das aus unserer Sicht quasi nichts, aber stellt real eine Vervielfachung dar. Das Thema ist also gar nicht so einfach zu lösen.
Zitat:Du scheinst nicht zu sehen warum die Leute auf die Straße gehen. Du siehst das nur aus einer sicherheitsperspektive der Machthaber. Nicht aus einer Perspektive der Bevölkerung, die verarmt, die die Korruption leid ist, die sich eben nicht mehr den theokratischen Regeln / Gängelungen unterwerfen will, die sie im übrigen nie ernsthaft wollte.
Du Leute, die wegen des kurdischen Mädchens auf die Straße gegangen sind, gehören gar nicht zu dem Teil der Gesellschaft, der um seinen Broterwerb kämpfen muss. Bei diesem Motiv geht es um "Luxusprobleme", ohne das Wort bitte provokativ zu verstehen. Den abendlichen Ausgang, das iPhone und die Schminke muss man sich erstmal leisten können, um diese Schranke als solche zu empfinden. Das ist aber nur 1 Layer, der aktuellen Konfliktlage. Die anderen Layer sind bekannte, militante Separatisten die auf den Zug aufspringen und auf die Polizei ballern. Gerade der ärmere Teil der Bevölkerung wird von den islamischen Stiftungen am Leben gehalten, ist mehrheitlich konservativ eigenstellt und betrachtet Frauen ohne Manteau und Hijab eher als Schlampen.
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(02.10.2022, 11:20)Quintus Fabius schrieb: Eine Mehrheit der Iraner (Landbevölkerung) wollte diese Regel und "Gängelungen"durchaus, gerade deshalb wurde ja der Shah gestürzt. Genau genommen war es damals genau das gleiche: es bestand ein ernsthaftes inneres Problem, dass hatte dann folgen.
In diesem Kontext würde mich interessieren, wie es denn bei den aktuellen Protesten auf dem Land aussieht? Wird dort auch protestiert und wenn ja warum und wofür? Oder ist das ein Phänomen der Großstädte?
Jein. Die Iraner wollten die versprochene gute Regierungsführung, aber keine Religionspolizei.
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Schneemann:
Zitat:völlig überzogenen, einengenden Moralvorstellungen
Auch wenn das für dich so vielleicht nicht vorstellbar ist, aber es gibt gar nicht so wenige Menschen, die diese Einengung wollen, die gerade eben solche "einengenden Moralvorstellungen" jederzeit deiner Idee von Freiheit vorziehen und die deshalb diese auch nicht als völlig überzogen wahrnehmen. Im Prinzip ist das ein Kampf verschiedener Meme, und damit verschiedener Auffassungen wie menschliches Zusammenleben stattfinden sollte.
Es war ja in Afghanistan beispielsweise genau das gleiche: die Mehrheit (!) der afghanischen Bevölkerung wollte eigentlich das gleiche was die Taliban wollen und will dies immer noch, was die Moralvorstellungen und "einengende" Vorschriften angeht. Genau deshalb, weil man sich dies seitens des Westens so nicht vorstellen konnte und immer noch nicht vorstellen kann, hat man derart darin versagt die Taliban zu besiegen.
Selbst und gerade eben die Frauen wollen durchaus in beachtlichen Anteilen eben diese Einengungen, weil diese für sie nicht eine überzogene Verminderung der Freiheit darstellen, sondern ganz im Gegenteil hohe Werte darstellen, welche sie jederzeit deinem Verständnis von Freiheit vorziehen.
I-need-a-medic:
Wie ich es schon geschrieben habe gab es da meiner Kenntnis nach einen drastischen Unterschied zwischen der Landbevölkerung und den Iranern in den Großstädten. Das religiöse Element der Revolution hatte daher durchaus das Ziel die "Sittenlosgikeit" welche sich von "verwestlichten" Kreisen in den Städten aus ausbreitete aktiv zu bekämpfen - item die Religionspolizei.
KheibarShekan:
Wie sieht es aktuell bei den Protesten in Bezug auf Land - vs - Stadt aus? Sind die aktuellen Ausschreitungen vor allem eine Sache der Städte, oder gibt es auch auf dem Land entsprechende Proteste? Und falls ja, in welchem Verhältnis / Ausmaß?
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@Quintus
Zitat:Auch wenn das für dich so vielleicht nicht vorstellbar ist, aber es gibt gar nicht so wenige Menschen, die diese Einengung wollen, die gerade eben solche "einengenden Moralvorstellungen" jederzeit deiner Idee von Freiheit vorziehen und die deshalb diese auch nicht als völlig überzogen wahrnehmen. Im Prinzip ist das ein Kampf verschiedener Meme, und damit verschiedener Auffassungen wie menschliches Zusammenleben stattfinden sollte.
Es geht nicht um "meine" Idee, es geht um allgemein gültige Vorstellungen und ein Verständnis hierüber innerhalb einer Gesellschaft. Und ja, es gibt auch Frauen, die mit den Vorgaben des Mullahregimes anscheinend wohl einverstanden sind (gab übrigens auch Demonstrationen für die Verschleierung - zumindest wenn man den entsprechenden Berichten Glauben schenken will). Aber nur weil ein Teil einer Gesellschaft vielleicht diese Verschleierungen haben will - es waren zumeist ältere, mutmaßlich auch konservativere Personen (vielleicht waren es auch herangekarrte Personen aus ländlicheren Gebieten, die im Regelfalle konservativer sind) -, so kann ich deswegen nicht davon ableiten, dass es nun alle deswegen so handhaben müssen bzw. dass ich diejenigen, die es nicht haben wollen, entsprechend brutal behandeln darf. Und wir reden hier vermutlich von derzeit schon über 80 Todesopfern. Es geht also nicht um "einengende Moralvorstellungen" oder darum, dass manche Frauen in der Verschleierung "hohe Werte" sehen, sondern diese Vorgehensweise derzeit ist jenseits aller Verhältnismäßigkeit...
Zitat:Es war ja in Afghanistan beispielsweise genau das gleiche: die Mehrheit (!) der afghanischen Bevölkerung wollte eigentlich das gleiche was die Taliban wollen und will dies immer noch, was die Moralvorstellungen und "einengende" Vorschriften angeht. Genau deshalb, weil man sich dies seitens des Westens so nicht vorstellen konnte und immer noch nicht vorstellen kann, hat man derart darin versagt die Taliban zu besiegen.
Afghanistan kannst du aber nicht mit dem Iran direkt vergleichen. Da sind alle Parameter zu unterschiedlich.
Schneemann
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(02.10.2022, 19:07)I_Need_A_Medic schrieb: Jein. Die Iraner wollten die versprochene gute Regierungsführung, aber keine Religionspolizei.
Die Revolution von 1979 war vorrangig durch nationalistische Ansätze getrieben und wurde gleichermaßen getragen von Islamisten und Kommunisten. Diesen iranischen Nationalismus haben bereits die Pahlavis und auch davor schon die Kadscharen für sich zu nutzen versucht, allerdings jeweils mit unterschiedlichen Ansätzen. Die Kadscharen interpretierten dies in Richtung ihrer Khan Tradition und mischten dies mit arischen Idealen, die zu der Zeit en-vogue waren. Daher Pikelhauben, österrischen Uniformen usw., was schon aufgrund ihrer eigenen ursprünglich turkmenischen Abstammung etwas abstrus wirkte und aufgrund der tatsächlich eher heterogenen Bevölkerungsstruktur ohnehin für einen großen Teil der Bevölkerung gar nicht anwendbar war. Letztlich waren die Kadscharen mit den geopolitischen Entwicklungen im Spannungsfeld zwischen den militärisch haushoch überlegenen UK, Russischen Reich, Osmanischen Reich sowie lokalen Aufständen und der zentralistischen Staatsführung heillos überfordert. Dazu musste man große Gebiete an Russland und UK abtreten, das Land war zeitweilig besetzt, schwere Hungersnot mit Millionen Toten usw. Der Blick war damals seitens der Führung immer am Westen bzw. den Großmächten ausgerichtet. Anfang des 20 Jh. war neben der Rassentheorie als vermeintlich moderner Ansatz für einheitliche Gesellschaften auch der Kommunismus en vogue. Die Pahlavis kanalisierten oder interpretierten das Nationalbewusstsein in Richtung "wieder erstarkter Pfauenthron" (auch und insbesondere als Gegenthese zu den Kommunisten) in Anlehnung an die Geschichte des Perserreiches, während sie selber mal Offiziere bei den Kosaken waren, als Vasallen der Westmächte dienten und sich eher auf Parties mit Stars und Sternchen in Monaco zuhause fühlten, als im eigenen Land. Vor allem wurden die Unterschiede im Land zwischen arm und reich immer plakativer. Die Revolution 1979 begann als Arbeiteraufstand. Damals gab es eine breite Anhängerschaft unter den iranischen Kommunisten sowie auch unter den Islamisten. Beide verband situativ, aus völlig unterschiedlichen philosophischen Grundansätzen heraus eine Gegnerschaft zur herrschenden elitären Klasse. Die Islamisten haben sich am Ende zahlenmäßig durchgesetzt und hatten mit Khomeini auch eine Lichtgestalt, einen charismatischen Führer. Da Macht eigentlich per Definition nicht teilbar ist, wurden die Kommunisten und die Royalisten umgebogen, vertrieben oder getötet. Daraus ist die MEK entstanden, die heute weiterhin die Exil-Opposition anführt. Der nationalistische Ansatz der iranischen Islamisten war eine Rückbesinnung auf die islamischen Kulturelemente und gleichzeitig Ablehnung westlicher Kultureinflüsse. Damit kam auch die staatlich gelenkte Abkehr von dem Ansatz, die westliche Kultur zum Vorbild zu nehmen. Gerade die Ablehnung westlicher Kultureinflüsse ist ein zentrales Element, welches konträr zu allen anderen nationalistischen Ansätzen der Vorgänger und Konkurrenten darstellt. Damit kam folglich auch die Sittenpolizei!
(02.10.2022, 22:49)Quintus Fabius schrieb: Auch wenn das für dich so vielleicht nicht vorstellbar ist, aber es gibt gar nicht so wenige Menschen, die diese Einengung wollen, die gerade eben solche "einengenden Moralvorstellungen" jederzeit deiner Idee von Freiheit vorziehen und die deshalb diese auch nicht als völlig überzogen wahrnehmen. Im Prinzip ist das ein Kampf verschiedener Meme, und damit verschiedener Auffassungen wie menschliches Zusammenleben stattfinden sollte.
Es gibt viele, augenscheinlich gar nicht so streng religiöse Bürger zumeist Männer 50+, die aufgrund ihrer konservativen Prägung schon irritiert sind, das Frauen bestimmte Berufe bekleiden, geschweige denn auch noch auf dem Weg zur Arbeit ein halbes Busabteil für sich beanspruchen. Wenn Jugendliche mit Jeans, AC/DC T-Shirt und zum Halstuch umfunktionierten Hijab an der Bushaltestelle warten um zur Uni zu fahren, dann bestätigt das Klischees. Die zeigen auch niemanden an, oder werden handgreiflich. Das ist einfach eine konservative Schicht die über die Jugend die Nase rümpft und vielleicht Sprüche raushaut, wenn es aus irgendwelchen Gründen zum Wortgefecht kommt. Das bedeutet nicht, dass das Menschen sind, die es befürworten, dass die Sittenpolizei oder die Sicherheitsorgane körperliche Gewalt gegenüber eigenen Bürgern ausübt. In der Regel tut sie das ja auch nicht einfach grundlos. Die Sittenplizei steht in der Regel nur rum und ermahnt und belehrt. Manchmal geht es auch auf die Wache und ich behaupte, es gibt einige Jugendliche sich mit diesen Auseinander gesetzt zu haben. Geht es auf die Wache, gibt in der Regel eine längere Belehrung von einer Verschleierten, unsympathischen, dogmatischen Person und man muss Besserung geloben und sich entschuldigen. Das war's. Dann gibt es aber auch Leute, die in dieser Situation die sich mit Worten und Widerstand unbelehrbar zeigen ... je nachdem an wen man dann geraten ist, kommt eins aufs andere und dann passieren ggf. so Dinge, wie mit dieser Kurdin, die mglw. Opfer von exzessiver Polizeigewalt geworden ist. Ich will das alles nicht verharmlosen. Aber die Sittenpolizei kontrolliert und setzt durch, was ein breiter Teil der konservativen Gesellschaft (ggf. die Eltern dieser Jugendlichen) für sittlich halten.
Zitat:Es war ja in Afghanistan beispielsweise genau das gleiche: die Mehrheit (!) der afghanischen Bevölkerung wollte eigentlich das gleiche was die Taliban wollen und will dies immer noch, was die Moralvorstellungen und "einengende" Vorschriften angeht.
Entsprechende Toleranzschwellen, was unsittlich ist, wie letztendlich kontrolliert und auch wie durchgesetzt wird, sind nur schwer vergleichbar. Da liegen schon nochmal andere Standards zu Grunde. Die Taliban hätten halb Teheran gesteinigt auch diejenigen, die sich dort selbst als konservativ beschreiben würden. Aber ich weiß worauf Du hinaus willst. Auch den Taliban geht es darum, einen vermeintlichen Konsens über Sitten und Normen nach einem streng konservativen Weltbild durchzusetzen, der in einer relevanten Breite in der Gesellschaft verankert ist.
Quintus Fabius schrieb:Wie ich es schon geschrieben habe gab es da meiner Kenntnis nach einen drastischen Unterschied zwischen der Landbevölkerung und den Iranern in den Großstädten. Das religiöse Element der Revolution hatte daher durchaus das Ziel die "Sittenlosgikeit" welche sich von "verwestlichten" Kreisen in den Städten aus ausbreitete aktiv zu bekämpfen - item die Religionspolizei.
...
Wie sieht es aktuell bei den Protesten in Bezug auf Land - vs - Stadt aus? Sind die aktuellen Ausschreitungen vor allem eine Sache der Städte, oder gibt es auch auf dem Land entsprechende Proteste? Und falls ja, in welchem Verhältnis / Ausmaß?
Tendenziell schon, regional verschieden. Aber das lässt sich nicht so verallgemeinern. Gerade in der Stadt trifft man immer Menschen jedweder Ansicht. Lustigerweise leben aber tatsächlich gerade die Kurdinnen, die bei Demonstrationen bspw. in Deutschland demonstrativ ihre Haare abschneiden im Umfeld einer iranischen Großstadt oder gar Universität zumeist wesentlich freier als in ihrem eigenen Elternhaus bzw. auf dem Lande, ohne dass jemals eine staatliche Sittenpolizei dort vorbeikommen wäre. Da muss ich immer lachen, wenn ich so eine fadenscheinige Darbietung sehe. Das selbe betrifft die MEK Leute, die vor allem mit ganz diametralen Mitteln und Worten ihre Anhänger ködern https://media.gettyimages.com/photos/tir...=2048x2048
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(02.10.2022, 22:49)Quintus Fabius schrieb: Selbst und gerade eben die Frauen wollen durchaus in beachtlichen Anteilen eben diese Einengungen, weil diese für sie nicht eine überzogene Verminderung der Freiheit darstellen, sondern ganz im Gegenteil hohe Werte darstellen, welche sie jederzeit deinem Verständnis von Freiheit vorziehen.
Was zu großen Teilen auf die religiöse "Gehirnwäsche" zurückzuführen ist, die in fundamentalistischen Gesellschaften stattfindet.
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Kultur und Wertevorstellung sind auch immer Generationenabhängig und dem Zeitgeist geschuldet. Als Beispiel mal ein Familienfoto aus den 1920er Jahren: https://ibb.co/p3XCGWS Die Damen und Herren sind offensichtlich einer höheren Gesellschaftsschicht zuzuordnen, haben damals schon im Frankreich und Deutschland studiert. 70 Jahre später hat meine Oma Rotz und Wasser geheult, als Ayatollah Khomeini gestorben ist, hat dreimal am Tag gebetet, wenn sie zu Besuch war, trug bei Ausflügen zum Einkaufen immer ein Kopftuch, obwohl hier keine Sittenpolizei war, hat allerdings auch MAL an Pralinen genascht, wohl wissend, damit eine kleine Sünde zu begehen.
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(03.10.2022, 16:16)KheibarShekan schrieb: Kultur und Wertevorstellung sind auch immer Generationenabhängig und dem Zeitgeist geschuldet. Als Beispiel mal ein Familienfoto aus den 1920er Jahren: https://ibb.co/p3XCGWS Die Damen und Herren sind offensichtlich einer höheren Gesellschaftsschicht zuzuordnen, haben damals schon im Frankreich und Deutschland studiert. 70 Jahre später hat meine Oma Rotz und Wasser geheult, als Ayatollah Khomeini gestorben ist, hat dreimal am Tag gebetet, wenn sie zu Besuch war, trug bei Ausflügen zum Einkaufen immer ein Kopftuch, obwohl hier keine Sittenpolizei war, hat allerdings auch MAL an Pralinen genascht, wohl wissend, damit eine kleine Sünde zu begehen.
Ich glaube nicht dass diese Familie für die Mehrheit im Iran auch damals repräsentativ war. Das war wohl eher den reicheren Vierteln in den größeren Städten vorbehalten. Aktuell glaube ich durchaus dass es eine große Minderheit gibt, die Gegner des Kopftuchzwanges im Iran sind. Aber sehr groß ist das Zeitfenster nicht mehr um dort einschneidende Änderungen durchzusetzen. Die Geburtenrate im Iran insgesamt sehr niedrig und in heimlich westlich orientierten Kreisen und/oder Akademikerkreisen dort weit unter 1 Kind pro Frau. In wenigen Jahrzehnten werden dort also die fundamental ausgerichteten Kreise eine satte Bevölkerungsmehrheit hinter sich haben.
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(08.10.2022, 17:11)lime schrieb: Ich glaube nicht dass diese Familie für die Mehrheit im Iran auch damals repräsentativ war. Das war wohl eher den reicheren Vierteln in den größeren Städten vorbehalten. Aktuell glaube ich durchaus dass es eine große Minderheit gibt, die Gegner des Kopftuchzwanges im Iran sind. Aber sehr groß ist das Zeitfenster nicht mehr um dort einschneidende Änderungen durchzusetzen. Die Geburtenrate im Iran insgesamt sehr niedrig und in heimlich westlich orientierten Kreisen und/oder Akademikerkreisen dort weit unter 1 Kind pro Frau. In wenigen Jahrzehnten werden dort also die fundamental ausgerichteten Kreise eine satte Bevölkerungsmehrheit hinter sich haben.
Wir wissen es nicht. Fakt ist dass vernünftige Umfragen im Iran kaum zu bekommen sind und dass die Wahlergebnisse schon lange nicht mehr die Ansichten der meisten Iraner reflektieren. Ich denke allerdings nicht dass das Kopftuchgebot nur von einer Minderheit der Menschen abgelehnt wird, dafür sind die Proteste dann doch zu anhaltend. Und auch die weniger westlich eingestellten Kreise im Iran haben wenige Kinder mittlerweile - es ist halt einfach zu teuer wenn man einen gewissen Lebensstandard halten will. Etwa 76% der Iraner leben mittlerweile in Städten, etwa 4 Millionen Iraner besuchen zurzeit eine höhere Bildungseinrichtung, etwa 30% aller Iraner zwischen 18-30 haben eine Universität besucht. Es wird also mittlerweile in fast jeder Familie jemanden geben der einen Uniabschluss hat, von da her gibt es keine so strenge Trennung zwischen Land und Stadt nicht mehr wie vor 50 Jahren.
Die fundamentalen Kreise halten sich wegen eines repressiven Staatsapparates und rekrutieren sich aus der bisherigen Elite und einigen weniger gut gestellten Gruppen. Ich glaube kaum dass die Hälfte der Iraner zu der Regierung steht.
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Die Proteste jetzt nehmen zwar vielleicht das (Kopftuchzwang) als Initialzündung, aber das erklärt in keinster Weise das Geschehen. Es geht meiner Einschätzung nach auch nicht um eine grundsätzliche Ablehnung der Sittenpolizei, des Kopftuch etc durch eine Mehrheit, sondern was zu wenig Beachtung findet ist, dass es im Iran erneut eine erhebliche systemische Korruption und Ungerechtigkeit und auch Ungleichverteilung gibt. Die Pasdaran haben sich überall in der Wirtschaft ausgebreitet, und fundamentalistische Gruppierungen bereichern sich am Staat und betreiben damit eine Bigotterie und Heuchelei. Es ist dieses Pharisäertum, die mangelnde Zukunftsperspektive und der Frust über den Staat im allgemeinen der sich da mit Bahn bricht.
Der Kopftuchzwang ist dabei nur ein Symbol für ein wesentlich größeres Faktorenbündel welches dahinter unter der Oberfläche grummelt. So zumindest meine Interpretation des Geschehens.
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(08.10.2022, 19:50)I_Need_A_Medic schrieb: Und auch die weniger westlich eingestellten Kreise im Iran haben wenige Kinder mittlerweile - es ist halt einfach zu teuer wenn man einen gewissen Lebensstandard halten will. Etwa 76% der Iraner leben mittlerweile in Städten, etwa 4 Millionen Iraner besuchen zurzeit eine höhere Bildungseinrichtung, etwa 30% aller Iraner zwischen 18-30 haben eine Universität besucht. Es wird also mittlerweile in fast jeder Familie jemanden geben der einen Uniabschluss hat, von da her gibt es keine so strenge Trennung zwischen Land und Stadt nicht mehr wie vor 50 Jahren.
Auf dem Land liegt die Geburtenrate aber bei ca, 4 Kindern und in den Städten nur bei rund 1. Und auch da gibt es noch große Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtvierteln. Und die Landbevölkerung ist immer noch sehr konservativ. Da kann sich jeder ausrechnen in welche Richtung sich das bewegt wenn die nächste Generation erwachsen ist. 30% Studenten bedeutet nicht automatisch dass diese alle liberal sind. Auch an den iranischen Universitäten gibt es starke konservative Strömungen.
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(08.10.2022, 21:22)lime schrieb: Auf dem Land liegt die Geburtenrate aber bei ca, 4 Kindern und in den Städten nur bei rund 1. Und auch da gibt es noch große Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtvierteln. Und die Landbevölkerung ist immer noch sehr konservativ. Da kann sich jeder ausrechnen in welche Richtung sich das bewegt wenn die nächste Generation erwachsen ist. 30% Studenten bedeutet nicht automatisch dass diese alle liberal sind. Auch an den iranischen Universitäten gibt es starke konservative Strömungen.
Das ist so nicht korrekt. Zumindest die Landbevölkerung hat keine 4 Kinder mehr; ich hab leider nur bis 2000 gefunden, damals sind die Geburtenraten schon bei 2 bzw. 3 gewesen. Ich denke nicht dass es sich auf dem Land erholt hat.
Was die Studenten betrifft, natürlich gibt es auch da sehr konservative Kreise. Aber die heutigen Protestler kommen ja nicht alle gebürtig aus dem Reformer Milieu.
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(09.10.2022, 00:06)I_Need_A_Medic schrieb: Das ist so nicht korrekt. Zumindest die Landbevölkerung hat keine 4 Kinder mehr; ich hab leider nur bis 2000 gefunden, damals sind die Geburtenraten schon bei 2 bzw. 3 gewesen. Ich denke nicht dass es sich auf dem Land erholt hat.
Was die Studenten betrifft, natürlich gibt es auch da sehr konservative Kreise. Aber die heutigen Protestler kommen ja nicht alle gebürtig aus dem Reformer Milieu.
Seit ca. 10 Jahren gibt es einen Umschwung in der iranischen Bevölkerungspolitik. Man will wieder mehr Geburten und vor allem auf dem Land sind die Geburtenzahlen wieder stark gestiegen. Auch weil man so wesentlich leichter an staatliche Kredite usw. kommt. In den Städten hat der Politikwandel nicht gefruchtet und die Geburtenrate ist dort sogar weiter gesunken.
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