Der Text ist sehr schön, da er alle oberflächlichen Informationen die AKP betreffend formuliert. Genau diese Argumente werden immer und immer wieder im Ausland, vor allem in Europa wiederholt.
Doch bohrt man tiefer, findet sich eine andere Realität. Allein schon die Aussage, dass die Türkei einen "Mittelweg zwischen Demokratie und Islam" gefunden hat, beschreibt nichts weiteres als ein Abrücken von der streng demokratischen und laizistischen Linie nach rechts, Richtung "Konservativismus".
Mich stört, dass man immer die "Demokratie" als das oberste Ziel ansieht. Das trifft nur auf eine Gesellschaft zu, die weitestgehend aufgeklärt ist. Ein Staat kann immer noch "demokratisch" sein, wenn die Mehrheit des Volkes eine verfassungsfeindliche, sogar faschistische Partei wählt, die dann eine nicht zu vernachlässigende Minderheit im Volk massiv unterdrückt. Dann ist der Staat zwar demokratisch, aber immer noch kein Rechtsstaat.
In jedem Staat gibt es Instrumente, die die Rechtsstaatlichkeit sichern, diese sind in der Verfassung festgehalten. Darin werden nicht nur Artikel angegeben, die nicht veränderbar und nicht streichbar sind, genauso werden Rede- und Meinungsfreiheiten eingeschränkt. Die Verfassung definiert eine unumstößliche Staatsordnung, die vom Volk auch nicht mit demokratischen Mitteln verändert werden kann.
Eine solche Verfassung hat nicht nur die Türkei, sondern auch Deutschland. Wenn man dennoch eine Veränderung herbeiführen will, so muss man die Verfassung gänzlich aufheben und den kompletten Staat abschaffen.
In der türkischen Verfassung ist unumstößlich verankert, dass die türkische Republik eine laizitische Republik ist. Es gibt keine Staatsreligion. Jeder Bürger hat das Recht auf Wahl seiner Religion, diese darf er nur im privaten Rahmen ausüben. Eine Verflechtung von Staat und Religion ist ausfrücklich verboten.
Und es handelt sich hier nicht um Paragraph Nr. 25535 oder sonstwas, sondern um einen der ersten Sieben Paragraphen. Dieser Artikel ist so bedeutend wie die Freiheit und Würde des Menschen. Der Laizismus steht in der türkischen Verfassung über dem demokratischen Prinzip.
Und dies haben auch die religiösen Hardliner erkannt. Deswegen mehren sich die Stimmen, die meinen, dass die Türkische Republik ja nun schon fast 100 Jahre existiert - so lang wie kein anderer bisheriger türkischer Staat - und langsam abgeschafft gehört. Es gibt zahlreiche Politiker unter der AKP, die dieser Meinung sind. Nicht umsonst wurden zahlreiche dieser Politiker mit Haftstrafen abgestraft, als das noch möglich war. In Deutschland würde man auch nicht anders verfahren. Wenn eine Partei, die die BRD abschaffen will, zahlenmäßig eine Bedeutung erlangen würde, käme der Verfassungsschutz und würde die Party beenden.
Und genau das ruft die Kemalisten auf den Plan. Natürlich sind das auch Demokraten, aber sie sind sich sicher, dass sie eher bereit sind, die Demokratie aufzugeben, als die Republik aufzugeben.
Zitat:Nur durch ihre demokratische Emanzipation erlangte die AKP Akzeptanz und Legitimation in der eigenen Bevölkerung sowie der europäischen Politik.
Die AKP hatte bei ihrer Machtergreifung 2002 34% der Stimmen, bei einer Wahlbeteiligung von 79%. Demnach hatten ca. 26% der Bevölkerung für die AKP gestimmt. 26% der Bevölkerung haben einer Partei zur absoluten Mehrheit im Parlament verholfen, die nach Belieben an Gesetzeswerken rumfummeln konnte, was dazu führte, dass der kemalistische Staatspräsident jedes Gesetz regelmäßig einkassierte, bis er von der AKP ausgetauscht wurde.
Sowas ist zum Glück in Deutschland nicht möglich.
Zitat:Wie selbstbewusst die Regierungspartei war, stellte sie 2003 unter Beweis. Sie verweigerte unter Verweis auf einen demokratisch gefällten Parlamentsbeschluss den USA bei der Irakinvasion die Gefolgschaft. Die türkische Demokratie düpierte die Amerikaner und bescherte den Türken eine nie dagewesene arabische Achtung.
Damit hat die AKP offenbar jeden Uninformierten übers Ohr gehauen. Denn die AKP hat ganz gewiss nicht den Einsatz so mutig abgelehnt, ganz im Gegenteil kam es mit den USA zu "Verhandlungen", wie hoch die "Aufwandsentschädigungen" für die Türkei sein würden, bzw. wieviele Milliarden Dollar man von den USA erhalten würde. Nach dieser peinlichen Bettelnummer hatte man sich sogar geeinigt, bis das türkische Militär daziwschen schoss. Die türkischen Generäle wollten eine Invasion vom Norden eigenständig durchführen, schließlich ging es um ein Nachbarland und um die Wahrung der eigenen Sicherheitsinteressen. Die Amerikaner wollten jedoch die türkischen Streitkräfte unter ihr Kommando stellen und sie keinesfalls im Nordirak bei den Kurden einsetzen. Deswegen trat die Türkei dem Irak-Krieg nicht bei, nicht wegen dem antiamerikansichen Heldenmut oder gar aus Liebe zu den Arabern ...
Zitat:Die türkische Demokratie düpierte die Amerikaner und bescherte den Türken eine nie dagewesene arabische Achtung. Aufgrund der Verbindung von islamischer Lebensweise und demokratischen Strukturen sowie der selbstbewussten und beachteten Außenpolitik betrachten viele Araber die Türkei auf staatlicher und politischer Ebene als ein erstrebenswertes Vorbild.
Erdogan ist bei Arabern ein Held. Aber jede Medallie hat ihre Kehrseite. Denn noch nie war das Verhältnis mit Israel so schlecht. Dabei ist Israel neben den USA der wichtigste militärische Verbündete und war bisher im Nahen Osten auch der einzige demokratische Staat. Mit Erdogan als Selbsternannten Chef im Nahen Osten war der Frieden in Palästina noch nie so weit entfernt, wie heute.
Zitat:Weiterhin kann die türkische Republik im wirtschaftlichen Bereich punkten. Die AKP-Regierung übernahm die wirtschaftlichen Altlasten der Vorgängerregierungen, welchen Misswirtschaft, Korruption und einer extremen Wirtschaftskrise des Jahreswechsels 2000/2001 geschuldet waren. Unisono mit dem Wahlsieg der AKP 2002 prosperierte auch die Wirtschaft. Das türkische Pro-Kopf-Einkommen stieg innerhalb von neun Jahren von 2160 Dollar auf mehr als 10000 Dollar.
Die Umfassendsten Wirtschaftsreformen wurden von Erdogans Vorgängeregierung unter der Federführung des Finanzministers Kemal Dervis vollzogen. Kemal Dervis ist im Gegensatz zum Grundschulabsolventen Erdogan Professor der Wirtschaftswissenschaften, war Vizepräsident der Weltbank und Direktior des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen.
Erdogan hatte 2 "Errungenschaften": Er hat die Reformen Dervis`s wirken lassen und er hat mit der Privatisierung (d.h. dem Ausverkauf) sämtlicher Staatsunternehmen kurzfristig Geld in die Kassen gespült, und zwar so viel, dass er momentan jedem Türken sogar eine Krankenversicherung zu gute kommen lässt. Doch leider ist das alles eben nur auf Pump, und irgendwann ist die Party vorbei. Erdogan hat auch die Schranken für ausländische Unternehmen fallen lassen, so dass sie in der Türkei "investieren" konnten: Mittlerweile ist jede türkische Privatbank in ausländischem Besitz. Und die schöne Pro-Kopf-Einkommensstatistik lässt sich eben auch entkräften: 90% der Wirtschaftskraft und Kaufkraft der Türkei beschränken sich auf den Großraum Istanbul. Die Zahl der Superreichen war noch nie so hoch wie heute. Ein türkischer Lehrer (Universitätsabsolvent) verdient monatlich 200 Euro. Ein Rentner erhält ca. 100-120 Euro. Die Bevölkerung beschwert sich zur Zeit, dass Fleischprodukte so teuer sind (teilweise das 5-fache der griechischen Preise), das liegt unter anderem daran, dass Erdogan die staatlich subventionierte Fleischindustrie fallen lies, genauso wie die Stilllegung des größten türkischen Raki-Produzenten Tekel (hat ja nichts mit Islamismus zu tun...). Eine Arbeiterfamilie kann sich pro Woche nur 500 Gramm Hackfleisch leisten. Mehr ist nicht drin. Gleichzeitig stapeln sich vor den teueren Diskotheken Istanbuls die Ferraris der 18-Jährigen, die Trotz einer Luxussteuer von 80% immer noch reissenden Absatz finden.
Das ist für mich kein wirtschaftlicher Wohlstand.
Zitat:Könnte die türkische Demokratie demnach ein Wegweiser für die Menschen im Maghreb und dem Nahen Osten sein?
Noch ja, die Frage ist aber, wie lange noch. Wird Erdogan wiedergewählt, führt er die zwei Spitzenämter zusammen, gibt es keine funktionstüchtige Opposition und schaut das Militär wieder einmal einfach nur zu, dann ist es leider Vorbei mit der Demokratie. Dann befürchte ich eine Katastrophe.
Nach der Volksabstimmung zur Verfassungsänderung 2010 ergab sich in der Türkei folgendes Bild:
[Bild:
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/co...m_2010.svg]
Man erkennt, wie zerstritten das Volk ist.
In den roten Gebieten, v.a. den Küsten, Großstädten (und besseren Orten Istanbuls, was man auf der Karte nicht erkennt) sitzen die europäischen, aufgeklärten Türken. Sie würden es genauso wenig akzeptieren, dass ein Regime ihnen ihre Freiheiten raubt, wie wir in Deutschland. Das sind ca. 30-40% der Bevölkerung.
In den grünen Regionen leben Hardliner (ca. 15% der Bevölkerung) sowie der Mob 45-55% , der denjenigen wählt, der die besten Sprüche kloppt ... und das ist Erdogan ...
Sollte sich die Lage zuspitzen ist ein großer Konflikt innerhalb der eigenen Grenzen wahrscheinlich.