Zukunft des Irak
#74
Heinsohn schrieb:Syrien entstand nach dem Ersten Weltkrieg als Folge der Zerschlagung des osmanisch-türkischen Reichs, das bekanntlich ein Vielvölkerstaat war. "Selbstbestimmung der Völker", hier der Araber, hieß die Etikette. Es war meistens ein Etikettenschwindel. In Nahost führten dabei Großbritannien und Frankreich die Regie.
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In einen Syrien genannten Rahmen wurde die sunnitische Mehrheit mit quasi-schiitischen Alawiten, Christen und Kurden zusammengebracht. Nur eine Sache einte sie: Sie wollten nicht in einem staatlichen Verbund zusammenleben. So wenig wie die Christen im nun ebenfalls von Frankreich formierten und gelenkten Libanon mit Sunniten, Drusen und Schiiten.

Was Heinsohn schreibt, ist im Grundsatz absolut korrekt. Viele Konflikte, die wir heute in der Region haben wurden den Kolonialmächten geschaffen. Die Länder und ihre Grenzen wurden von den europäischen Kolonialmächten willkürlich erzeugt. Die "Führer/Statthalter" wurden nach dem Ende der Besatzungsphase nach Sympathie eingesetzt, kontrolliert und ausgetauscht. Der Wille der Bevölkerung war stets nur eine strategische Überlegung dabei.

Die Situation in Syrien ist dabei jedoch unzureichend beschrieben. Zunächst einmal halte ich es für bedenklich, die Alawiten als "Quasi-Schiiten" zu bezeichnen. Das zeugt nicht unbedingt von Feingefühl und die Einordnung hilft auch bei Überlegungen niemandem weiter. Die Alawiten bzw. Nusairier konnten die Herrschaft in Syrien durch einen geschickten Putsch erlangen. Dieser war überhaupt erst möglich, weil die Alawiten lange Zeit unter türkischer und französischer Herrschaft massiv verfolgt wurden und daher als Folge des Auftandes gegen die Türken und zum Selbstschutz gegenüber sunnitischen Milizen/Mob überdurchschnittlich militarisiert waren. Den von Frankreich zunächst versprochenen Staat hatten sie nicht bekommen und so haben sie gezielt den syrischen Sicherheitsapparat unterwandert. Seitdem war es praktisch unmöglich für Sunniten, einen höheren militärischen Rang in Syrien zu erlangen. Das garantierte den sich situativ nahe stehenden Christen und Alawiten eine recht sichere Existenz und der sunnitischen Mehrheit ein recht machtloses Dasein.

Weiten Teilen der arabischen Bevölkerung fehlt das Verständnis für Patriotismus oder andere nationalstaatliche Überzeugungen vollkommen. Das Einheitsgefühl ist über die eigene Familie hinweg kaum vorhanden. Über die Sprache/Ethnie lassen sich die Araber also nachweislich nicht vereinen. Die Bindung an die Tradition ihrer Clans/Großfamilie ist der bestimmende Faktor und eben neuerdings verstärkt der Islam als gemeinsame Massenbewegung. Wir sehen nun Menschenmassen von rund 200.000 Leuten und mehr im Jemen, die auf der Straße gemeinsam das Freitagsgebet abhalten und anschließend den Tod des Diktators fordern und Allah ist Groß rufen. Wir sehen Araber die an bewaffneten Konflikten teilnehmen oder anderweitig teilhaben, "nur" weil Glaubensbrüder betroffen sind. Man spricht insofern derzeit auch von einem "Islamischen Erwachen".

Vor dem "Islamischen Erwachen/ Arabischen Frühling" gab es nur eine nationalstaatliche Regierung die aus einer islamischen Massenbewegung bottom-up heraus enstanden ist und diese wurde genau deshalb so sehr gefürchtet. Das war -ironischerweise- gerade einer der ältesten Nationalstaaten der Welt, der Iran.
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