27.11.2024, 22:58
Folgende Überlegungen würde ich gerne zur Diskussion stellen …
Es herrscht ja derzeit einiges an Ungewissheit über die von Russland gegen Dnipro eingesetzte Rakete, auch bei den Experten selbst, was diese zu leisten vermag und wie sie eingesetzt werden könnte. Erstaunt hat mich dabei, dass auf allen Ebenen (Regierungen, Experten, interessierte Laien) die Behauptung Wladimir Putins zurückgewiesen wird, dieses Waffensystem sei auch nicht-strategisch bzw. konventionell bestückt einsetzbar. Ich frage mich, ob diese Vorannahme haltbar ist.
Zunächst einmal die Fakten, die ich zusammentragen konnte (Quellen im Ukraine-Faden):
Bei der gegen Dnipro eingesetzten Waffe handelte es sich wahrscheinlich um einen Abkömmling der Topol-Raketenfamilie. Experten wie Fabian Hoffmann sind sich uneins, ob sie eine Abwandlung der RS-24 Jars¹ oder RS-26 Rubesch² ist, aber das dürfte aufgrund der engen Verwandtschaft beider Raketen relativ egal sein.
¹) ~10.000 km Reichweite, Nutzlast 800 kg, 3 MIRV, behaupteter CEP von 100 m
²) ~6.000 km Reichweite, Nutzlast etwas über 800 kg, 3-4 MIRV, behaupteter CEP von 90 m
Nach ukrainischen Angaben trug die am 21.11. abgefeuerte Rakete sechs MIRVs mit jeweils sechs Submunitionen. Hoffmann glaubt, es könnten auch sechs Raketen mit jeweils sechs MIRV gewesen sein, aber ich konnte keine Hinweise darauf finden, dass mehr als eine Rakete abgefeuert wurde. Ich denke auch: Wenn es so gewesen wäre, hätten westliche Regierungen und Medien dies bekanntgemacht, um den Angriff als militärisch impotenter, aber politisch aggressiver darzustellen.
Ich konnte 18 MIRV-Einschläge auf dem Juschmasch-Gelände geolokalisieren, sie liegen in einem Rechteck mit etwa 200 m Breite und 300 m Länge, allerdings in drei Gruppen nahe beieinander liegender Treffer. Das Rechteck wird also durch den Abstand zwischen den Gruppen, nicht den Abstand zwischen den Treffern vergrößert. Ich bin nun nicht gerade ein Experte für solche Waffen und obendrein schlecht in Mathe, aber ein Streukreis von merklich unter 100 m kommt mir glaubhaft vor. Setzen wir diesen Wert einfach mal voraus.
Nehmen wir weiterhin an, dass die Rakete ein Gewicht von 800 kg tragen kann und dass die ukrainischen Angaben stimmen, wonach die Kedr mit 6×6=36 Submunitionen bestückt ist.
Ich konnte kaum brauchbare Informationen zur Frage finden, wie viel Masse der Nutzlast für einen konventionellen Gefechtskopf nutzbar wäre. Um irgendeinen brauchbaren Wert zu haben, habe ich mich daher an der RSD-10 orientiert, wo die Sprengköpfe 80% der Masse des Gefechtskopfs (drei MIRV) ausmachen.
In dieser Überlegung würde die Kedr dann 36 Submunitionen à (800:36)×0,8=17,8 kg Kawumm tragen. Das ist in etwa das Äquivalent einer 155 mm-Artilleriegranate. Die allerdings kommt sehr viel langsamer an als die Submunition (900 m/s Mündungsgeschwindigkeit der Granate vs. 3.000 m/s terminale Geschwindigkeit eines MIRV), man muss also bei der Frage der Wirkung noch die kinetische Energie bedenken. Bei den Einschlägen in der Fabrik scheint kein Gramm Sprengstoff umgesetzt zu haben, trotzdem war die Wirkung spektakulär.
Nun die Frage: Hat die Waffe, die ich gerade skizziert habe, wirklich keinen reellen Einsatzzweck?
Vermittelt sie nicht die Fähigkeit, das zusammengefasste Feuer eines ganzen Artilleriebataillons tausende Kilometer entfernt zum Einsatz zu bringen?
Das Hauptargument gegen solche Überlegungen, das ich finden konnte, lautet: Die Wirkung steht in keinem Verhältnis zu den Kosten. Das ist mir aber zu kurz gedacht. Der Kreml denkt eindeutig nicht in ökonomischen Kategorien, oder er würde eine völlig andere Außenpolitik betreiben. Außerdem: Die psychologische Wirkung von Dnipro war bereits immens, und genau dafür scheint mir diese Waffe auch gemacht.
Stellen wir uns das Szenar vor, dass ich im Ukraine-Faden skizziert habe, orientiert an Putins Drohungen vom 22.11.24 und den iranischen Angriffen auf Israel:
Der Kreml ruft in Berlin an, teilt mit, dass er jetzt die Schnauze voll hat von den "Provokationen" und eine einzelne Kedr auf den Jade-Weser-Port abschießen wird. Hier ist die Warnung, wie von Putin versprochen, wir haben eine Stunde Zeit, das Gelände zu evakuieren. Sofern wir uns still verhalten, passiert nichts weiter. Nach einer Stunde kommt das Ding runter, verursacht jede Menge Sachschaden und ein paar Verletzte.
Für die deutsche Wirtschaft wäre das ein verheerender Schlag ins Kontor. Und, wie Iran bewiesen hat, könnte Russland einen solchen Angriff vielleicht sogar durchführen, ohne ernsthafte Vergeltung (oder gar einen Atomkrieg) befürchten zu müssen.
Immer noch eine schlechte Investition?
Mich würden Eure Meinungen interessieren.
Es herrscht ja derzeit einiges an Ungewissheit über die von Russland gegen Dnipro eingesetzte Rakete, auch bei den Experten selbst, was diese zu leisten vermag und wie sie eingesetzt werden könnte. Erstaunt hat mich dabei, dass auf allen Ebenen (Regierungen, Experten, interessierte Laien) die Behauptung Wladimir Putins zurückgewiesen wird, dieses Waffensystem sei auch nicht-strategisch bzw. konventionell bestückt einsetzbar. Ich frage mich, ob diese Vorannahme haltbar ist.
Zunächst einmal die Fakten, die ich zusammentragen konnte (Quellen im Ukraine-Faden):
Bei der gegen Dnipro eingesetzten Waffe handelte es sich wahrscheinlich um einen Abkömmling der Topol-Raketenfamilie. Experten wie Fabian Hoffmann sind sich uneins, ob sie eine Abwandlung der RS-24 Jars¹ oder RS-26 Rubesch² ist, aber das dürfte aufgrund der engen Verwandtschaft beider Raketen relativ egal sein.
¹) ~10.000 km Reichweite, Nutzlast 800 kg, 3 MIRV, behaupteter CEP von 100 m
²) ~6.000 km Reichweite, Nutzlast etwas über 800 kg, 3-4 MIRV, behaupteter CEP von 90 m
Nach ukrainischen Angaben trug die am 21.11. abgefeuerte Rakete sechs MIRVs mit jeweils sechs Submunitionen. Hoffmann glaubt, es könnten auch sechs Raketen mit jeweils sechs MIRV gewesen sein, aber ich konnte keine Hinweise darauf finden, dass mehr als eine Rakete abgefeuert wurde. Ich denke auch: Wenn es so gewesen wäre, hätten westliche Regierungen und Medien dies bekanntgemacht, um den Angriff als militärisch impotenter, aber politisch aggressiver darzustellen.
Ich konnte 18 MIRV-Einschläge auf dem Juschmasch-Gelände geolokalisieren, sie liegen in einem Rechteck mit etwa 200 m Breite und 300 m Länge, allerdings in drei Gruppen nahe beieinander liegender Treffer. Das Rechteck wird also durch den Abstand zwischen den Gruppen, nicht den Abstand zwischen den Treffern vergrößert. Ich bin nun nicht gerade ein Experte für solche Waffen und obendrein schlecht in Mathe, aber ein Streukreis von merklich unter 100 m kommt mir glaubhaft vor. Setzen wir diesen Wert einfach mal voraus.
Nehmen wir weiterhin an, dass die Rakete ein Gewicht von 800 kg tragen kann und dass die ukrainischen Angaben stimmen, wonach die Kedr mit 6×6=36 Submunitionen bestückt ist.
Ich konnte kaum brauchbare Informationen zur Frage finden, wie viel Masse der Nutzlast für einen konventionellen Gefechtskopf nutzbar wäre. Um irgendeinen brauchbaren Wert zu haben, habe ich mich daher an der RSD-10 orientiert, wo die Sprengköpfe 80% der Masse des Gefechtskopfs (drei MIRV) ausmachen.
In dieser Überlegung würde die Kedr dann 36 Submunitionen à (800:36)×0,8=17,8 kg Kawumm tragen. Das ist in etwa das Äquivalent einer 155 mm-Artilleriegranate. Die allerdings kommt sehr viel langsamer an als die Submunition (900 m/s Mündungsgeschwindigkeit der Granate vs. 3.000 m/s terminale Geschwindigkeit eines MIRV), man muss also bei der Frage der Wirkung noch die kinetische Energie bedenken. Bei den Einschlägen in der Fabrik scheint kein Gramm Sprengstoff umgesetzt zu haben, trotzdem war die Wirkung spektakulär.
Nun die Frage: Hat die Waffe, die ich gerade skizziert habe, wirklich keinen reellen Einsatzzweck?
Vermittelt sie nicht die Fähigkeit, das zusammengefasste Feuer eines ganzen Artilleriebataillons tausende Kilometer entfernt zum Einsatz zu bringen?
Das Hauptargument gegen solche Überlegungen, das ich finden konnte, lautet: Die Wirkung steht in keinem Verhältnis zu den Kosten. Das ist mir aber zu kurz gedacht. Der Kreml denkt eindeutig nicht in ökonomischen Kategorien, oder er würde eine völlig andere Außenpolitik betreiben. Außerdem: Die psychologische Wirkung von Dnipro war bereits immens, und genau dafür scheint mir diese Waffe auch gemacht.
Stellen wir uns das Szenar vor, dass ich im Ukraine-Faden skizziert habe, orientiert an Putins Drohungen vom 22.11.24 und den iranischen Angriffen auf Israel:
Der Kreml ruft in Berlin an, teilt mit, dass er jetzt die Schnauze voll hat von den "Provokationen" und eine einzelne Kedr auf den Jade-Weser-Port abschießen wird. Hier ist die Warnung, wie von Putin versprochen, wir haben eine Stunde Zeit, das Gelände zu evakuieren. Sofern wir uns still verhalten, passiert nichts weiter. Nach einer Stunde kommt das Ding runter, verursacht jede Menge Sachschaden und ein paar Verletzte.
Für die deutsche Wirtschaft wäre das ein verheerender Schlag ins Kontor. Und, wie Iran bewiesen hat, könnte Russland einen solchen Angriff vielleicht sogar durchführen, ohne ernsthafte Vergeltung (oder gar einen Atomkrieg) befürchten zu müssen.
Immer noch eine schlechte Investition?
Mich würden Eure Meinungen interessieren.