(Luft) Nachfolge Kampfhubschrauber Tiger
(26.03.2023, 18:42)Broensen schrieb: Sorry, aber wie soll man ein Nachfolgemodell für den Tiger in der BW sinnvoll diskutieren, ohne dass die davon zu übernehmenden Aufgaben wirklich klar sind? Und für mich hat es den Eindruck, dass ich da nicht der Einzige hier bin, bei dem das nicht der Fall ist. Auch wenn das vielleicht nicht jeder selbstkritisch erkennen mag.

Ich habe nicht umsonst bereits recht früh hier angemerkt, dass wir vielleicht erst über die Aufgaben statt über die Lösungen diskutieren sollten. Mir geht es nur darum, eine grundsätzliche Diskussion über die Fähigkeiten von bewaffneten Hubschraubern zu vermeiden und den Kontext auf das zu richten, was die Bundeswehr fordert, benötigt und was Sinn ergeben könnte.

Die ganze Diskussion über den Einsatz von Hubschraubern im Ukrainekrieg ergab sich ja nur aus der Fragestellung, ob derlei Einsätze repräsentativ sind und ob man aus diesen Lehren für die Bundeswehr ziehen kann. Denn allzu leicht werden aus Beobachtungen (hohe Verlustraten an Kampfhubschraubern) und Entwicklungen (Verwendung anderer Taktiken) die falschen Schlüsse gezogen (klassische Kampfhubschrauber können effektiv gar nicht mehr in einem symmetrischen Konflikt agieren). Deshalb lohnt sich eine generelle Betrachtung, wie es zu den Beobachtungen kommt, was für Entwicklungen es gab und welche Konsequenzen das bedeutet. Kurz gesagt hat im Ukrainekrieg eine Einsatzart von Hubschraubern nicht funktioniert, die in der Bundeswehr nie praktiziert werden sollte und schon seit Jahrzehnten als wenig zielführend abgelehnt wurde.

Zitat:Natürlich geht das Spektrum da weit auseinander und hat "nach unten" einen fließenden Übergang zum CAS, aber im Endeffekt geht es doch immer darum, eine Abstandswaffe schnell und flexibel über dem Schlachtfeld verlegen zu können. Also dient der Hubschrauber primär als Startplattform für eine NLOS Waffe (...)

Ungelenkte Raketen sind genauso wie Kurzstrecken-NLOS-Systeme für mich keine Abstandswaffen, und mit fließendem Übergang meine ich nicht nur das Verschwimmen von Grenzen der Zuordnung, sondern auch die Schwierigkeiten des Auseinanderdividierens der Fähigkeiten. In vielen westlichen Streitkräften (nicht der USA, die Gründe liegen im Vietnamkrieg), hier relevant aber explizit in der Bundeswehr, hat sich das Konzept Kampfhubschrauber aus einem Spezialisten über einem System von Spezialisten zu einem Generalisten entwickelt (wobei der mittlere Schritt so nie praktiziert sondern nur geplant wurde).

Insofern nein, der Hubschrauber dient in den genannten Angriffsszenarien nicht primär als Startplattform für eine NLOS-Waffe, sondern gleichermaßen als Aufklärer, Koordinator und Exekutor des Angriffs auf verschiedene Zieltypen unter Einbeziehung von unmittelbaren (selbst erhobenen) und mittelbaren (fremderhobenen) Informationen. Es gibt auch keinen elementaren Unterschied in den Anforderungen zur Panzerjagd, zum "artilleristischen Einsatz" oder zum CAS, sondern nur in den Vorgehensweisen, vor allem in dem Grad der Autonomie und der damit einhergehenden Gefährdungssituation sowie letztlich dem Erfolgspotenzial abhängig von der Einsatzsituation. Es ergibt beispielsweise gar keinen Sinn, einen modernen Kampfhubschrauber tatsächlich als Schlachtflieger einzusetzen, auch wenn das anderswo so praktiziert wird. Ebenso unterscheidet sich der Angriff auf bewegliche Ziele nicht von jenem auf statische Ziele.

In einem symmetrischen Konflikt erfolgen die Einsätze entweder dynamisch im extremen Tiefflug oder statisch aus der Deckung heraus (mit anschließendem Positionwechsel), beide Verfahren erfordern eine hohe Beweglichkeit, weil sie kontinuierlich oder periodisch im Grenzbereich des Flugleistungsbereichs erfolgen, und eine ausgeprägte unmittelbare Situationswahrnehmung, also die Fähigkeit, sich ein eigenes Lagebild zur unmittelbaren Gefährdungslage zu erstellen.
Umso besser letzteres funktioniert, umso geringer ist der Gefährdungsgrad und umso höher sind die Möglichkeiten zum autonomen Einsatz. Das klassische Beispiel der Bo 105 beispielsweise besitzt quasi keine technischen Fähigkeiten zur Situationswahrnehmung und war in der Einsatzführung immer von externen Informationen abhängig, ein Szenario, dass schon in den achtziger Jahren nicht mehr zeitgemäß war und aufgrund der deutlich verbesserten Sensorik in den letzten dreißig Jahren heute absolut nicht mehr sinnvoll erscheint. Demgegenüber steht ein moderner Kampfhubschrauber, womöglich mit Mastvisier für die verdeckte Informationsgewinnung aus der Deckung heraus, mit unterschiedlichen aktiven und passiven Sensoren für Aufklärung und Waffeneinsatz und einer Vernetzung untereinander zu einem Systemverbund. Ein solcher wäre auch in einem symmetrischen Szenario völlig ohne externe Informationen einsatzfähig.

Deine Interpretationen meiner Aussagen zu den verschiedenen von dir aufgezählten Varianten müssen immer in diesem Kontext gesehen werden. Die Aufklärungsfähigkeiten eines modernen Kampfhubschraubers müssen ausgeprägt sein, um einen maximal unabhängigen Einsatz zu ermöglichen. Denn wenn dieser nicht notwendig ist, gibt es mit modernen Abstandswaffen (egal ob von Flugzeugen oder Fahrzeugen aus eingesetzt) effektivere Wirkmittel. Selbst CAS im symmetrischen Konflikt unterliegt ja dieser Grundvoraussetzung, denn um in die Notwendigkeit zu geraten müssen die vorhandenen Aufklärungsmöglichkeiten eingeschränkt sein - ansonsten gäbe es auch da frühzeitiger effektivere Mittel.

Zitat:Hier interpretiere ich das derart, dass es zum einen den begleitenden Schutz andere Helikopter oder auch eines Konvois am Boden gibt, der das Umfeld überwachen und etwaige Bedrohungen ausschalten soll. Somit ist diese Aufgabe auch wieder mit einer starken Aufklärungskomponente und Präzisionswirkung verbunden.
Zum Anderen gibt es dann aber auch noch die -vereinfacht dargestellt- Luftlandungs-begleitende Feuerunterstützung, die das vorgenannte mit Elementen des CAS verbindet.

Die erste Form der begleitenden Aufgaben gibt es in einem symmetrischen Konflikt faktisch nicht, das beschränkt sich rein auf IKM und bietet prinzipiell andere Grundvoraussetzungen, beispielsweise was die Einsatzhöhe angeht. Das hat auch Auswirkungen auf die technische Auslegung, auf mittleren Höhen ergibt eine Sensorik auf dem Dach oder dem Rotorkopf wenig Sinn, hier ist die Kinn- oder Rumpfsensorik überlegen. Gleichzeitig überwiegen ökonomische Aspekte des Flugleistungsbereichs gegenüber der Beweglichkeit, genau deshalb waren umgebaute Zivilhubschrauber in solchen Szenarien bisher auch relativ erfolgreich und werden es voraussichtlich auch in Zukunft sein. Für die zweite Variante gilt in asymmetrischen Konflikten das gleiche, in symmetrischen hingegen folgt auch hier das Einsatzverfahren dem zuvor geschriebene, inklusive der Relevanz eigener Aufklärungsfähigkeiten. Letztlich ist eine solche Aufgabe gar kein typischer Geleitschutz mehr.
Was andere Formen angeht sei noch explizit der Kampf gegen feindliche Hubschrauber erwähnt, der in symmetrischen Szenarien durchaus eine Relevanz besitzt. Denn man agiert ja insbesondere bei Luftlandeoperationen nicht unter Deckung durch die eigene Flugabwehr.

Zitat:Diese Funktion "Begleithubschrauber" erschließt sich mir noch nicht ganz. Was ist darunter zu verstehen und welche Anforderungen bringt das für einen Tiger-Nachfolger mit sich? Und inwieweit ist das durch einen LUH oder dessen Ableitung leistbar?

Dieser Begleithubschrauber war ein früheres Konzept, weil den tatsächlichen Kampfhubschraubern (damals Panzerabwehrhubschraubern) das technische Situationsbewusstsein fehlte und es daher an Fähigkeiten zur Eigenkoordination mangelte. Vereinfacht gesagt ging es dabei um einen leichten unbewaffneten Transporthubschrauber, in dem Funker, Kommandant und Pilot hockten und als Schnittstelle zwischen den Leitstellen und den Hubschraubern fungierten. Wie schon erwähnt hat sich das System mit den integrierten Lösungen überlebt, heute übernimmt ein Kampfhubschrauber die Einsatzkoordination mit Bordmitteln.

Zitat:Wie ist das denn aktuell zu bewerten? Sollte das für einen Tiger-Nachfolger eine Rolle spielen, wenn man sich mal von der bloßen Erfüllung aktuell definierter Anforderungen/Doktrin löst? Ein Gefecht in Osteuropa ggf. inkl. Befreiung zuvor besetzter Gebiete dürfte doch diesbezüglich andere Anforderungen mit sich bringen als die Verteidigung der norddeutschen Tiefebene.

Schon der Kosovokrieg hat gezeigt, dass es hier tatsächlich eine eklatante Fähigkeitslücke gibt, wenn man in Gebieten ohne Unterstützung von Bodentruppen gegen feindliche Kräfte am Boden aus der Luft agieren soll und sich durchaus symmetrisch zu bezeichnenden Bedrohungen gegenüber sieht. Das bisherige Problem der deutlich ansteigenden Gefährdungslage existiert allerdings fort und muss irgendwie kompensiert werden, während gleichzeitig die Frage gestellt werden muss, in wie weit man überhaupt in zukünftigen Szenarien von welchen Truppenkonzentrationen ausgeht und was die genauen Ziele sein sollen. Denn wir sprechen ja aktuell nicht mehr über Quantitäten wie zu Zeiten des Kalten Krieges, das schafft Räume, die das Risiko senken und zu Einsatzmöglichkeiten führen, wenn man entsprechend ausgelegte Muster hat. Die USA richten FARA durchaus auch auf solche Einsätze aus, wobei die Eingangs erwähnten Erfahrungen der neunziger Jahre hier noch sehr stark Nachwirken.
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Nachfolge Kampfhubschrauber Tiger - von Helios - 18.03.2023, 10:45
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