Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg
(28.10.2022, 08:16)Schneemann schrieb: @Schneemann
1.) Die italienische Armee war faktisch innerlich stark zerrüttet, einerseits von den schweren Verlusten der vorausgegangenen Schlachten, andererseits auch hinsichtlich des Vertrauens in die eigene Führung. Faktisch gab es dieses Vertrauen kaum mehr, da der von Standesdünkeln geprägte Führungsstil Luigi Cadornas nicht nur von technisch-taktischem Unverständnis - da war er allerdings zu der Zeit nicht alleine - strotzte, sondern auch von unsinnigen Anordnungen (z. B. Verbot von Fronttheatern zur Aufmunterung der Truppe, da dies "die Moral untergraben könnte" - es war genau das Gegenteil der Fall), Grausamkeit (hohe Quote an Hinrichtungen von vermeintlichen "Feiglingen") und Überheblichkeit gezeichnet war (er lehnte z. B. direkte Ordensvergaben an normale Soldaten ab).

2.) Hinzu kam, dass auf diese innerlich desolate Armee (die reine Versorgungslage war bei den Italienern sogar gar nicht mal schlecht) nicht nur eine erfahrene und taktisch gut geführte deutsche Armee traf, sondern dass diese ihren Angriff mit einem starken Gasangriff einleitete (sog. "Buntschießen"), der die Italiener völlig überforderte und ganze Verteidigungssysteme ausschaltete. Der (auch moralische) Kollaps war hier nur eine Frage der Zeit - und die Auftragstaktik hat letztlich somit nur dem ganzen die Krone aufgesetzt, sie dürfte aber nicht entscheidend gewesen sein.
[…]
Jetzt überlege ich, wie ich die Kurve zur Ukraine kriege?

Jetzt hat der Quintus Fabius gerade erst vieles in den anderen Thread verschoben, aber deine Reaktion steht noch hier. Tongue Insofern sollten diese beiden Post (deiner und meine Antwort darauf) dann wohl folgerichtig auch noch dorthin verlegt werden. Big Grin

Mein Post liest sich hoffentlich nicht so, dass ich gemeint hätte, dass die Auftragstaktik oder gar speziell das Handeln des jungen Rommel hier den Ausschlag bei den Geschehnissen entlang der Soça Richtung Cividale gegeben haben. Darum ging es mir wirklich nicht. Die von Dir angeführten Punkte 1. und teilweise 2. sehe ich selbstredend auch absolut genauso.
Hinzu kommen noch mindestens drei weitere Punkte, deren herausragende Bedeutung ich erst diesen Sommer in der Gänze verinnerlicht habe, als ich eine kleine Gruppe von Interessierten durch den Frontabschnitte bei Tolmin, auf der Angriffsroute des Württembergischen Gebirgsbataillons, speziell der Grruppe Rommel, geführt habe. Es ist das eine, bestimmte Geschehnisse in der Literatur bzw. den Quellen zu studieren, aber vor Ort die Höhenmeter dieser Soldaten nachempfunden und zumindest teilweise abgeschritten zu haben und dann auch noch einmal das Gelände mit eigenen Augen zu erfahren und verschiedene Aspekte nachzuvollziehen zu versuchen, ist dann doch immer wieder eine sprichwörtlich Augen öffnende Angelegenheit.

1. Grundsätzlich hatte nicht nur Cadorna angenommen, dass es unmöglich wäre in dem Bereich zwischen (grob) Gorizia und Boveç anzugreifen. Die eigene (italienische) Stellung und Kampfkraft wurde schlicht überschätzt und für den Gegenpart entsprechend unterschätzt - hier eine gewisse Parallele zur Invasion der russischen Armee (wenngleich genau andersherum, hier der Angreifer diesem Trugschluss unterlag). Das eigene Selbstbildnis und die Wahrnehmung des Gegners standen ihnen hier schlicht im Wege (nicht nur Oberst Reisner spielt immer mal wieder auf das Hybrisproblem der russischen Armee an).

Viel bedeutender dürften allerdings noch die beiden folgenden Punkte gewesen sein:

2. Das Gelände der Isonzofront, mit der hinzu kommenden typischen Vegetation vor Ort, ist mal so beschaffen, das es den Verteidiger und mal wiederum den Angreifer bevorteilt. Das Ganze nun auch noch in Abhängigkeit von den aktuellen Witterungsbedingungen.
Das Wetter war an den ersten und entscheidenden Tagen (auch schon vor dem Beginn der Schlacht) absolut vorteilhaft für die Angreifer. Zuerst verbarg es ihre Bewegungen beim Aufmarsch und erst als die „Stoßtruppen“ sozusagen buchstäblich bereits in die Stellungen einsickerten, wurden sie oft erst wahrgenommen (z.B. beim Aufstieg über den Hlevnik und der Eroberung von Na Gradu). Gerade in den Bergen, wo an manchen Stellen wenige Kämpfer reichen, war das schlicht katastrophal in den Folgen für die Italiener und so konnte die Soldaten des Alpenkorps, hier speziell die Gruppe Rommel, vom Hlevnik kommend den Kolovrat einen Gegner in extremer Überzahl regelrecht aufrollen, ohne dass dies den Italienern überhaupt klar wurde. Die verschiedene Quellen bieten hier reichlich Beispiele. Hier kann man aber auch sehr gut den Nutzen der in Auftragstaktik agierenden Truppe erkennen.

3. Wurden bis buchstäblich unmittelbar in den Angriff der deutschen und österr.-ungar. Truppen hinein noch Truppenverlegungen an selbst vorderster Front vollzogen. Mit anderen Worten: die Italiener tapsten an vielen Stellen vollkommen im „Dunkeln“, während die Angreifer sehr genau wussten, wo sie jeweils waren. Die Italiener kannten oft die eigenen, von anderen Einheiten zuvor angelegten und ausgebauten, und dann wieder geräumten Stellungen nicht bzw. kamen nicht mehr pünktlich dort hinein, z.B. bei Livek (nach dem Abstieg vom Kolovrat Richtung Monte Matajur) beschreibt Rommel genau dies.
Das was da im Vorfeld der Schlacht in der Führung des Commando Supremo (Cadorna), speziell dann wiederum der 2. italienischen Armee (Capello) und der untergeordneten Korps- / Divisionskommandeure alles schief gelaufen war, lässt einem regelrecht die Haare zu Berge stehen. Erst im letzten Moment schien den Verantwortlichen (allen voran Cadorna) klar geworden zu sein, was für ein Ausmaß der bevorstehende Angriff dort anzunehmen drohte. Es wurden genau in den Aufmarsch hinein Einheiten genau in dieser Phase noch umgruppiert und anderen Korps bzw. Abschnitten zugeteilt und so gab es in der Folge zu Beginn der Schlacht sogar Fälle, wo italienische Kommandeure auf einmal vollkommen ohne Truppen dastanden, da diese längst anderswo zugeteilt worden waren.

Kurzum, ein ziemliches Kommunikationschaos herrschte - auch hier wiederum tun sich durchaus Parallelen zu dem auf, was man in den ersten Monaten dieses Jahres von russischer Seite mitbekommen hat. Natürlich ist dies immer alles mit Vorsicht zu genießen und muss auch wieder entsprechend relativiert werden (es war eine ganz andere Zeit, ganz andere Technologien standen zur Verfügung, unterschiedliche geographische Rahmenbedingungen - allein die Topographie war eine völlig andere - und es war Ende Oktober usw. usf.).
Was aber am Ende bleibt ist, dass einige fähige junge Offiziere (z.B. Schörner und Rommel als die wohl bekanntesten in diesem Falle, aber eben nicht die einzigen) in der Lage waren ganz entscheidend im Sinne der Auftragstaktik zu handeln und die sich ändernden Gegebenheiten sofort für entscheidende Durchbrüche auszunutzen - nicht zuletzt weil ihre unmittelbaren Vorgesetzten (das Paradebeispiel schlechthin dürfte hier wohl Major Sprösser sein) erkannt hatten, dass diese jungen Offiziere eine „lange Leine“ zu nutzen wussten, sprich das Vertrauen und das Wissen um ihre Fähigkeiten war da.
Und um jetzt auch tatsächlich wieder „die Kurve“ zur aktuellen Situation „zu kriegen“ Big Grin - es war schon beeindruckend mitzuverfolgen, wie die hochmobilen Ukrainer bei ihren Erfolgen im September in der Gegenoffensive um Charkiv (Richtung Lyman) genau diese Doktrin berücksichtigten und extrem flexibel ihre Stoßrichtungen änderten und damit analog der Gruppe Rommel ein heftiges Chaos im Rücken des Gegners anrichteten (auch die betroffenen italienischen Einheiten wähnten sich ebenfalls längst umzingelt). Auch wenn dieser Vergleich am Ende natürlich wieder - wie so oft - hinkt, da es immer noch andere zu berücksichtigende Aspekte gibt. Das ist mir vollkommen bewusst - ich weiß, dass ich eigentlich nichts weiß. Wink

Achso, die ursprünglich vor allem von italienischer Seite im Nachgang betonte angeblich extrem entscheidende Wirkung der eingesetzten Kampfgase gilt mittlerweile eigentlich als ganz gut widerlegt. Hierzu verweise ich u.a. auf die unbedingt beachtenswerte Arbeit von Torkar (wenn man so will ein slowenisches Gegenstück zum Österreicher Reisner) und Kuhar („Die letzte Schlacht am Isonzo 1917“) aus dem Jahr 2020. Ja, es gab bei Boveç (Flitscher Becken) ein ganzes betroffenes Bataillon, aber just im Norden der Isonzofront kam der Angriff lange nicht so gut voran und z.B. die Edelweißdivision der Österreicher hatte mit wirklichem Hochgebirge und dabei auch noch heftigem Schnellfall zu kämpfen. Gerade im Flitscher Becken, wo der Einsatz des Gases massiv erfolgte, entschied sich die Schlacht aber eher nicht (es wurden natürlich wesentliche Kräfte und Aufmerksamkeit gebunden) und die Österreicher taten sich gegen klug und geschickt verteidigende Italiener in den Höhen bei vorteilhaftem Gelände (den hohen Neuschnee nicht zu vergessen) deutlich schwerer.

Die Italiener waren im übrigen selbst in der Anwendung von Gas am Isonzo ordentlich erprobt. Der Einsatz von Gas auf beiden Seiten der Isonzofront war also nichts neues. Hinterher bemüht man dann gerne mal das böse Feindbild, um über die eigenen Schwächen und Versäumnisse hinwegzutäuschen. Dort wo die wirklich entscheidenden Vorstöße (von Tolmin aus in Richtung Matajur und Caporetto, dann weiter zum Montemaggiore) erfolgten, drangen die Stoßtruppen praktisch unmittelbar nach der letzten Salve bereits in die Gräben der ersten Verteidigungslinie ein - und dabei handelte es sich eben nicht um Gasgranaten. Ja, es gab Gaseinsatz, aber dieser war definitiv nicht so heftig und entscheidend wie u.a. von Cadorna nach dem Krieg angeführt. Der Mann hatte seinen Ruf zu verteidigen.

Andererseits sollte und kann diese historische Schlacht auch noch als Warnung dienen. Diese Schlacht gilt nicht umsonst als herausragend vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs. Und um ein Haar wären die Italiener als kriegsführende Macht ausgeschieden - und wer weiß schon, wo dies noch hätte hinführen können, aber da ist alles hätte, wenn und aber - am Ende standen sie wiedererstarkt vor den nunmehr völlig überdehnten, demoralisierten und unterlegenen Österreichern und dieses Mal kollabierte die Front komplett. Es gab kein Halten mehr. Wie Oberst Reisner dies so schön formuliert hat, „Geschichte verläuft nicht linear“. Wir dürfen gespannt sein, welch unerwartete Wendungen das Geschehen noch nehmen wird.
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