Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg
Camarilla:

Deine Fragestellung umfasst eine sehr weite und komplexe Thematik. Das ist in einem Forenbeitrag kaum richtig beantwortbar, ich will es trotzdem versuchen.

Die russische Armee vertritt in etlichen Punkte eine vollständig andere Ansicht vom Krieg, weil sie bis heute sehr stark von den Ideen Jominis geprägt ist (dieser beendete sein Leben und sein Wirken in Russland als eine Art höchstrangiger Militärberater und persönlicher Lehrer des jungen Zaren in militärischen Angelegenheiten). Deshalb nahm die russische Armee einen vom Westen getrennten Sonderweg. Gröbst vereinfacht gesagt wird in den russischen Streitkräften deshalb bis heute die Auffassung vertreten, dass die westliche Auftragstaktik in einem ernsthaften Krieg der länger andauert nicht aufrecht erhalten werden kann, dass der Abnutzungskrieg in Wahrheit vorteilhaft ist und umso vorteilhafter wird, je länger ein Krieg andauert, dass man alle Strukturen, alle Ausbildung und die Doktrin sowie auch die Ausrüstung daraufhin ausrichten muss, auch unter den widrigsten Umständen immer weiter zu funktionieren, und dass die höhere Quantität sich langfristig gesehen durchsetzen wird (ein geistiges Erbe der napeleonischen Ära), was aber zur Folge hat, dass eine solchermaßen auf Quantität ausgerichtete Armee eben nicht querschnittlich eine hohe Qualität haben kann und diese auch nicht aufrecht erhalten werden kann, womit sich der entsprechende Kreis schließt.

Diese Auffassungen sind keineswegs falsch bzw. per se abzulehnen. Auch die US Streitkräfte waren übrigens früher (vom amerikanischen Bürgerkrieg an) stark von Jomini geprägt und seine Lehren verhalfen den US Streitkräften sowohl im Ersten Weltkrieg, als auch dann im Zweiten Weltkrieg zu erheblicher Stärke.

Entsprechend wurde alles darauf ausgerichtet, diesen genannten Faktoren zu genügen. Dazu trat noch die sehr hohe Gewichtung der operativen Ebene, die sehr hohe Gewichtung der Geschwindigkeit als Selbstwert und die Auffassung, dass die militärische Strategie unabhängig von der technologischen Weiterentwicklung und den evolutionären Veränderungen der Kriegsführung immer gleich bleibt und beschließend als eine Schlußfolgerung aus all dem eine Überhöhung der Offensive anstelle der Defensive.

Nun zur Gegenwart: der primäre Grund für die aktuellen Probleme der russischen Streitkräfte ist vor allem anderen, dass sie ihrer eigenen Doktrin und ihrer eigenen ganz grundsätzlichen Auffassung vom Krieg eben nicht mehr genügen. Die zwingende Schlussfolgerung aus den russischen Auffassungen ist eine Kultur der allgemeinen Wehrpflicht, eine von Wehrpflichtigen gestellte Massenarmee und schlussendlich ein ausgefeiltes Vorgehen auf der operativen Ebene, unter Vernachlässigung der taktischen Ebene (weil aus russischer Sicht weniger relevant) um dadurch Wirkung auf der strategischen Ebene zu erzielen, und all dieses war im vorliegenden Krieg eben nicht der Fall.

Die Russen kämpften eben in den ersten Wochen (Monaten) nicht gemäß ihren eigentlichen grundsätzlichen Auffassungen. Hätten sie es getan, hätte die Ukraine verlieren können.

Die Gründe warum die Russen eben nicht gemäß ihren Auffassungend und ihrer grundsätzlichen Doktrin gemäß kämpften sind vielfältig, einer der wesentlichsten Faktoren war aber meiner Meinung nach, dass die russischen Streitkräfte heute in der RF einen sehr niedrigen Rang haben und von der aktuellen russischen Führung gezielt klein gehalten werden und fortwährend herunter gemacht werden.

Das geht so weit, dass Bekannte von mir der Verschwörungstheorie anhängen, dass der Ukrainekrieg primär der Zerstörung der russischen Streitkräfte durch die russische Führung dient, weil diese ansonsten in einem Militärputsch in Kürze eben diese Führung gestürzt hätten. Russland ist auch in der praktischen Realität heute kein Militärstaat, sondern ein Polizeistaat, in dem die inneren Sicherheitskräfte ein Primat über dem Militär inne haben, welches sie mit allen Mitteln verteidigen.

Das Militär wird also mit jedem nur denkbaren Mittel niederhalten und geschwächt, aus der berechtigten Sorge, dass es ansonsten die Macht an sich reißen könnte. Deshalb hat man viele der Strukturen und Grundlagen welche die russische Armee für ihre Kriegsführung benötigte absichtlich zerstört und ernsthafte Reformen welche die Armee durchführen wollte nicht nur behindert, sondern sogar aktiv wieder revidiert. Ein Musterbeispiel (eines von sehr vielen) ist das scheinbare Fehlen von Unteroffizieren in der russischen Armee. Was weniger bekannt ist, es gab in der russischen Armee seit jeher eine Art Äquivalent, eine eigene Gruppe von niedrigrangigen Offizieren, welche im Endeffekt als Fähnrichslaufbahn zu bezeichnen wären. Diese übernahmen die Rollen welche in westlichen Streitkräften die Unteroffiziere inne haben. Diese niedrigrangigen Offiziere wurden unter Putin massivst abgebaut, unter der Zielsetzung, an deren Stelle das Unteroffizierskorps auszubauen, was aber dann absichtlich und intentional nicht geschehen ist. Entsprechend verfehlt ist daher die Annahme, dass es in den russischen Streitkräften nie ein Äquivalent zum westlichen Unteroffizierskorps gegeben habe, dies stellten früher eben die "Fähnrichte".

Eine wesentliche Zäsur scheint vor allem anderen der Versuch von Militärreformen seit 2008 gewesen sein. Statt die Armee voran zu bringen, hat man sie seitdem intentional massiv geschädigt und geschwächt. Ganz viele der Reformen wurden nicht nur zurück abgewickelt, sondern sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Das reicht vor allem in die Ausbildung der Offiziere hinein, in welcher man das alte zerschlagen hat, nichts sinnvolles neues aber aufbaute und schließlich sowjetische Systeme wieder belebte, ohne dass dafür noch die gleichen Grundlagen vorhanden wären (Massenarmee von Wehrpflichtigen mit Unmengen von Material).

So stand die russische Armee so dar, dass sie als eine Massenarmee ausgelegt war, ohne Masse zu haben, als eine Wehrpflichtigenarmee ohne einsetzbare Wehrpflichtige und ohne ernsthafte Reserve, als eine Armee welche den Gegner mit der Masse ihres Materials überwindet, ohne ausreichend Material dafür zu haben, als eine Armee mit einem Offizierskorps dass auf den Abnutzungskrieg hin ausgerichtet war und ist, ohne einen solchen führen zu dürfen und um dem ganzen die Krone aufzusetzen als eine Armee mit einem Primat auf der operativen Ebene, der man aber aus politischen (!) Gründen, von der Ebene der zivilen Politik aus verboten hat auf dieser Ebene frei und selbstständig operieren zu dürfen.

Es gab bis vor kurzem nicht einmal einen Oberbefehl über den Kriegsschauplatz, sondern verschiedene militärische Befehlshaber wurden völlig voneinander getrennt eingesetzt und in deren Entscheidungen ständig seitens der politischen Führung hinein gepfuscht.

Unter diesen Voraussetzungen hätte auch keine westliche Armee siegen können, Auftragstaktik hin oder her.

Beschließend ist es also nicht so, dass die russische Armee die Grundlagen der modernen Kriegsführung missachtet, sie hat zum einen lediglich ganz andere Vorstellungen davon was diese Grundlagen sind, und sie kann diese zum anderen nicht so umsetzen wie es für diese genuien Auffassungen erforderlich wäre. Stattdessen versuchte die politische zivile Führung vor allem Anfangs westliche Feldzüge zu imitieren, und damit die Truppen völlig entgegen ihren genuien Auffassungen einzusetzen. Alles was da die ersten Wochen geschehen ist wiederspricht vollkommen der eigentlich geltenden russischen Doktrin.

Keine Tapferkeit und kein persönlicher Mut und kein persönliches Eingreifen von Offizieren kann unter diesen Umstände ein anderes Ergebnis produzieren als das was wir jetzt da gesehen haben.

Die russische Armee ist auf eine andere Kampfweise spezialisiert. Das ist keinesfalls falsch. Es entspricht sogar viel eher den Grundlagen mit denen man dort nunmal arbeiten muss. Sie durfte aber weder anfangs auf die ihr eigene Kampfweise agieren, noch durfte sie ihre eigene Doktrin umsetzen, noch hatte sie die materiellen und quantaitiven Grundlagen um ihren Auffassungen hier genügen zu können.

Von der ganzen Idee her ist die russische Armee also auf eine Vorgehensweise ausgerichtet, für welche sie nicht die Mittel hat (aufgrund ziviler politischer Eingriffe) und welche sie im vorliegenden Krieg nicht praktizieren durfte (aufgrund ziviler politischer Eingriffe).

Um auf deine letzte Frage zurück zu kommen: bei den russischen Offizieren wird die Auftragstaktik durchaus studiert, als bewusst abgelehntes Beispiel dafür wie man es nicht machen sollte, um besser zu verstehen, wie man das was real ist besser einsetzen kann.

Der größte Anteil der "Schuld" am Scheitern liegt aber nicht daran, sondern ganz im Gegenteil völlig außerhalb des Militärs. Es ist der Einfluss und das Wirken der Inneren Sicherheit, der Geheimdienste und der zivilen Regierung, welche die Armee hier ihrer genuien Kampfweise so lange und so weitgehend beraubt haben, und die noch darüber hinaus die Grundlagen dieser Kampfweise systematisch über Jahre hinweg erodiert und nachhaltig zerstört haben, welche hier die Verantwortung für das Scheitern inne haben.

Die Schuld für das Versagen ist also direkt auf Putin und seine Geheimdienst-Kamarilla zurück zu führen, und nicht auf die russische Armee selbst. Hätte diese frei und völlig selbstständig agieren können, wäre die Ukraine bereits geschlagen worden, trotz aller Erosion und systematischen Zerstörung aller Grundlagen für die ihr eigene Art der Kriegsführung. Die Ukraine wäre einfach systematisch geschlagen worden. Es ist aber gerade eben dieses völlige Fehlen jedweder Systematik, vor allem auf der operativen Ebene, gewesen, welches völlig konträr zur russischen Auffassung der Kriegsführung läuft, welches die russischen Truppen in die aktuelle Lage gebracht hat.

Als Zukunftsaussicht könnte man anmerken, dass die russische Armee unter anderem explizit darauf ausgerichtet ist ohne Ausbildung, ohne Können und ohne Ansprüche unter schwierigsten Verhältnissen immer weiter zu kämpfen. Westliche Streitkräfte wären nach solchen Verlusten wie sie jetzt dort für die russischen Streitkräfte aufgetreten sind nicht mehr einsatzfähig. Je härter die Umstände werden, desto "besser" schlägt sich das russische System.

Es ist daher noch keineswegs ausgemacht dass die Ukraine gewinnen wird. Das hängt stattdessen inzwischen alleine davon ab wie lange wir die Ukraine mit Waffen und Geld versorgen werden. Und von nichts anderem. Im Endeffekt ist der aktuelle Zustand ein Zweikampf der reinen Ausdauer zwischen unserer materiellen Überlegenheit und der Opferbereitschaft des russischen Volkes. Aufgrund historischer Fakten geht die russische Führung anscheinend davon aus, dass ihre Seite "zäher" ist. Keine Auftragstaktik würde dann irgend etwas an dem endgültigen Ausgang ändern. Aber ob diese Rechnung der russischen Führung angesichts der katastrophalen Verluste (vor allem der ersten Monate, inzwischen sieht es anders aus) und angesichts der Inneren Unruhe in Russland aufgehen wird ist eine ganz andere Frage.
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RE: Russland vs. Ukraine - von Nightwatch - 30.04.2022, 22:50
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