Nationbuilding und die Alternativen
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(09.09.2021, 09:05)Quintus Fabius schrieb: Der (salafistisch/wahabitische) Islamismus ist meinem Verständnis nach eine Modernisierung des Islam, er ist gerade eben keine traditionelle Herrschaft oder Form. Da wir in diesen Gesellschaften in Konkurrenz zu genau dieser Modernisierung dieser Gesellschaften stehen, führt ein Streben von uns dort traditionelle Herrschaftsformen aufrecht zu erhalten zwingend zum Konflikt gegen die Modernisierung dieser Gesellschaften. Es ist daher höchst fraglich, ob von uns etablierte traditionelle Herrschaftsformen dort überhaupt längerfristig werden bestehen können. Zu viele Menschen dort wollen ja gerade eben keine traditionellen Herrschaftsformen mehr.

"Traditionell" ist wahrscheinlich auch der falsche Begriff. Es geht mir nicht darum, bereits überholte Systeme zu erhalten, sondern lediglich die von den betroffenen Gesellschaften selbst gewählten zu erhalten, statt unsere Strukturen zu übertragen. Das kann durchaus auch die Akzeptanz islamistischer Herrschaften beinhalten, aber auch die von Dorf, Sippe, Clan und Stamm als kleineste Verwaltungseinheiten anstelle von Bezirken und Regionen.
Ich gebe dir Recht: gegenüber Fremdherrschaft, Monarchie und US-gestützten Diktaturen kann Islamismus eine Modernisierung darstellen. U.a. deswegen wird er ja auch von vielen als Fortschritt und Verbesserung ihrer Lage empfunden.

(09.09.2021, 09:05)Quintus Fabius schrieb: Die Voraussetzung für funktionierendes Nation Building ist militärischer Erfolg.

Das sehe ich nicht. MMn kann Nationbuilding gar nicht funktionieren. Man kann Menschen durch militärische Gewalt in ein staatliches System stecken und dieses aufrecht erhalten. Dadurch entsteht aber keine Nation. Die entsteht nur dann, wenn Menschen eine gemeinsame Identität entwickeln, und das kann man nicht erzwingen, zumindest nicht von außen. Deshalb wäre die Mindestanforderung an Nationbuilding, dass der Betreibende selbst Teil der Nation werden will. Auf die Art könnten z.B. Pan-Bewegungen Nationen erschaffen, eben weil dort die Akteure zwar vielleicht erst als Eroberer erscheinen, sich dann aber selbst in die neue Nation mit einbringen und vorhandene Gemeinsamkeiten als Grundlage einer Nation aufgreifen. Und selbst das ist schon häufig gescheitert.

Deshalb sind meine Ausführungen auch gerade eben nicht so zu verstehen, dass der Westen Staaten und Systeme schaffen soll, sondern sich im Gegenteil komplett aus diesen zurückziehen muss inkl. Revidierung der von außen geschaffenen Staatsapparate und Grenzen, insbesondere der kolonialen. So etwas wie nationale Einigungen können nur von innen heraus entstehen.

Aber für das internationale Zusammenleben benötigen wir zumindest so etwas wie eine politische Schnittstelle zwischen den Nationalstaaten und den in Teilbereichen der Welt be- und entstehenden Strukturen anderer Natur. Und der praktikabelste Weg scheint für mich ein solches föderales Gebilde zu sein, dass einen möglichst großen Kulturraum umfasst, zahlreiche Herrschaften in sich vereint und nach außen hin vertritt. Nach allem, was der Westen in diesen Gebieten schon veranstaltet hat, sollte die Etablierung eines solchen Rates auch noch zu schaffen sein. Quasi als letzte Amtshandlung.

(09.09.2021, 09:05)Quintus Fabius schrieb: Ohne reale Macht kann man nichts bestimmen.

Das stimmt. Also müssen wir schauen, wo wir real Macht ausüben können, um unsere Interessen zu waren.

Spinnen wir das mal kurz durch:
Ziel ist es, die Staaten Iran, Afghanistan und Pakistan dazu zu bringen, anstelle ihrer bestehenden Grenzen eine gemeinsame Islamische Föderation Indo-Iranischer Völker einzugehen. Freiwillig werden sie das nicht tun. Eine westliche Machtausübung innerhalb dieses Gebietes ist im erforderlichen Umfang unmöglich. Was aber (rein theoretisch) möglich wäre, ist die weitestgehende Abriegelung dieses Gebietes von außen. Die Russen und Inder sperren im Norden und Osten während der Westen eine Abriegelung in Irak, Kurdistan und Aserbaidschan vornimmt(, was rein praktisch allerdings den Einmarsch in den Iran erfordert). Diplomatischer Kontakt und Außenhandel werden nur noch über eine neue international anerkannte Gesamtvertretung der Region zugelassen. Zeitgleich gezielte militärische und geheimdienstlichen Einflussnahme im Inneren zur Destabilisierung der bestehenden Zentralstaaten. Mit dem erklärten Ziel, diese von innen heraus zu zerstören und durch kleinere Herrschaften zu ersetzen, unabhängig davon, wie diese sich dann zusammensetzen und woraus sie ihre Legitimierung ziehen. Wichtig ist, dass jede für sich nicht zu groß und mächtig wird, so dass sie auf Kooperation untereinander angewiesen sind und so die Basis für die von mir erwogenen Föderation entsteht. Diese sorgt dann für Sicherheit nach außen und auch untereinander, dadurch dass die einzige Möglichkeit für die regionalen Herrschaften ist, diplomatisch zu agieren und Außenhandel zu betreiben.

Natürlich ist das (allein schon aufgrund der nuklearen Bewaffnung Pakistans) kein realistischer Weg, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Es ist eine Theorie als Denkansatz.

Was ich aus dieser Theorie allerdings ableite ist die Annahme, dass es zu einem dauerhaft tragfähigen Regierungskonstrukt in dieser Großregion nur kommen kann, wenn dort die großen Staatstrukturen fallen. Und das wird nur gewaltsam passieren. Die gesamte Region braucht eigentlich einen großflächigen Krieg, um sich neu aufzustellen. Aber dieser Krieg muss in erster Linie zwischen den regionalen Kräften stattfinden, nicht gegen einen äußeren Gegner. Ein solcher kann nur den Rahmen dafür schaffen.
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RE: Nationbuilding und die Alternativen - von Broensen - 09.09.2021, 12:27

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