Nationbuilding und die Alternativen
#1
Ich lagere das hier mal aus dem Afghanistanstrang aus, da es sich etwas zu sehr vom konkreten Thema weg bewegt und sich eher auf die ganze Region und darüber hinaus bezieht.
(@Mods: Falls ich ein passendes, bereits bestehendes Thema für sowas übersehen haben sollte: do your thing)

(07.09.2021, 21:31)Quintus Fabius schrieb: Für die Paschtunen wird es keinen Frieden geben bis sie das wieder haben was ihnen ihrer Ansicht nach rechtmässig zusteht. Das trifft für viele Völker zu. Von Großalbanien über die Neo-Osmanischen Träume in der Türkei hin zur Sammlung der slawischen Erde durch die Russen, es ist im Prinzip überall gleich, dass man sehr wohl sich exakt darauf beruft was früher war, ungeachtet der heutigen Realität.

Aus dem gleichen Grund ist in chinesischen Schulbüchern hier und heute sowohl die Mongolei bereits ein Teil Chinas wie auch die Meeresprovinz als unter russischer Verwaltung stehendes Gebiet gekennzeichnet und ebenso der Osten Kasachstans, Nepal und andere Gebiete. Warum? Weil die Qing Dynastie diese Gebiete erobert hatte und weil man sich als Imperium versteht und nicht als ethnisch homogenen Nationalstaat europäischer Prägung. Diese Völker - und auch und insbesondere die Paschtunen vertreten schlußendlich eine imperiale Idee und keine westlich moderne Nationalstaatliche.
...
Gebietsansprüche aus früherer Herrschaft abzuleiten war früher vorherrschend und ist es in weiten Teilen der Welt immer noch. Nur das wir uns von diesem Gedanken verabschiedet haben und die Ordnung der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges auf ewig in völliger Erstarrung konservieren wollen ändert nichts daran, dass andere Gruppen weltweit das ganz anders sehen.

Die Erkenntnis ist zwar richtig, führt nur halt zu nichts. Die Welt ist kleiner geworden seit den Zeiten des großen Khans, Osman oder den Moguln. Ich bin ja absolut dabei, wenn es heißt, dass die iranischen und auch viele andere Gesellschaften nicht zum europäischen Nationalstaat der Moderne passen. Aber in dieser kleineren Welt treffen die unterschiedlichen Gesellschaften zwangsläufig aufeinander und es muss daher Ziel internationaler Politik sein, Lösungen zu entwickeln, wie westliche Nationalstaaten und traditionelle Stammesgesellschaften koexistieren können, da man eine gegenseitige Beeinflussung nicht mehr vermeiden können wird.

(07.09.2021, 21:31)Quintus Fabius schrieb:
Zitat:Und genau aus diesen Gründen bin ich Verfechter einer großen iranischen Föderation. Ein loser Verbund von regionalen Systemen, die auf all diese Unterschiede Rücksicht nehmen können. In der die verschiedenen Völker sich selbst verwalten, ihr eigenes Staatswesen, ihre eigenen Gesetze und auch Stammesstrukturen bewahren können und sich lediglich zur Sicherung des Friedens untereinander und nach außen hin zusammenschließen. Dafür müssten der IRAN, Afghanistan und Pakistan allerdings aufgelöst werden, was aufgrund der Atomwaffenthematik eventuell nicht so einfach wäre.

Ohne mich damit tiefergehend beschäftigt zu haben, scheinen mir die VAE ein gutes Beispiel dafür zu sein, wie man traditionelle Strukturen islamischer Gesellschaften in ein (pseudo-)"modernes" Staatskonstrukt überführen kann.
Die Unterschiede zwischen Arabern und Iranischen Völkern sind erheblich, und obwohl beide traditionell islamische Gesellschaften aufweisen und teilweise ja sogar beide Sunniten sind, kann man die Umstände bei den Arabern eben nicht auf die iranischen Völker übertragen.

Natürlich kann man das Konzept nicht einfach übertragen. Es soll auch nur dienen als Beispiel dafür, dass es prinzipiell möglich ist, traditionelle Herrschaften in einer islamischen Gesellschaft derart zusammen zu bringen, dass diese nach außen als ein Staatsgebilde auftreten können, ohne einen demokratischen Nationalstaat zu bilden.

(07.09.2021, 21:31)Quintus Fabius schrieb: Insbesondere aber will keines der iranischen Völker selbst eine solche Föderation, die wollen alleine über die anderen herrschen. Die Perser wollen alleine herrschen. Und dass sich die anderen unterordnen. Die Paschtunen wollen alleine herrschen. Und dass sich die anderen unterordnen. Und so weiter und so fort. Daher ist deine Idee einer iranischen Föderation mal schlicht und einfach unmöglich. Keines der iranischen Völker will so ein Konstrukt. Jedes will ein Imperium für sich allein.

Das können sie ja wollen, nur können sie es halt nicht haben. Zumindest nicht alle gleichzeitig. Und das Problem ist nun mal eins, das globale Konsequenzen birgt. Also muss sich "die Weltgemeinschaft" oder "der Westen" damit beschäftigen. Zaun drum klappt nicht so gut. Vor allem nicht, wenn die pakistanischen Raketen innerhalb des Zaunes liegen.
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#2
Broensen:

Zitat:Die Erkenntnis ist zwar richtig, führt nur halt zu nichts.

Doch, absolut. Sie führt zum Krieg. Der Krieg ist daher unvermeidbar.

Zitat:Aber in dieser kleineren Welt treffen die unterschiedlichen Gesellschaften zwangsläufig aufeinander und es muss daher Ziel internationaler Politik sein, Lösungen zu entwickeln, wie westliche Nationalstaaten und traditionelle Stammesgesellschaften koexistieren können, da man eine gegenseitige Beeinflussung nicht mehr vermeiden können wird.

Da es keine internationale Politik als eine auf ein Ziel hin gemeinsam handelnde Entinität gibt, kann "die internationale Politik" auch keine Lösung entwickeln, wobei sogar zu bezweifeln ist ob es eine solche überhaupt geben kann selbst wenn es eine internationale Politik gäbe. Und da die Globalisierung nun mal hier zusammen mischt was nicht zusammen gehört und getrennt bleiben sollte ist das Ergebnis ein nicht vermeidbarer Konflikt. Der Krieg ist daher unvermeidbar.

Zitat:Es soll auch nur dienen als Beispiel dafür, dass es prinzipiell möglich ist, traditionelle Herrschaften in einer islamischen Gesellschaft derart zusammen zu bringen, dass diese nach außen als ein Staatsgebilde auftreten können, ohne einen demokratischen Nationalstaat zu bilden.

Der (salafistisch/wahabitische) Islamismus ist meinem Verständnis nach eine Modernisierung des Islam, er ist gerade eben keine traditionelle Herrschaft oder Form. Da wir in diesen Gesellschaften in Konkurrenz zu genau dieser Modernisierung dieser Gesellschaften stehen, führt ein Streben von uns dort traditionelle Herrschaftsformen aufrecht zu erhalten zwingend zum Konflikt gegen die Modernisierung dieser Gesellschaften. Es ist daher höchst fraglich, ob von uns etablierte traditionelle Herrschaftsformen dort überhaupt längerfristig werden bestehen können. Zu viele Menschen dort wollen ja gerade eben keine traditionellen Herrschaftsformen mehr. Die Ölaraber sind hier nun deshalb ein schlechtes Beispiel, weil sie in einem Rentensystem immense Sondergewinne einfahren und sich den sozialen Frieden damit einfach durch Bestechung erkaufen können. Das ist kein Modell das auf andere Gegenden auch nur ansatzweise übertragen werden kann. Dafür fehlen dort die speziellen Umstände welche in den VAE vorliegen. Aber diese sind wenn man etwas weiter in die Geschichte zurück geht doch ein interessantes Fallbeispiel: Das ganze Gebiet war de facto das was wir heute einen Failed State nennen würden (Piratenküste). Durch Strafexpeditionen und militärische Gewalt des britischen Empire und weil zugleich die Perlenfischerei nun Einkünfte bescherte wurde das Gebiet friedlicher und schließlich befriedet. Dann kam es aber zum Niedergang der Perlenfischerei und zum vorübergehenden ökonomischen Kollaps und sofort brachen heftige kriegerische Auseinandersetzungen der Stämme dort aus. Dann kam das Öl und die entsprechenden Einnahmen und die VAE entstanden und ertranken in Reichtum, Frieden und Stabilität.

Solche Sondereinnahmen für die Bevölkerung sind durch von außen betriebenes Nation-Building nicht erreichbar und in den meisten Regionen weltweit fehlt dafür auch jede Grundlage. Nun könnte man argumentieren, dass es in Afghanistan ja jede Menge Bodenschätze gibt. Die liegen aber nicht unmittelbar am Meer und die für den Abbau notwendige Infrastruktur und die notwendigen Strukturen fehlen und auch die reale militärische Macht europäischer Armeen um diesen Abbau abzusichern. Und da sind wir bei einem der wesentlichsten Punkte:

Die Voraussetzung für funktionierendes Nation Building ist militärischer Erfolg. Für den fehlt uns die dafür notwendige militärische Befähigung.

Zitat:Und das Problem ist nun mal eins, das globale Konsequenzen birgt. Also muss sich "die Weltgemeinschaft" oder "der Westen" damit beschäftigen.

Die Weltgemeinschaft gibt es nicht und "der Westen" ist militärisch nicht in der Lage ausreichend Macht auszuüben. Den das ist mal zunächst vor allem anderen der Anfang: dass man selbst real Macht ausübt. Diese Macht muss zunächst militärisch gewonnen werden, man muss den anderen seinen Willen aufzwingen. Dazu sind wir weder in der Lage noch Willens. Damit hat sich eigentlich jeder Versuch von Nation Building durch uns erledigt.

Um tatsächlich funktionierende sich selbst tragende einheimische Strukturen aufzubauen wäre es notwendig, wesentlich mehr Macht direkt selbst auszuüben. Dann muss man als zweites akzeptieren dass dies den Widerstand zunächst vergrößert. Dann muss allein dem Gebot der Notwendigkeit und der Zweckmässigkeit folgend dieser Widerstand vernichtet werden, wozu wir schon gleich dreimal nicht in der Lage sind. Parallel muss man die Nation aufbauen was nur dann gelingt wenn wir selbst dort real die Macht ausüben. Und beschließend sollte man anmerken, dass dies Unsummen von Geld und/oder Blut kostet. Und für was? Damit es dann einem anderen Volk nachhaltig besser geht ?!

Ohne reale Macht kann man nichts bestimmen. Wenn man nichts bestimmen kann, kann man nichts richtig aufbauen (da die Einheimischen Eliten unfähig/korrupt/verkommen sind). Man benötigt also auch neue Eliten und dass ist auch wieder so ein Punkt: Gesellschaften geraten gerade eben in solche Probleme wenn sie sich modernisieren wollen, in der islamischen Welt in vielen Fällen in Form des Islamismus. Wenn wir nun dort genau die korrupten degenerierten Kleptokratien welche die Gesellschaften dort loswerden wollen stützen und diese als Lösung präsentieren, kann das nur dann funktionieren, wenn wir die Modernisierung dieser Gesellschaft vernichten. Wozu extremste Maßnahmen erforderlich sind. Ganz allgemein: je ehrgeiziger das Ziel ist, je abweichender es ist von der natürlichen Entwicklung in diesem Land, desto extremere Maßnahmen und desto extremere Gewalt muss man einsetzen. Afghanistan beispielsweise entwickelt sich natürlich in eine bestimmte Richtung. Diese abzuändern, die Strömung sozusagen umzuleiten kann niemals so minimalintensiv funktionieren wie das hier versucht wurde. Eine maximalintensive Intervention aber gerät schnell in Neo-Kolonialismus und erzeugt extreme Kosten. Sind wir bereit diese zu tragen und noch viel wesentlicher: wären wir fähig das zu tun was dafür notwendig ist? Und wozu überhaupt? Mit welchem Ziel und welchem Nutzen für uns sollten wir für andere Völker Nation Building betreiben?

Zitat:Zaun drum klappt nicht so gut. Vor allem nicht, wenn die pakistanischen Raketen innerhalb des Zaunes liegen.

Es gibt für viele Probleme gar keine Lösung und es gibt ganz viele Prozesse welche in jedem Fall übel enden werden. Es ist dieser Positivismus, diese Yes We Can Schwachsinns Attitüde die uns da reingeritten hat. Es ist die westliche Hybris zu glauben wir könnten ohne extreme Gewalt Einfluss nehmen und Dinge zum Guten hin entwickeln weil doch alle das Gute wollen. Wir sind darüber hinaus trotz aller Hybris einfach nur Schwächlinge denen absolut jede Befähigung dazu fehlt tatsächliche Herrschaft auszuüben und genau diese ist die Grundlage dafür abweichende Strömungen in eine andere Richtung zu lenken. Meiner Meinung nach wird dieser Positivismus aus dem dekadenten Luxus geboren in welchem wir selbst leben. Da es bei uns so vortrefflich läuft und wir wie die Maden im Speck in Luxus ertrinken, sehen wir die Welt positiv und glauben man könne doch mit Vernunft und Logik, Freundschaft und Menschenrechten andere Völker ebenfalls zu einem guten/besseren Leben verhelfen. Das verkennt die Grundlagen auf denen sich Gesellschaften tatsächlich entwickeln, es verkennt die Notwendigkeiten, und es verkennt dass unsere degenerierte Lebensweise für einen Gros der Menschheit gar nicht das Ziel ist.
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#3
(09.09.2021, 09:05)Quintus Fabius schrieb: Der (salafistisch/wahabitische) Islamismus ist meinem Verständnis nach eine Modernisierung des Islam, er ist gerade eben keine traditionelle Herrschaft oder Form. Da wir in diesen Gesellschaften in Konkurrenz zu genau dieser Modernisierung dieser Gesellschaften stehen, führt ein Streben von uns dort traditionelle Herrschaftsformen aufrecht zu erhalten zwingend zum Konflikt gegen die Modernisierung dieser Gesellschaften. Es ist daher höchst fraglich, ob von uns etablierte traditionelle Herrschaftsformen dort überhaupt längerfristig werden bestehen können. Zu viele Menschen dort wollen ja gerade eben keine traditionellen Herrschaftsformen mehr.

"Traditionell" ist wahrscheinlich auch der falsche Begriff. Es geht mir nicht darum, bereits überholte Systeme zu erhalten, sondern lediglich die von den betroffenen Gesellschaften selbst gewählten zu erhalten, statt unsere Strukturen zu übertragen. Das kann durchaus auch die Akzeptanz islamistischer Herrschaften beinhalten, aber auch die von Dorf, Sippe, Clan und Stamm als kleineste Verwaltungseinheiten anstelle von Bezirken und Regionen.
Ich gebe dir Recht: gegenüber Fremdherrschaft, Monarchie und US-gestützten Diktaturen kann Islamismus eine Modernisierung darstellen. U.a. deswegen wird er ja auch von vielen als Fortschritt und Verbesserung ihrer Lage empfunden.

(09.09.2021, 09:05)Quintus Fabius schrieb: Die Voraussetzung für funktionierendes Nation Building ist militärischer Erfolg.

Das sehe ich nicht. MMn kann Nationbuilding gar nicht funktionieren. Man kann Menschen durch militärische Gewalt in ein staatliches System stecken und dieses aufrecht erhalten. Dadurch entsteht aber keine Nation. Die entsteht nur dann, wenn Menschen eine gemeinsame Identität entwickeln, und das kann man nicht erzwingen, zumindest nicht von außen. Deshalb wäre die Mindestanforderung an Nationbuilding, dass der Betreibende selbst Teil der Nation werden will. Auf die Art könnten z.B. Pan-Bewegungen Nationen erschaffen, eben weil dort die Akteure zwar vielleicht erst als Eroberer erscheinen, sich dann aber selbst in die neue Nation mit einbringen und vorhandene Gemeinsamkeiten als Grundlage einer Nation aufgreifen. Und selbst das ist schon häufig gescheitert.

Deshalb sind meine Ausführungen auch gerade eben nicht so zu verstehen, dass der Westen Staaten und Systeme schaffen soll, sondern sich im Gegenteil komplett aus diesen zurückziehen muss inkl. Revidierung der von außen geschaffenen Staatsapparate und Grenzen, insbesondere der kolonialen. So etwas wie nationale Einigungen können nur von innen heraus entstehen.

Aber für das internationale Zusammenleben benötigen wir zumindest so etwas wie eine politische Schnittstelle zwischen den Nationalstaaten und den in Teilbereichen der Welt be- und entstehenden Strukturen anderer Natur. Und der praktikabelste Weg scheint für mich ein solches föderales Gebilde zu sein, dass einen möglichst großen Kulturraum umfasst, zahlreiche Herrschaften in sich vereint und nach außen hin vertritt. Nach allem, was der Westen in diesen Gebieten schon veranstaltet hat, sollte die Etablierung eines solchen Rates auch noch zu schaffen sein. Quasi als letzte Amtshandlung.

(09.09.2021, 09:05)Quintus Fabius schrieb: Ohne reale Macht kann man nichts bestimmen.

Das stimmt. Also müssen wir schauen, wo wir real Macht ausüben können, um unsere Interessen zu waren.

Spinnen wir das mal kurz durch:
Ziel ist es, die Staaten Iran, Afghanistan und Pakistan dazu zu bringen, anstelle ihrer bestehenden Grenzen eine gemeinsame Islamische Föderation Indo-Iranischer Völker einzugehen. Freiwillig werden sie das nicht tun. Eine westliche Machtausübung innerhalb dieses Gebietes ist im erforderlichen Umfang unmöglich. Was aber (rein theoretisch) möglich wäre, ist die weitestgehende Abriegelung dieses Gebietes von außen. Die Russen und Inder sperren im Norden und Osten während der Westen eine Abriegelung in Irak, Kurdistan und Aserbaidschan vornimmt(, was rein praktisch allerdings den Einmarsch in den Iran erfordert). Diplomatischer Kontakt und Außenhandel werden nur noch über eine neue international anerkannte Gesamtvertretung der Region zugelassen. Zeitgleich gezielte militärische und geheimdienstlichen Einflussnahme im Inneren zur Destabilisierung der bestehenden Zentralstaaten. Mit dem erklärten Ziel, diese von innen heraus zu zerstören und durch kleinere Herrschaften zu ersetzen, unabhängig davon, wie diese sich dann zusammensetzen und woraus sie ihre Legitimierung ziehen. Wichtig ist, dass jede für sich nicht zu groß und mächtig wird, so dass sie auf Kooperation untereinander angewiesen sind und so die Basis für die von mir erwogenen Föderation entsteht. Diese sorgt dann für Sicherheit nach außen und auch untereinander, dadurch dass die einzige Möglichkeit für die regionalen Herrschaften ist, diplomatisch zu agieren und Außenhandel zu betreiben.

Natürlich ist das (allein schon aufgrund der nuklearen Bewaffnung Pakistans) kein realistischer Weg, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Es ist eine Theorie als Denkansatz.

Was ich aus dieser Theorie allerdings ableite ist die Annahme, dass es zu einem dauerhaft tragfähigen Regierungskonstrukt in dieser Großregion nur kommen kann, wenn dort die großen Staatstrukturen fallen. Und das wird nur gewaltsam passieren. Die gesamte Region braucht eigentlich einen großflächigen Krieg, um sich neu aufzustellen. Aber dieser Krieg muss in erster Linie zwischen den regionalen Kräften stattfinden, nicht gegen einen äußeren Gegner. Ein solcher kann nur den Rahmen dafür schaffen.
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#4
Broensen:

Zitat:"Traditionell" ist wahrscheinlich auch der falsche Begriff. Es geht mir nicht darum, bereits überholte Systeme zu erhalten, sondern lediglich die von den betroffenen Gesellschaften selbst gewählten zu erhalten, statt unsere Strukturen zu übertragen. Das kann durchaus auch die Akzeptanz islamistischer Herrschaften beinhalten, aber auch die von Dorf, Sippe, Clan und Stamm als kleineste Verwaltungseinheiten anstelle von Bezirken und Regionen.

Einer der im Westen so gut wie unbekannten Gründe warum die Taliban immer mehr Zuspruch von der Bevölkerung erhalten haben ist, dass sich die Taliban explizit als eine Alternative zu den Dörfern, Sippen, Clans und Stämmen etablieren konnten. Die Taliban sind eine Modernisierung der afghanischen Gesellschaft und richten sich erstaunlich weitgehend gerade eben gegen die traditionellen Machtstrukturen dort. Während man vorher den Dorfältesten, Clanführern, Stammesführern regelrecht ausgeliefert war und wenn man arm war und/oder nicht zur Führungselite gehörte keine Rechte und keine Chance hatte, haben die Taliban es geschafft unabhängig von diesen bisherigen Machtstrukturen auch einfachen Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Dabei ist vor allem die Justiz der Taliban beachtenswert. Sie ist natürlich auch teilweise korrupt, teilweise inkompetent, aber dies eben sehr viel weniger als die von uns dort etablierte und die Taliban konnten und können eben Recht schaffen außerhalb der bisherigen traditionellen Machtstrukturen während die von uns dort geschaffene Justiz gerade eben in diesen traditionellen Machtstrukturen verfangen blieb und niemals sich von diesen befreien konnte.

Dorf, Sippe, Clan und Stamm sind daher genau genommen eben nicht die sinnvollen Verwaltungseinheiten, und die Gesellschaft in diesen Ländern will gerade eben diese traditionellen Strukturen überwinden und abwerfen. Und wendet sich gerade deshalb den Islamisten dort zu, weil diese die einzige echte Alternative dazu darstellen.

Zitat:MMn kann Nationbuilding gar nicht funktionieren. Man kann Menschen durch militärische Gewalt in ein staatliches System stecken und dieses aufrecht erhalten. Dadurch entsteht aber keine Nation.

Wir müssten vielleicht erstmal über den Begriff an sich sprechen und was dieser bedeuten soll. In vielen Gesellschaften weltweit haben wir vormoderne Systeme welche ohnehin keinen Nationalgedanken an sich haben. Es gibt dort gar keine Nation und kann diese auch gar nicht geben weil die Menschen dort gar nicht die Idee der Nation an sich sozialkulturell aufnehmen können.

Was verstehst du also unter Nation Building? Die Errichtung eines Nationalstaates nach europäischem Vorbild? Eine funktionierende Gesellschaft (gleich wie diese dann aufgebaut ist)? Eine Entwicklung von Gesellschaften in unsere Richtung, also in Richtung unserer Sozialkultur? Frieden und Stabilität unabhängig von allen bisher gennannten Möglichkeiten?

Zitat:Deshalb sind meine Ausführungen auch gerade eben nicht so zu verstehen, dass der Westen Staaten und Systeme schaffen soll, sondern sich im Gegenteil komplett aus diesen zurückziehen muss inkl. Revidierung der von außen geschaffenen Staatsapparate und Grenzen, insbesondere der kolonialen. So etwas wie nationale Einigungen können nur von innen heraus entstehen.

Das kann ich rein persönlich durchaus so teilen, setzt aber voraus, dass man das sich daraus zwingend ergebende Blutvergießen hinnimmt und sich gegen die Folgen des daraus entstehenden allgemeinen Massenmordens einfach gleichgültig abschottet. Was beides möglich ist. Das führt zudem in vielen vormodernen Gesellschaften zum Ende von Staaten an sich und zu bloßen geographischen Gebieten ohne jede staatliche Struktur. In einer globalisierten Welt ist das für uns von Nachteil wenn wir nicht in der Lage sind uns die Folgen dieser Strukturlosigkeit mit Gewalt vom Leibe zu halten. Wozu wir in unserer aktuellen Verfasstheit wohl nicht in der Lage sind.

Deshalb betone ich ja hin und wieder beispielsweise, dass wir trotz meiner grundsätzlich eher zu Isolationismus neigenden Grundhaltung Nordafrika unter Kontrolle kriegen müssen, insbesondere die Sahel-Zone.

Zitat:der praktikabelste Weg scheint für mich ein solches föderales Gebilde zu sein, dass einen möglichst großen Kulturraum umfasst, zahlreiche Herrschaften in sich vereint und nach außen hin vertritt. Nach allem, was der Westen in diesen Gebieten schon veranstaltet hat, sollte die Etablierung eines solchen Rates auch noch zu schaffen sein.

Meiner Einschätzung nach ist das eben unmöglich, weil die Beteiligten vor Ort kein solches Föderales Gebilde wollen, und zwar ausdrücklich nicht. Das ihr Wunsch nach einem eigenen Imperium real nicht funktionieren kann spielt dafür keine Rolle. Ein solcher "Rat" kann daher nicht etabliert werden, mit keinem Mittel der Welt, da alle die daran teilnehmen müssten völlig konträr zu dieser Idee stehen und etwas völlig anderes wollen.

Zitat:Ziel ist es, die Staaten Iran, Afghanistan und Pakistan dazu zu bringen, anstelle ihrer bestehenden Grenzen eine gemeinsame Islamische Föderation Indo-Iranischer Völker einzugehen. Freiwillig werden sie das nicht tun. Eine westliche Machtausübung innerhalb dieses Gebietes ist im erforderlichen Umfang unmöglich. Was aber (rein theoretisch) möglich wäre, ist die weitestgehende Abriegelung dieses Gebietes von außen. Die Russen und Inder sperren im Norden und Osten während der Westen eine Abriegelung in Irak, Kurdistan und Aserbaidschan vornimmt(, was rein praktisch allerdings den Einmarsch in den Iran erfordert). Diplomatischer Kontakt und Außenhandel werden nur noch über eine neue international anerkannte Gesamtvertretung der Region zugelassen. Zeitgleich gezielte militärische und geheimdienstlichen Einflussnahme im Inneren zur Destabilisierung der bestehenden Zentralstaaten. Mit dem erklärten Ziel, diese von innen heraus zu zerstören und durch kleinere Herrschaften zu ersetzen, unabhängig davon, wie diese sich dann zusammensetzen und woraus sie ihre Legitimierung ziehen. Wichtig ist, dass jede für sich nicht zu groß und mächtig wird, so dass sie auf Kooperation untereinander angewiesen sind und so die Basis für die von mir erwogenen Föderation entsteht.

Da du ja selbst einräumst dass dies aufgrund gewisser Umstände (Atomwaffen, andere Großmächte spielen nicht mit, im Gemetzel untereinander setzt sich ein Imperium durch etc) nicht wirklich möglich ist, möchte ich dich dennoch in Bezug auf deine Theorie als Denkansatz fragen, ob der Tot von Millionen und Abermillionen Zivilisten der sich aus einer solchen Strategie ergeben würde ernsthaft von dir so mitgetragen wird, nur damit aus all der Zerstörung heraus dann etwas erwächst was genau so dysfunktional wäre wie das was ist? Wir verursachen also mal im zweistelligen Millionen Bereich Tote Zivilisten für was? Damit wir ebenso instabile und dysfunktionale Strukturen haben die keineswegs stabil sind?

Zitat:Was ich aus dieser Theorie allerdings ableite ist die Annahme, dass es zu einem dauerhaft tragfähigen Regierungskonstrukt in dieser Großregion nur kommen kann, wenn dort die großen Staatstrukturen fallen.

Der Iran ist ein dauerhaft tragfähiges Regierungskonstrukt. Pakistan ist aktuell (noch) ein dauerhaft tragfähiges Regierungskonstrukt. Die ganze Region vollständig in die Luft zu blasen nur damit diese Feinde des Westens so nicht mehr sind und dort gefälligere Strukturen entstehen ist gelinde gesagt abstrus. Es wäre sinnvoller den Iran nicht mehr fortwährend ständig fertig zu machen und ansonsten sich darauf zu konzentrieren dass Pakistan nicht zerfällt. Nation Building sollte man daher auch als präventiven Ansatz verstehen und nicht erst dann betreiben wenn ein Staat scheitert. Zu verhindern das Pakistan abgleitet muss jetzt nach dem Umsturz in Afghanistan oberste Priorität haben.

Nation Building sollte nicht bedeuten Strukturen zu zerschlagen, zu zerstören damit dann aus dem Chaos sich von selbst etwas neues formt, sondern es sollte primär auf Stabilisierung hin ausgerichtet sein. Wenn alles kaputt ist, dann ist das natürlich wesentlich schwieriger. National Building als Präventive Maßnahme zum Erhalt von Strukturen (so schlecht diese auch sein mögen) macht daher oft mehr Sinn.

Nehmen wir mal den sogenannten Arabischen Frühling und was uns dieser gebracht hat. Wie hat man ihn in der Westpresse und Politik bejubelt, sogar Kriege geführt damit der Arabische Frühling sich ausbreitet und was hat es erzeugt?! Keineswegs entstand aus dem Chaos auch nur irgend etwas sinnvolles. So wäre es auch hier im Indo-Iranischen Raum.

Der Iran (als Entinität) ist des endlosen Dauerkampfes gegen uns schlicht und einfach müde, er würde mit uns problemlos koexistieren wenn wir ihn nur lassen würden. Pakistan ist eigentlich der Schwerpunkt, hier müsste man mit allen Mitteln einsetzen und Nation Building betreiben, dahingehend dass Pakistan nicht zu einem Failed State wird, den diese Gefahr besteht jetzt zunehmend. Ein Failed State mit Atombomben und Interkontinentalraketen ist inakzeptabel.

Beschließend sollten wir vielleicht mal über erfolgreiche Beispiele von Nation Building sprechen, weil aus diesen eher hervor geht was dafür notwendig ist/wäre.
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#5
(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Wir müssten vielleicht erstmal über den Begriff an sich sprechen und was dieser bedeuten soll. In vielen Gesellschaften weltweit haben wir vormoderne Systeme welche ohnehin keinen Nationalgedanken an sich haben. Es gibt dort gar keine Nation und kann diese auch gar nicht geben weil die Menschen dort gar nicht die Idee der Nation an sich sozialkulturell aufnehmen können.

Was verstehst du also unter Nation Building? Die Errichtung eines Nationalstaates nach europäischem Vorbild? Eine funktionierende Gesellschaft (gleich wie diese dann aufgebaut ist)? Eine Entwicklung von Gesellschaften in unsere Richtung, also in Richtung unserer Sozialkultur? Frieden und Stabilität unabhängig von allen bisher gennannten Möglichkeiten?

Es ist natürlich etwas schwierig, einen solchen Begriff ganz genau aus zu definieren, wenn man das Konzept an sich für nicht durchführbar hält.
Ich persönlich benutze den Begriff "Nationbuilding" für den vor allem seitens westlicher Regierungen und Organisationen durchgeführten Versuch, einen Nationalstaat nach westlichem Vorbild innerhalb vorhandener Landesgrenzen außerhalb des europäisch-westlich geprägten Kulturraumes im Zusammenhang mit militärischer Präsenz durchzusetzen. Welche konkreten Eigenschaften (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Säkularität etc.) in welchem Ausmaß diese zu schaffende Nation und das sie bildende Gesellschafts- und Politiksystem dann perspektivisch haben soll, kann dabei natürlich stark variieren.
Im Prinzip ist es ein Sammelbegriff für alle Bemühungen, die auf dieses Ziel eines solchen Nationalstaates hinwirken, der mMn allerdings eine unerreichbare Utopie darstellt.

Davon zu unterscheiden sind andere außen- und sicherheitspolitische Maßnahmen, die mit diplomatischen, humanitären und militärischen Mitteln ein Sicherheitsinteresse durchsetzen, das sich neben der eigenen westlichen Interessen auch auf die persönliche Sicherheit und Freiheit der Menschen in der betroffenen Region beziehen kann, jedoch eben nicht den beschriebenen Nationalstaat zum Ziel haben.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Das kann ich rein persönlich durchaus so teilen, setzt aber voraus, dass man das sich daraus zwingend ergebende Blutvergießen hinnimmt und sich gegen die Folgen des daraus entstehenden allgemeinen Massenmordens einfach gleichgültig abschottet. Was beides möglich ist. Das führt zudem in vielen vormodernen Gesellschaften zum Ende von Staaten an sich und zu bloßen geographischen Gebieten ohne jede staatliche Struktur. In einer globalisierten Welt ist das für uns von Nachteil wenn wir nicht in der Lage sind uns die Folgen dieser Strukturlosigkeit mit Gewalt vom Leibe zu halten. Wozu wir in unserer aktuellen Verfasstheit wohl nicht in der Lage sind.

Für das Beispiel Afghanistan laufen deine Ausführungen bzgl. des strategischen Luftkriegs ja genau darauf hinaus.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Deshalb betone ich ja hin und wieder beispielsweise, dass wir trotz meiner grundsätzlich eher zu Isolationismus neigenden Grundhaltung Nordafrika unter Kontrolle kriegen müssen, insbesondere die Sahel-Zone.

Da sind wir einer Meinung. "Hinterhof-Politik" ist etwas, dass die Europäer infolge der Dekolonialisierung und dem Verlauf des Ost-West-Konflikts sträflich vernachlässigt haben.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Meiner Einschätzung nach ist das eben unmöglich, weil die Beteiligten vor Ort kein solches Föderales Gebilde wollen, und zwar ausdrücklich nicht. Das ihr Wunsch nach einem eigenen Imperium real nicht funktionieren kann spielt dafür keine Rolle. Ein solcher "Rat" kann daher nicht etabliert werden, mit keinem Mittel der Welt, da alle die daran teilnehmen müssten völlig konträr zu dieser Idee stehen und etwas völlig anderes wollen.

Dafür setzt setzt du voraus, dass die, zugestanden: durchaus existierenden, Tendenzen zur Maximierung des eigenen Machtbereichs immer das ausschlaggebende Handlungsmotiv darstellen. Wenn das so ist, dann hast du recht. In meiner Theorie gilt es daher, dafür zu sorgen, dass andere Motive und Notwendigkeiten diesen Expansionsdrang in Grenzen halten. Wenn, nur als kleines Beispiel, ein Regime aufgrund von effektiv geschlossenen Grenzen keinerlei Chancen auf Kraftstoffimporte hat, außer von einem bestimmten Nachbar-Regime, dann dürfte es ihm schwer fallen, dieses aus reinem Expansionsdrang zu bekämpfen. Also werden sich die Nachbarn im eigenen Interesse irgendwie arrangieren müssen. Das werden sie aber nicht tun, wenn ihnen alternativ internationale Handelswege offen stehen.
Und es ist ja durchaus so, dass sich die unterschiedlichen Regime des arabisch-iranischen Raumes zusammensetzen und das teilweise auch in Form von offiziellen Institutionen. Der Ansatzpunkt für meine Überlegung ist es nun, dass man internationale Beziehungen der einzelnen Regime unterbindet, indem man ihnen die internationale Anerkennung verweigert, während man diese Kooperationsräte diplomatisch aufwertet und so einen föderativen Einigungsprozess von außen her beeinflusst, ohne direkt in die inneren Angelegenheiten einzugreifen.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Da du ja selbst einräumst dass dies aufgrund gewisser Umstände (Atomwaffen, andere Großmächte spielen nicht mit, im Gemetzel untereinander setzt sich ein Imperium durch etc) nicht wirklich möglich ist, möchte ich dich dennoch in Bezug auf deine Theorie als Denkansatz fragen, ob der Tot von Millionen und Abermillionen Zivilisten der sich aus einer solchen Strategie ergeben würde ernsthaft von dir so mitgetragen wird, nur damit aus all der Zerstörung heraus dann etwas erwächst was genau so dysfunktional wäre wie das was ist? Wir verursachen also mal im zweistelligen Millionen Bereich Tote Zivilisten für was? Damit wir ebenso instabile und dysfunktionale Strukturen haben die keineswegs stabil sind?

"Wir" haben in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel Gemetzel in diesem Teil der Erde hingenommen und selbst aktiv verursacht. Natürlich entspricht es nicht meinen ethischen Vorstellungen, hier noch mehr Tod und Leid gezielt zu verursachen. Die Frage stellt sich für mich jedoch rein pragmatisch: Welche Lösung wird langfristig betrachtet in der Summe das geringste Leid verursachen. Und damit kommen wir zu folgendem:

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Der Iran ist ein dauerhaft tragfähiges Regierungskonstrukt. Pakistan ist aktuell (noch) ein dauerhaft tragfähiges Regierungskonstrukt.

Und da unterscheiden sich einfach unsere Einschätzungen. Ich halte beides nicht für langfristig stabil zu haltende Staaten. Ich gehe davon aus, dass diese in ihrer jetzigen Form das Jahrhundert nicht überstehen werden. Dementsprechend sollte sich eine nachhaltige diesbezügliche Politik nicht an diese Staatsgebilde klammern, sondern Alternativen dazu im Blick behalten.
Bei Pakistan sehe ich, wie bereits geäußert, die paschtunischen Gebiete als massives Stabilitätsrisiko für die gesamtstaatliche Einheit. Dem Iran können neben dem Dauerkonflikt mit den USA auch die unabsehbaren Entwicklungen an seiner Nordwestgrenze zum Verhängnis werden. Zudem würde der Kollaps einer dieser beiden Staaten massive Auswirkungen auf den jeweils anderen haben und diesen entweder mitreißen oder zum Alleinherrscher werden lassen.
So oder so glaube ich nicht daran, dass der Status Quo hier eine langfristige Lösung darstellen kann, die den Menschen der Region in der Summe eine besser Perspektive liefert als ein offener Konflikt in absehbarer Zeit, der die Machtverhältnisse auf eine deutlich tragfähigere Basis stellen könnte.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Die ganze Region vollständig in die Luft zu blasen nur damit diese Feinde des Westens so nicht mehr sind und dort gefälligere Strukturen entstehen ist gelinde gesagt abstrus.

Das ist auch nicht mein Vorschlag. Ich rede nur davon, die bisherige Doktrin des oben beschriebenen Verständnisses von Nationbuilding aufzugeben zugunsten einer anderen Vorstellung von Staatlichkeit, die in diesem Kulturraum bessere Perspektiven aufweist als die westliche Utopie. Die dafür in Kauf zu nehmenden Opfer sind immer abzuwägen gegen die Opfer, die ein alternativer Ansatz mit sich bringt. Dementsprechend muss man ggf. kurzfristige Konflikte hinnehmen, um langfristige zu vermeiden, was man aber bisher ja auch schon versucht hat. Ich wähle nur einen anderen Ansatz.

Das aufgezeichnete Szenario der vollständige Isolation war natürlich eine vereinfachte Darstellung und kein konkreter Angriffsplan. Ich möchte ja gerade eben nicht militärisch eingreifen, sondern Impulse in die gewünschte Richtung geben. Die Frage ist nur, ob es überhaupt möglich ist, einen größeren Konflikt zu vermeiden. Denn wenn dieser unvermeidbar wird, sollte man dafür sorgen, dass sein Ergebnis eine Perspektive eröffnet.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Es wäre sinnvoller den Iran nicht mehr fortwährend ständig fertig zu machen und ansonsten sich darauf zu konzentrieren dass Pakistan nicht zerfällt.

Das ist ein realpolitischer Ansatz, der für mich auch durchaus eine Option darstellt, nur befürchte ich, dass dieser eben nicht dauerhaft funktionieren wird und sehe das daher höchstens als Übergangskonzept, nicht als strategische Perspektive.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Zu verhindern das Pakistan abgleitet muss jetzt nach dem Umsturz in Afghanistan oberste Priorität haben. ... Ein Failed State mit Atombomben und Interkontinentalraketen ist inakzeptabel.

Das stimmt alleine schon aufgrund der unmittelbaren Sicherheitsgefahr, die sich aus einem unkontrollierten Zerfall Pakistans für die gesamte Welt ergeben würde. Nur ist das keine Strategie, sondern ein notwendiges Mittel zum Zweck.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Nation Building sollte man daher auch als präventiven Ansatz verstehen und nicht erst dann betreiben wenn ein Staat scheitert. ... Nation Building sollte nicht bedeuten Strukturen zu zerschlagen, zu zerstören damit dann aus dem Chaos sich von selbst etwas neues formt, sondern es sollte primär auf Stabilisierung hin ausgerichtet sein. Wenn alles kaputt ist, dann ist das natürlich wesentlich schwieriger. National Building als Präventive Maßnahme zum Erhalt von Strukturen (so schlecht diese auch sein mögen) macht daher oft mehr Sinn.

Da sind wir wieder bei der Begrifflichkeit: Ich gebe dir recht, solange damit gemeint ist, dass man eine vorhandene Tendenz zur nationalen Einigung unterstützen sollte. Nationalstaaten sind ja nichts falsches, im Gegenteil. Man kann sie halt nur nicht von außen erzwingen.
Und in den Begriff werden teilweise auch Infrastrukturmaßnahmen mit einbezogen, das ist für mich ebenfalls etwas ganz anderes und separat zu bewerten. Solche können natürlich zur Stabilisierung der Sicherheitslage entscheidend beitragen.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Nehmen wir mal den sogenannten Arabischen Frühling und was uns dieser gebracht hat. Wie hat man ihn in der Westpresse und Politik bejubelt, sogar Kriege geführt damit der Arabische Frühling sich ausbreitet und was hat es erzeugt?! Keineswegs entstand aus dem Chaos auch nur irgend etwas sinnvolles. So wäre es auch hier im Indo-Iranischen Raum.

Der Arabische Frühling ist ein Beispiel für den Übergang von einer falschen Strategie des Westens zu einer falschen Strategie des Westens und für die Vielschichtigkeit des Begriffes "der Westen".
Der Westen feiert, dass die von ihm zuvor unterstützen Machthaber durch das Volk gestürzt werden, das sie vorher im Interesse des Westens unter Kontrolle halten sollten.

Im Prinzip markiert der Arabische Frühling das endgültige Scheitern der "ersten Welle" des Nationbuildings, in der starke Diktatoren mit ausländischer Unterstützung versucht haben, von oben nach unten "Nationen" aus ihren geografischen Herrschaftsbereichen zu formen.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Beschließend sollten wir vielleicht mal über erfolgreiche Beispiele von Nation Building sprechen, weil aus diesen eher hervor geht was dafür notwendig ist/wäre.

Gerne. Kennst du welche?
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#6
Broensen:

So zeigt sich schon wo die Unterschied sind und wo es hakt. Ich habe beispielsweise einen weiteren Begriff von Nation Buildung als du und glaube an die theoretische Machbarkeit selbst innerhalb der verengten Definition welche du verwendest.

Zitat:Ich persönlich benutze den Begriff "Nationbuilding" für den vor allem seitens westlicher Regierungen und Organisationen durchgeführten Versuch, einen Nationalstaat nach westlichem Vorbild innerhalb vorhandener Landesgrenzen außerhalb des europäisch-westlich geprägten Kulturraumes im Zusammenhang mit militärischer Präsenz durchzusetzen. Im Prinzip ist es ein Sammelbegriff für alle Bemühungen, die auf dieses Ziel eines solchen Nationalstaates hinwirken, der mMn allerdings eine unerreichbare Utopie darstellt.

Und das wäre (theoretisch) auch innerhalb dieser Definition machbar wenn:

1 Wir die Macht dort direkt selbst ausüben. Es kann nicht funktionieren wenn man einheimischen Eliten das überlässt.

2 Das setzt voraus dass wir eine ausreichende militärische Macht und den Willen dazu haben um dort direkt zu herrschen.

3 Es muss de facto dann unter unserer direkten Herrschaft eine ganze Generation neu heranwachsen, so ein Einsatz ist in unter 20 Jahren nicht machbar.

4 Es muss gar nicht so viel Geld dafür eingesetzt werden, aber es muss sehr viel mehr Blut dafür eingesetzt werden. Geld - Zeit und Blut sind in dieser Rechnung austauschbare Werte. Es darf hier auch keinerlei moralische Einschränkungen geben - was aber nicht im Umkehrschluss bedeutet, dass man nach Belieben Gewalt anwendet, sondern dass alles allein dem Gebot der Notwendigkeit unterliegen darf und nichts anderem.

5 Dazu bedarf es eines de facto rechtsfreien Raumes für diejenigen welche diese Maßnahmen durchführen müssen.

6 Man kann Kulturen von oben her beeinflussen, also gezielt verändern. Das geht in der heutigen Zeit des Internet und der Smartphones noch viel leichter, also muss ein solcher sozialkultureller Einfluss von oben hergestellt werden.

7 Dann muss die Schulbildung durch uns durchgeführt werden.

8 In vormodernen, tribalistischen etc Strukturen müssen diese zerschlagen werden und eine Modernisierung der Gesellschaft durch uns von oben her erfolgen. Das bedeutet, dass wir die traditionellen Eliten wie die traditionellen Machtstrukturen zwingend zum Feind haben werden. Also müssen diese ausgeschaltet werden, statt sie zur Grundlage unserer Präsenz dort zu machen.

9 Wir müssen neue Eliten aus der nächsten Generation aufbauen, dies kann in dem Land selbst nicht geschehen, also müssen diese hierher zu uns geholt und dort vollständig ausgebildet und hochgezogen werden.

10 Es müssen vollständig neue und komplett andere einheimische Sicherheitsstrukturen errichtet werden welche je nach den Umständen des Einzelfalles ganz verschiedene Formen annehmen müssen.

Zitat:Für das Beispiel Afghanistan laufen deine Ausführungen bzgl. des strategischen Luftkriegs ja genau darauf hinaus.

Es gibt in vielen Fällen nur die Wahl zwischen Cholera und dem Schwarzen Tod. Man müsste genau genommen Afghanistan deshalb zerstören damit Pakistan nicht zerstört wird. Ein Taliban Staat, welcher ein Paschtunen-Staat ist, wird auf Dauer meiner Überzeugung nach für Pakistan eine Katastrophe sein. Und ja, dass führt zu neuen anderen Problemen und insbesondere zu weiteren Flüchtlingswellen. Es gibt hier im Endeffekt keine gute Lösung mehr.

In meiner Theorie gilt es daher, dafür zu sorgen, dass andere Motive und Notwendigkeiten diesen Expansionsdrang in Grenzen halten. Wenn, nur als kleines Beispiel, ein Regime aufgrund von effektiv geschlossenen Grenzen keinerlei Chancen auf Kraftstoffimporte hat, außer von einem bestimmten Nachbar-Regime, dann dürfte es ihm schwer fallen, dieses aus reinem Expansionsdrang zu bekämpfen.

Deine Theorie setzt voraus, dass die Beteiligten logisch und rational handeln. Die wahren Gründe für den Expansionsdrang sind aber in Wahrheit oft ideeler Natur, sie sind weder logisch noch rational. Meine Theorie inkludiert also diese Irrationalität, welche meiner Ansicht nach vorherrschend ist. Man kann heute mit Gebietseroberungen usw eigentlich keine Vorteile mehr gewinnen welche die Kosten rechtfertigen würden. Oder anders ausgedrückt: Krieg führen ist heute im Endeffekt ineffizient und unwirtschaftlich geworden. Der Expansionsdrang läuft daher jeder Logik zu wieder welche auf der rationalen Vorteilserwägung / Nachteilvermeidung basiert.

Zitat:Welche Lösung wird langfristig betrachtet in der Summe das geringste Leid verursachen.

Die in welcher Pakistan nicht auseinander fällt.

Zitat:Und da unterscheiden sich einfach unsere Einschätzungen. Ich halte beides nicht für langfristig stabil zu haltende Staaten. Ich gehe davon aus, dass diese in ihrer jetzigen Form das Jahrhundert nicht überstehen werden. Dementsprechend sollte sich eine nachhaltige diesbezügliche Politik nicht an diese Staatsgebilde klammern, sondern Alternativen dazu im Blick behalten.

Auch der Iran wird durch einen Taliban-Staat destabilisiert, dass stimmt schon. Man sehe sich dazu die Lage bei den Belutschen an, was der Sieg der Taliban für die Belutschen bedeutet und man sehe sich den Drogenhandel im Iran an etc. Das Jahrhundert aber ist eine nicht händelbare Größe, die Fernwirkungen jedweder Handlungen sind einfach zu unkalkulierbar als das man so rechnen könnte oder so rechnen dürfte. Wenn man hier das Jahrhundert als Maßstab nimmt wird es auch keine Bundesrepublik mehr geben und da stehen wir vor komplett anderen Problemen. Erst mal die nächsten zwei Dekaden überleben, und die Probleme angehen die vor der Haustür liegen. Es gibt keine Alternative zu einem stabilen Iran und einem stabilen Pakistan.

Dafür muss man erstens dem Iran ermöglichen Luft zu holen und aufhören ihn niederzumachen und ansonsten sich darauf konzentrieren dass sich Pakistan halten kann und dafür muss der Taliban Staat als Staat vernichtet werden.

Zitat:Nationalstaaten sind ja nichts falsches, im Gegenteil. Man kann sie halt nur nicht von außen erzwingen.

Da Nationalstaaten wie Nationalismus etwas künstliches sind, muss ich dir hier widersprechen. Man kann so etwas durchaus von außen erzwingen und dass ist auch mehrfach schon geschichtlich geschehen. Viele Völker die heute in Afrika sich gegenseitig morden sind künstlich von den Kolonialmächten geschaffen worden, und damit meine ich keine afrikanischen Staaten, sondern Stämme innerhalb dieser die sich heute als Völker selbst so verstehen, und die nicht einmal mehr wissen dass sie künstlichen Ursprungs sind.

Zitat:Im Prinzip markiert der Arabische Frühling das endgültige Scheitern der "ersten Welle" des Nationbuildings, in der starke Diktatoren mit ausländischer Unterstützung versucht haben, von oben nach unten "Nationen" aus ihren geografischen Herrschaftsbereichen zu formen.

Da die Endergebnisse uneinheitlich waren würde ich das nicht als endgültiges Scheitern betrachten.

Zitat:Kennst du welche?

Nimm mal Bosnien als besonders lehrreiches Beispiel. Insbesondere da wir dort immer noch die Regierung wesentlich mitbestimmen, durch die Position des Hohen Repräsentanten, welches seit neuestem der CSU Politiker Schmidt inne hat. Diese Position ist immer noch zwingend notwendig, obwohl der Bosnienkrieg nun schon etliche Dekaden her ist.
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#7
(10.09.2021, 11:01)Quintus Fabius schrieb: Und das wäre (theoretisch) auch innerhalb dieser Definition machbar wenn:

Von den 10 Punkten sind, wenn's hoch kommt, 3 umsetzbar. Der Rest ist komplett unrealistisch für jeden westlichen Staat. Dafür müsste schon innerhalb Europas jemand komplett eskalieren und alle anderen gegen sich aufbringen, damit man auch nur ein annähernd so starkes Engagement mobilisieren könnte.

(10.09.2021, 11:01)Quintus Fabius schrieb: Man müsste genau genommen Afghanistan deshalb zerstören damit Pakistan nicht zerstört wird. Ein Taliban Staat, welcher ein Paschtunen-Staat ist, wird auf Dauer meiner Überzeugung nach für Pakistan eine Katastrophe sein. Und ja, dass führt zu neuen anderen Problemen und insbesondere zu weiteren Flüchtlingswellen. Es gibt hier im Endeffekt keine gute Lösung mehr.

Wie würdest du die Konsequenzen einer Eingliederung Afghanistans nach Pakistan bewerten? Oder einer entsprechenden Besatzung.
Das ist schon ein indoiranisch-islamischer Vielvölkerstaat mit einem großen paschtunischen Bevölkerungsanteil, der auch bei einer Vereinigung nicht die Punjabi-Mehrheit gefährden würde.
Kritisch sind natürlich die Interessen Indiens und des Irans, das ist logisch. Aber rein mit Blick auf die innere Stabilität?

(10.09.2021, 11:01)Quintus Fabius schrieb: Deine Theorie setzt voraus, dass die Beteiligten logisch und rational handeln. Die wahren Gründe für den Expansionsdrang sind aber in Wahrheit oft ideeler Natur, sie sind weder logisch noch rational. Meine Theorie inkludiert also diese Irrationalität, welche meiner Ansicht nach vorherrschend ist. Man kann heute mit Gebietseroberungen usw eigentlich keine Vorteile mehr gewinnen welche die Kosten rechtfertigen würden. Oder anders ausgedrückt: Krieg führen ist heute im Endeffekt ineffizient und unwirtschaftlich geworden. Der Expansionsdrang läuft daher jeder Logik zu wieder welche auf der rationalen Vorteilserwägung / Nachteilvermeidung basiert.

Gut, aber auch wenn die Beteiligten aus ideeller Verblendung die Notwendigkeiten ignorieren, bleiben diese doch trotzdem bestehen. Z.B. mal angenommen, die Taliban rennen jetzt zu Fuß (weil kein Sprit) wie die Lemminge gegen den Iran an. (Weil Schia und so.) Wen schert's? Weit werden sie so nicht kommen.

(10.09.2021, 11:01)Quintus Fabius schrieb: Da Nationalstaaten wie Nationalismus etwas künstliches sind, muss ich dir hier widersprechen. Man kann so etwas durchaus von außen erzwingen und dass ist auch mehrfach schon geschichtlich geschehen. Viele Völker die heute in Afrika sich gegenseitig morden sind künstlich von den Kolonialmächten geschaffen worden, und damit meine ich keine afrikanischen Staaten, sondern Stämme innerhalb dieser die sich heute als Völker selbst so verstehen, und die nicht einmal mehr wissen dass sie künstlichen Ursprungs sind.

Naja, das zwangsweise Zusammenführen von Volksgruppen in Unterdrückung würde ich nicht als Nationbuilding von außen beurteilen. Aber natürlich kann sowas unter viel Druck funktionieren, aber ich möchte bezweifeln, dass das überall funktionieren könnte. Und wenn doch, dann erfordert es Methoden, die heutzutage nicht mal mehr die KPCh gut heißen würde.

(10.09.2021, 11:01)Quintus Fabius schrieb: Nimm mal Bosnien als besonders lehrreiches Beispiel. Insbesondere da wir dort immer noch die Regierung wesentlich mitbestimmen, durch die Position des Hohen Repräsentanten, welches seit neuestem der CSU Politiker Schmidt inne hat. Diese Position ist immer noch zwingend notwendig, obwohl der Bosnienkrieg nun schon etliche Dekaden her ist.

Ich weiß nicht, ob das so ein gutes Beispiel ist. Das ist ein befriedeter Staat. Aber eine "Nation" sieht doch anders aus. Aber da sind wir wieder bei Definition und Zielvorstellung.
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#8
Broensen:

Weshalb ich ja ausdrücklich - theoretisch - schrieb. Und dies als Antwort auf deine These, dass es gar nicht geht, völlig unmöglich ist, und niemals funktionieren kann. Immerhin wäre das meiner Einschätzung nach noch eher machbar als deine Idee den ganzen Indo-Iranischen Raum umzugestalten. Ich hoffe aber belegt zu haben, dass Nation Building auch innerhalb deiner verengten Definition durchaus praktisch real machbar wäre, wenn man nur die dafür notwendigen Handlungen durchführen könnte.

Zitat:Wie würdest du die Konsequenzen einer Eingliederung Afghanistans nach Pakistan bewerten? Oder einer entsprechenden Besatzung. Das ist schon ein indoiranisch-islamischer Vielvölkerstaat mit einem großen paschtunischen Bevölkerungsanteil, der auch bei einer Vereinigung nicht die Punjabi-Mehrheit gefährden würde.
Kritisch sind natürlich die Interessen Indiens und des Irans, das ist logisch. Aber rein mit Blick auf die innere Stabilität?

Die ganze Sache dort (Haltung Pakistans zu den Talian, zu Afghanistan im allgemeinen und umgekehrt) ist schizoid um es mal vorsichtig auszudrücken. Die Taliban wie auch eine Mehrheit der Afghanen hassen in Wahrheit Pakistan. Ebenso wird Pakistan von vielen Paschtunen in diesem Land selbst strikt abgelehnt. Wenn Afghanistan nun von Pakistan geschluckt würde, dann würde dass sofort einen Guerillakrieg gegen die Pakistanis bedeuten und es würde das Paschtunenproblem für Pakistan unbeherrschbar machen. Die pakistanische Armee wäre damit überfordert und würde ihre Mittel überdehnen. Innere Stabilität in Afghanistan wäre dadurch nicht herstellbar und zugleich würde sich die innere Stabilität Pakistans vermindern.

Was viele nicht verstehen ist, dass die Taliban keineswegs internationalistische Islamisten sind wie Daesh, sondern dass sie zuvorderst auch afghanische Nationalisten sind.

Zitat:Z.B. mal angenommen, die Taliban rennen jetzt zu Fuß (weil kein Sprit) wie die Lemminge gegen den Iran an. (Weil Schia und so.) Wen schert's? Weit werden sie so nicht kommen.

Der moderne Krieg wird nicht auf diese Weise geführt - da rennt man nicht an, da sickert man ein und wuchert wie ein Krebsgeschwür mit Metastasen. Sieh dir mal die Situation der Belutschen im Iran an und wie das Dreieck: Iran - Belutschen - Afghanistan mit dem Drogenhandel und der Sicherheitslage interagiert.

Zitat:Ich weiß nicht, ob das so ein gutes Beispiel ist. Das ist ein befriedeter Staat. Aber eine "Nation" sieht doch anders aus. Aber da sind wir wieder bei Definition und Zielvorstellung.

Eine Nation in deinem Sinne und innerhalb deiner Definition kann nur über längere Zeiträume aus so einem Gebilde heraus organisch wachsen. Deswegen fängt man ja auch zunehmend an zwischen Nation Buildung und State Building zu unterscheiden und sieht letztgenanntes als Vorbedingung für erstgenanntes. Dessen ungeachtet: in sehr vielen Ländern der Welt gibt es keine Nation im Sinne deiner Definition. Die Nation ist dort die eigene Bevölkerungsgruppe, die anderen Bevölkerungsgruppen in dem Staat gehören nicht dazu. Das hattest du ja selbst schon angerissen. Wenn ich mich recht entsinne ist deine Schlußfolgerung daraus, entsprechend mehr Staaten entlang der Bevölkerungsgruppen zu schaffen und damit die "kolonialen" Grenzen aufzuheben.

In Wahrheit aber wäre das eine Katastrophe: sehr viele der dann neu entstandenen Nationen wären nicht ansatzweise überlebensfähig. Es würden sofort unzählige Kriege zwischen diesen neuen Nationen ausbrechen, es käme zu mehr Völkermord und mehr ethnischen Säuberungen und alles würde sich destabilisieren. Zudem haben viele Nationen gar kein Interesse daran dass andere Ethnien zu eigenen Staaten kommen, ganz im Gegenteil werden die alles dafür tun dass dies nicht geschieht.

Nehmen wir einmal Nord-Mali als Beispiel: dort wollen die Tuareg und einige andere Gruppen einen Staat Azawad und rein ethnisch, kulturell, auch von der Geographie und Geschichte her ist Mali ein Konstrukt in dem zwei Landesteile zu einem Staat zusammen geflanscht wurden, die absolut nicht zueinander passen. Dessen ungeachtet will niemand dort einen Tuareg-Staat von den Anrainern und würde dieser extrem destabilisierend auf die Sicherheitslage in allen Nachbarländern wirken. Weshalb man einen Tuaregstaat dort mit allen Mitteln verhindern will und verhindern wird. Oder nimm die Kurden und ihr Bestreben nach einem eigenen Staat und wie dies sofort weitere Mächte aufruft das zu verhindern.

Du überschätzt meiner Einschätzung nach einerseits die Möglichkeiten des Westens hier drastisch und unterschätzt noch extremer die Fernwirkungen einer solchen Neuziehung von Grenzen. Das erzeugt nicht mehr Frieden, sondern mehr Krieg. Es hat oft schon Gründe warum man die Grenzen genau so gezogen hat und bestimmte Ethnien dadurch bevorteiligt wurden. Dadurch haben diese ein hohes rationales Interesse daran ihre Vorteile zu erhalten, welche ihnen verloren gingen wenn die anderen benachteiligten Ethnien eigene Staaten hätten. Du tauschst also interne Instabilität in zwischenstaatliche Kriege um. Nur dass diese dann noch größere Instabilität über ihr unmittelbares Umfeld hinaus erzeugen würden.

Ganz allgemein gibt es für viele Weltgegenden überhaupt gar keine Lösung. Die Menschen dort sind dazu verdammt noch für lange Zeit in permanenter Instabilität und Gewalt vor sich hin zu vegetieren ohne dass sich die Situation vor Ort überhaupt irgendwie verbessern lässt. In vielen Fällen wird man einfach nur zusehen können wie sie sich alle gegenseitig immer weiter umbringen. Es ist aber auch gar nicht unsere Verantwortung und es ist eben diese sich auf die ganze Welt erstreckende aktuelle deutsche Hybris welche ich so entschieden ablehne. Der Größenwahn der Gutmenschen in dieser Bundesrepublik kennt aktuell keine Grenzen mehr, die Selbstüberschätzung in Bezug auf diese Problemstellung ist unfassbar. Die realen Möglichkeiten in diesem Bereich sind aber in sehr vielen Fällen wesentlich geringer als es die naiven Narren hierzulande glauben.
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#9
(12.09.2021, 09:14)Quintus Fabius schrieb: Ich hoffe aber belegt zu haben, dass Nation Building auch innerhalb deiner verengten Definition durchaus praktisch real machbar wäre, wenn man nur die dafür notwendigen Handlungen durchführen könnte.

praktisch real machbar, wenn man nur könnte. Zumindest sind wir uns einig, dass es unter den gegebenen Umständen nicht passieren kann.

(12.09.2021, 09:14)Quintus Fabius schrieb: Eine Nation in deinem Sinne und innerhalb deiner Definition kann nur über längere Zeiträume aus so einem Gebilde heraus organisch wachsen. Deswegen fängt man ja auch zunehmend an zwischen Nation Buildung und State Building zu unterscheiden und sieht letztgenanntes als Vorbedingung für erstgenanntes.

Genau darauf will ich hinaus, ja. Wobei ich Nation Building auch nach erfolgreichem State Building nicht als von außen umsetzbar ansehe. Es kann allerdings die Nationsfindung von innen heraus stark begünstigen, so wie das aber auch eine brutale Fremdherrschaft könnte. So oder so kann der bisherige westliche Ansatz nicht funktionieren.

(12.09.2021, 09:14)Quintus Fabius schrieb: Dessen ungeachtet: in sehr vielen Ländern der Welt gibt es keine Nation im Sinne deiner Definition. Die Nation ist dort die eigene Bevölkerungsgruppe, die anderen Bevölkerungsgruppen in dem Staat gehören nicht dazu. Das hattest du ja selbst schon angerissen. Wenn ich mich recht entsinne ist deine Schlußfolgerung daraus, entsprechend mehr Staaten entlang der Bevölkerungsgruppen zu schaffen und damit die "kolonialen" Grenzen aufzuheben.
In Wahrheit aber wäre das eine Katastrophe: sehr viele der dann neu entstandenen Nationen wären nicht ansatzweise überlebensfähig. Es würden sofort unzählige Kriege zwischen diesen neuen Nationen ausbrechen, es käme zu mehr Völkermord und mehr ethnischen Säuberungen und alles würde sich destabilisieren. Zudem haben viele Nationen gar kein Interesse daran dass andere Ethnien zu eigenen Staaten kommen, ganz im Gegenteil werden die alles dafür tun dass dies nicht geschieht.

Nicht ganz. Es geht nicht um kleinere Nationalstaaten, sondern um größere Föderationen kleinerer Autonomien. Ich bin dafür, in den Teilen der Welt, in denen es keine funktionierenden Nationalstaaten gibt, das Prinzip des Nationalstaates vollständig aufzugeben und durch ein anderes, stark föderales System zu ersetzen. Hierzu bilden die ethnolinguistischen Gruppen Autonomiegebiete, während oberhalb dieser Ebene dann kein Nationalstaat sondern eine deutlich größere Union autonomer Gebilde steht. Dabei können diese Autonomien auch teilweise nicht klar definierte Grenzen untereinander haben und es kann auch Autonomien geben, die ethnolinguistisch explizit gemischt sind, dort wo das funktioniert oder sich schlicht nicht vermeiden lässt, wie z.B. in Großstädten. Demokratie bestünde in diesem Gebilde nur sehr indirekt dadurch, dass die Herrscher der Autonomien untereinander die Regierung der Union ausmachen. Wie diese Autonomien sich intern organisieren, bleibt ihnen selbst überlassen, wobei die Union eine Kontrollfunktion hat, die aber insbesondere Konflikte zwischen den Autonomien unterbinden und den Schutz der verbleibenden Minderheiten sicherstellen muss.
Natürlich führt das nicht automatisch zu Frieden, die Konflikte würden bleiben. Aber es hätte mMn bessere Chancen, diese zu begrenzen, weil es die Probleme willkürlicher Grenzziehungen und der sich daraus ergebenden zusätzlichen Machtebene aus dem Spiel nimmt. Auf bspw. Afrika bezogen hieße es ja (extrem vereinfacht dargestellt), dass man die vielen regionalen defacto-Herrschaften legitimiert und direkt der AU unterstellt, der dann wiederum die Mittel der bisherigen Nationalstaaten zur Verfügung stehen, um die Sicherheit dieser Autonomien voreinander und vor äußeren Bedrohungen zu gewährleisten.

Als positiv-Beispiel nehm' ich dann jetzt mal Jugoslawien. Das hat als Vielvölker-Staat nicht mehr funktioniert. Nach dem großen Knall haben sich hier jetzt mehrere unabhängige Staaten gebildet, die in sich funktionieren, aber eine gemeinsame Mitgliedschaft in der EU anstreben. Hier hat der Nationalstaat nicht funktioniert, obwohl die historischen wie auch ethnolinguistischen Gemeinsamkeiten vergleichsweise groß waren. An seine Stelle treten nun kleinere homogenere Einheiten, die sich in einem noch größeren, heterogeneren Rahmen zusammenschließen. Und darum geht es in meiner Theorie.

(12.09.2021, 09:14)Quintus Fabius schrieb: Nehmen wir einmal Nord-Mali als Beispiel: dort wollen die Tuareg und einige andere Gruppen einen Staat Azawad und rein ethnisch, kulturell, auch von der Geographie und Geschichte her ist Mali ein Konstrukt in dem zwei Landesteile zu einem Staat zusammen geflanscht wurden, die absolut nicht zueinander passen. Dessen ungeachtet will niemand dort einen Tuareg-Staat von den Anrainern und würde dieser extrem destabilisierend auf die Sicherheitslage in allen Nachbarländern wirken. Weshalb man einen Tuaregstaat dort mit allen Mitteln verhindern will und verhindern wird. Oder nimm die Kurden und ihr Bestreben nach einem eigenen Staat und wie dies sofort weitere Mächte aufruft das zu verhindern.

Ein "Touareg-Staat" wäre auch nicht Teil meines Ansatzes.
Der gesamte Streifen des südlichen Sahara-Randes bis nach Ostafrika stellt natürlich eine besondere Herausforderung dar, dadurch dass hier nicht nur der Übergang zwischen semitischen und schwarzafrikanischen Ethnien, sondern zudem noch der von islamischen zu anderen Religionen zu berücksichtigen sind. In meiner zuvor beschriebenen Theorie müsste hier ein Grenzziehung zwischen dem schwarzafrikanischen Süden und dem arabisch-berberischen Norden stattfinden, in dem die Bevölkerung der Sahara idealerweise Teil einer nordafrikanischen Union wäre. Da die Berberstämme sich geografisch in vielen Gegenden nicht von den arabischen Gebieten abgrenzen lassen, müssen diese zwangsläufig in einer Gemeinschaft leben. Gegenüber Schwarzafrika scheint eine Abgrenzung da realistischer, so schwierig sie in der Realität auch sein mag. Die Problematik der islamistischen Radikalisierung kann man eh nicht durch Grenzziehung lösen. Allerdings wird diese auch ja häufig gerade dadurch vorangetrieben, dass einzelne Bevölkerungsgruppen innerhalb eines künstlichen Staatsgebildes keine ausreichende Autonomie besitzen.

(12.09.2021, 09:14)Quintus Fabius schrieb: Du überschätzt meiner Einschätzung nach einerseits die Möglichkeiten des Westens hier drastisch und unterschätzt noch extremer die Fernwirkungen einer solchen Neuziehung von Grenzen. Das erzeugt nicht mehr Frieden, sondern mehr Krieg. ... Ganz allgemein gibt es für viele Weltgegenden überhaupt gar keine Lösung. Die Menschen dort sind dazu verdammt noch für lange Zeit in permanenter Instabilität und Gewalt vor sich hin zu vegetieren ohne dass sich die Situation vor Ort überhaupt irgendwie verbessern lässt. In vielen Fällen wird man einfach nur zusehen können wie sie sich alle gegenseitig immer weiter umbringen. Es ist aber auch gar nicht unsere Verantwortung und es ist eben diese sich auf die ganze Welt erstreckende aktuelle deutsche Hybris welche ich so entschieden ablehne. Der Größenwahn der Gutmenschen in dieser Bundesrepublik kennt aktuell keine Grenzen mehr, die Selbstüberschätzung in Bezug auf diese Problemstellung ist unfassbar. Die realen Möglichkeiten in diesem Bereich sind aber in sehr vielen Fällen wesentlich geringer als es die naiven Narren hierzulande glauben.

Der Westen hat ein eigenes Interesse an einer möglichst stabilen Weltordnung und durchaus eine kolonialzeitlich bedingte Verantwortung, denn schließlich gibt es kaum eine Grenze in den instabilen Regionen der Welt, die nicht in irgendeiner Form auf kolonialzeitliche Entwicklungen zurückgeht.
Und er hat viele Möglichkeiten zur Einflussnahme, nicht nur aber auch militärisch. Natürlich kann er nicht mehr wie in Kolonialzeiten einfach der Welt ihr System vorgeben. Und er kann auch nicht die Konflikte anderer Völker untereinander lösen. Aber er könnte sich zumindest mal eine nachhaltig tragfähige Strategie geben, welche Systeme und Lösungen er im eigenen Interesse unterstützt. Diese Strategie ist mit dem Ende des Kalten Krieges verloren gegangen.
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#10
(12.09.2021, 11:45)Broensen schrieb: Der Westen hat ein eigenes Interesse an einer möglichst stabilen Weltordnung und durchaus eine kolonialzeitlich bedingte Verantwortung, denn schließlich gibt es kaum eine Grenze in den instabilen Regionen der Welt, die nicht in irgendeiner Form auf kolonialzeitliche Entwicklungen zurückgeht.
Und er hat viele Möglichkeiten zur Einflussnahme, nicht nur aber auch militärisch. Natürlich kann er nicht mehr wie in Kolonialzeiten einfach der Welt ihr System vorgeben. Und er kann auch nicht die Konflikte anderer Völker untereinander lösen. Aber er könnte sich zumindest mal eine nachhaltig tragfähige Strategie geben, welche Systeme und Lösungen er im eigenen Interesse unterstützt. Diese Strategie ist mit dem Ende des Kalten Krieges verloren gegangen.

Man könnte auch mal darüber nachdenken ob es sinnvoll ist Fehler in der Vergangenheit mit Fehlern in der Gegenwart wieder gut machen zu wollen. Das würde vermutlich aber erst einmal voraussetzen dass die Selbstbeschuldigung in den westlichen Staaten aufhört.
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#11
lime:

Wollte im Prinzip das gleiche schreiben, aber ich kriege das nie so prägnant und kurz hin wie du. Man könnte es meiner Meinung nach nicht besser ausdrücken. Würdest du tatsächlichen Neo-Kolonialismus, also die Übernahme der direkten Herrschaft über bestimmte Gebiete durch die EU bzw. Europäische Staaten auch als Fehler betrachten, und wenn ja, warum?

Broensen:

Zitat:Zumindest sind wir uns einig, dass es unter den gegebenen Umständen nicht passieren kann.

Unter den gegebenen Umständen würden wir jeden Konflikt mit Russland verlieren, würden wir ein weiteres 2015 eben nicht verhindern können, werden wir in Mali scheitern, sind wir nicht einmal in der Lage die Innere Sicherheit in dieser Bundesrepublik weiter zu gewährleisten wenn der soziale Friede den man zur Zeit noch Krediten erkauft nicht mehr bezahlt werden kann usw usf. Über die Frage was praktisch real möglich ist brauchen wir nicht diskutieren, dass wäre eine äußerst kurze Debatte. Wir wären ja nicht mal in der Lage gegen drittklassige Zwergnationen in einem Krieg zu bestehen, wie sollten wir da in der Lage sein Nationbuilding zu betreiben, als die de facto anspruchsvollste politisch/militärische Kunst die man sich denken kann?!

Zitat:Es geht nicht um kleinere Nationalstaaten, sondern um größere Föderationen kleinerer Autonomien. Ich bin dafür, in den Teilen der Welt, in denen es keine funktionierenden Nationalstaaten gibt, das Prinzip des Nationalstaates vollständig aufzugeben und durch ein anderes, stark föderales System zu ersetzen. Hierzu bilden die ethnolinguistischen Gruppen Autonomiegebiete, während oberhalb dieser Ebene dann kein Nationalstaat sondern eine deutlich größere Union autonomer Gebilde steht.

Da meiner Einschätzung nach die vor Ort vorhandenen Machtgruppen im größten Teil der Welt grundsätzlich gegen jede solche Struktur sein werden, und sie aktiv bekämpfen würden, kann sie meiner Meinung nach nicht installiert werden, es sei denn durch einen Gros der von mir unter meinen 10 Punkten beschriebenen Voraussetzungen, beispielsweise indem wir dort die tatsächliche Macht vorübergehend selbst ausüben. Dein Plan setzt meiner Meinung nach genau solche Maßnahmen voraus, welche du unter meinen 10 Punkten als unrealistisch und praktisch nicht umsetzbar gewertet hast.

Zitat:Als positiv-Beispiel nehm' ich dann jetzt mal Jugoslawien. Das hat als Vielvölker-Staat nicht mehr funktioniert. Nach dem großen Knall haben sich hier jetzt mehrere unabhängige Staaten gebildet, die in sich funktionieren, aber eine gemeinsame Mitgliedschaft in der EU anstreben. Hier hat der Nationalstaat nicht funktioniert, obwohl die historischen wie auch ethnolinguistischen Gemeinsamkeiten vergleichsweise groß waren. An seine Stelle treten nun kleinere homogenere Einheiten, die sich in einem noch größeren, heterogeneren Rahmen zusammenschließen. Und darum geht es in meiner Theorie.

Zum einen sind es Welten zwischen Ex-Jugoslawien und den Zuständen in Afrika oder Zentralasien. Zum anderen setzt deine Theorie das Vorhandensein einer übergeordneten Institution voraus die nicht vollständig von Korruption, Nepotismus, Kleptokratie und Unrechtsherrschaft dominiert wird. Es gibt weder in Afrika noch in Zentralasien ansatzweise eine Übergeordnete Ebene wie die EU deren immenser von Deutschland finanzierter Wohlstand und deren vergleichsweise positives Wesen ein immens hoher Anreiz sind sich diesem Staatenbund anzuschließen.

Kleine homogenere Einheiten in Afrika in einer Föderation führen nur dazu, dass diese Föderation funktionsunfähig wird (schon die EU hat damit ihre Probleme), und dass die ganzen kleineren homogenen Einheiten noch mehr in Konflikte und Kriege untereinander geraten. Die einzige Möglichkeit wäre ein echter Neo-Kolonialismus in welchem sich diese kleineren homogeneren Gebiete de facto unter unsere Herrschaft stellen, aber auch das wird nicht gehen, vor allem weil es von uns nicht gewollt werden würde. Noch darüber hinaus würde die Bürde welche wir hier zu tragen hätten immense Kosten verursachen ohne uns etwas einzubringen.

Der größere heterogene Rahmen funktioniert dort nicht mit Einheimischen, er müsste also durch uns zur Verfügung gestellt werden. Das läuft im Prinzip auf astreinen Neokolonialismus hinaus. Bewusst habe ich jetzt geschrieben, dass wir vor allem damit ein Problem hätten, die Völker dort hätten das so gar nicht. Tatsächlich lehnen primär die korrupten kleptokratischen Eliten in diesen Ländern einen Kolonialismus ab. Die einfache Bevölkerung würde einer europäischen Herrschaft in weiten Teilen sogar positiv gegenüber stehen, dass habe ich immer wieder in direkten Gesprächen ausmachen können. Deshalb gibt es auch in Wahrheit so viele Flüchtlinge in Richtung EU, das Hauptmotiv ist dabei oft gar nicht das Geld, sondern dass man davon ausgeht, dass die eigenen Länder Shithole Countries sind und man die Korruption und Kleptokratie darin leid ist und man in einem geordneten Rechtsstaat leben will in dem die Missstände der Heimat so nicht sind. Man will die Sicherheit, die Ordnung, die Menschenrechte, man bewundert Europa und will hier leben weil man davon ausgeht, dass Europa das am höchsten entwickelte Gebiet der Erde, und das es das beste ist was die Menschheit hervor gebracht hat. Man will sich und seine Familie regelrecht hierher retten um Teil von UNS zu werden, wird dann aber abgestoßen, ausgestoßen, im Ankerzentrum interniert und vernachlässigt. Ein völliger Irrsinn wenn man überlegt was eigentlich mal die Hauptidee der meisten illegalen Einwanderer war, warum sie also überhaupt hierher gekommen sind.

Und das führt zu einer interessanten Fragestellung in Bezug auf das Nationbuilding: der Brain-Drain (wie es so schön Neu-Deutsch heißt) aus Dritte Welt Ländern in Richtung Europa stellt ein Problem für das Nation Building dar. Die Leute welche tatsächlich ihre Länder voran bringen wollen würden, welche tatsächlich die Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Nation Building wären, genau diejenigen welche man vor Ort für das Nation Building bräuchte fliehen in viel zu großer Zahl hierher nach Europa um hier zu leben. Das ist ein Problem aber auch eine Chance. Wir könnten sie hierzulande ausbilden, qualifizieren und ihnen Hilfen in die Heimat mitgeben - unter der Voraussetzung dass sie dann auch dorthin zurück kehren um dort ihre Heimat in die richtige Richtung weiter zu entwicklen.

Diese Idee habe ich schon oft Flüchtlingen vorgetragen, und die Antwort war immer: alles schön und gut, wir wären sofort dabei und würden heimkehren, wenn daheim irgendeine auch nur halbwegs anständige Regierung wäre. So aber wäre es ja sinnlos. Die Frage in Bezug auf erfolgreiches Nation-Building ist also vor allem anderen:

Wie kann man vor Ort eine halbwegs anständige Regierung aufbauen?

Der Grund warum Afghanistan gescheitert ist, ist vor allem auch in diesem einen Satz zu suchen. Warum hätte irgendein Afghanen für diesen Drecksversagerstaat kämpfen sollen? Für diese Diebe, Betrüger, Lügner, und korrupten Schwerkriminellen welche man den Afghanen wie zum Hohn vom Westen noch mit der Behauptung aufs Auge gedrückt hat, dass wäre Demokratie und Freiheit.

Es kann aber vor Ort keine anständige Regierung geben, wenn wir diese nicht tatsächlich selbst uneingeschränkt aufbauen. Um das überhaupt tun zu können dürfen die bisherigen Machteliten dieser Länder an diesem Aufbauprozess nicht beteiligt sein und schon fängt der Widerstand gegen uns dort an. Der aber überwindbar ist. Nicht nur theoretisch, auch praktisch wäre das möglich. Es handelt sich hier um den einzigen gangbaren Weg, völlig gleich wohin, auch wenn man deine Föderation homogenerer Gebiete anstrebt, die Grundvoraussetzung ist vor allem anderen, dass wir selbst zunächst mal die Herrschaft dort ausüben. Nur so kann man selbst ausreichend Macht ausüben um das zu tun was notwendig ist.

Verbleibt die Frage was all diese Mühe uns dann überhaupt bringen soll. Eine Kosten-Nutzen Rechnung wird hier selbst mittelfristig immer negativ aussehen. Man muss daher solche Anstrengungen auf wenige ausgewählte und ganz bestimmte Gebiete beschränken. Wenn man damit dort einmal erfolgreich ist, würde dieses erfolgreiche Beispiel aber dann Schule machen und die Bereitschaft sich vorübergehend unserer Herrschaft zu beugen erheblich erhöhen. Entsprechend massiv wäre der Widerstand der bisherigen Eliten anderer Länder welche sich dann alle zusammen tun würden um genau dies zu verhindern.

Daher muss man immer davon ausgehen, dass Anrainer Staaten ganz grundsätzlich absolut jeden Versuch von uns Nation-Building zu betreiben aktiv sabotieren werden, wie dies auch schon geschehen ist und auch in Zukunft weiter geschehen wird. Diese Dialektik haben viele die Nation Building betreiben wollen auch nicht auf dem Schirm: das Dritte sich durch erfolgreiches Nation Building zwingend in ihren eigenen Interessen bedroht fühlen und daher uns immer aktiv sabotieren werden.
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#12
(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: lime:

Wollte im Prinzip das gleiche schreiben, aber ich kriege das nie so prägnant und kurz hin wie du. Man könnte es meiner Meinung nach nicht besser ausdrücken. Würdest du tatsächlichen Neo-Kolonialismus, also die Übernahme der direkten Herrschaft über bestimmte Gebiete durch die EU bzw. Europäische Staaten auch als Fehler betrachten, und wenn ja, warum?

Das was Du als Neo-Kolonialismus beschreibst ist nicht das Gleiche was heutzutage unter diesem Begriff verstanden wird. Ich gehe also mal davon aus dass Du eine Neuauflage der damaligen Kolonisierung meinst. Bei der Betrachtung müsste man außen vor lassen dass dies mit der heutigen EU aus verschiedensten Gründen nicht möglich wäre. Weiterhin stellt sich die Frage welches Ziel diese hätte, also ob man westliche Strukturen schaffen will oder diese einfach nur zur Ressourcensicherung betreibt. Ersteres wäre meines Erachtens ein absolut aussichtsloses Unterfangen, selbst wenn man dies mit höchster Intensität und über lange Jahre betreiben würde. Die daraus entstehenden Gegenbewegungen wären einfach irgendwann zu stark, gerade weil unsere Welt auch immer multipolarer wird. Und in Sachen Ressourcen, zum Beispiel Uran-Minen, etc. wäre ein Vergleich mit der aktuellen Situation angebracht. Es gibt ja gegenwärtig keinerlei Probleme diese Rohstoffe abzubauen und nach Europa zu exportieren, also würde man durch eine Kolonialisierung nichts gewinnen, sondern nur Ressourcen verschwenden und auf diplomatischer Ebene möglicherweise große Probleme bekommen. Sollte sich dies ändern dann müsste man die Lage natürlich neu bewerten.
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#13
(12.09.2021, 12:14)lime schrieb: Man könnte auch mal darüber nachdenken ob es sinnvoll ist Fehler in der Vergangenheit mit Fehlern in der Gegenwart wieder gut machen zu wollen. Das würde vermutlich aber erst einmal voraussetzen dass die Selbstbeschuldigung in den westlichen Staaten aufhört.

Als Fehler der Kolonialzeit bewerte ich hier in erster Linie die Dekolonialisierung, bei der nicht nachhaltig funktionsfähige Staaten alleine gelassen wurden. Und das ist nicht das, was in Europa zur Selbstbeschuldigung führt. Hier kritisiert man die Kolonialisierung, ich kritisiere deren Ende.

Zum Neokolonialismus stellt sich wirklich die Frage, was man darunter versteht. Das im mittleren Osten betriebene Nation-/State Building kann genauso als solche bezeichnet werden, wie wirtschaftliche Unternehmungen, die Missstände vor Ort ausnutzen oder die diplomatische Beeinflussung der Regierungen von ehem. Kolonien.

Ich interpretiere Quintus jetzt mal so, dass es ihm darum geht, den Zustand der Kolonialzeit wieder herzustellen, indem westliche Institutionen mit Gewalt oder List die Herrschaft übernehmen und selbst ausüben, also sämtliche entscheidenden Positionen im Regierungs- und Verwaltungsapparat mit eigenen Leuten besetzen. Tatsächlich würde ich das auch als den erfolgversprechenderen Ansatz des State Building ansehen als das, was wir die letzten Jahrzehnte so gemacht haben. Und vermutlich wäre es sogar einfacher gewesen, z.B. in Afg eine funktionierende Militärregierung aufzubauen und zu unterhalten, als die ganze Ausbildungs- und Unterstützungsmission zu betreiben. Brenzlich wird es an dem Punkt, an dem man diese Fremdherrschaft aufgibt. Daher müssen mMn State Building und Demokratisierung nacheinander erfolgen. Erst wenn funktionierende, in sich gefestigte Strukturen bestehen, kann man über Demokratie und Selbstbestimmung nachdenken. So gesehen wäre Neo-Kolonialismus die bessere Lösung als Nation-Building, bzw. dessen erfolgversprechendste Variante.

An dieser Stelle möchte ich auch mal kurz ansprechen, dass ich kein Verständnis dafür habe, wenn frisch besiegte Staaten sofort wieder eigene Streitkräfte erhalten, die hinterher besser ausgebildet und -gerüstet sind als vorher. Ich denke die Zurückhaltung bei der Wiederbewaffnung Deutschlands nach dem Krieg wäre bei Gesellschaften mit voraufklärerischem Entwicklungsgrad mindestens erforderlich. Eigentlich dürften hier mMn einheimisch ausschließlich Polizeikräfte bestehen. Den Schutz nach außen muss die Besatzungsmacht übernehmen.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Unter den gegebenen Umständen würden wir ... ein weiteres 2015 eben nicht verhindern können

Off-Topic: Ich halte dieses "2015 verhindern", so wie es in der Debatte in Deutschland verwendet wird, für ein ganz bescheuertes populistisches Konzept. Der Begriff müsste eigentlich für die fluchtbedingte, unkontrollierte Massenzuwanderung in die EU mit all ihren Aspekten stehen, wird aber in der öffentlichen Diskussion immer populistisch darauf beschränkt, wie viele Flüchtlinge bei uns ankommen. Die Fehler von "2015" sind aber ganz anderer Natur und basieren auf der Polarisierung der Zuwanderungspolitik in Europa. Die Einen wollen Zuwanderung mit harter Ordnungs- und Sicherheitspolitik verhindern, die Anderen wollen sie maximalliberal-humanistisch ermöglichen. Der Fehler liegt aber genau in dieser Paarung der Ansätze. Zuwanderung lässt sich nicht vermeiden, sie nachhaltig ermöglichen kann man jedoch am besten durch eine sehr harte Ordnungspolitik. Aber in unserer Gesellschaft wollen die Verfechter des Einen das Andere nicht. Also gönnen wir uns mal wieder das schlechteste beider Seiten.
Ich will jetzt keine Flüchtlings- und Integrationsdebatte anfangen, aber mich triggert der Begriff "2015 verhindern" inzwischen einfach enorm. Womit ich explizit nicht dich meine, Quintus, sondern eher die politisch-mediale Kommunikation.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Über die Frage was praktisch real möglich ist brauchen wir nicht diskutieren, dass wäre eine äußerst kurze Debatte. Wir wären ja nicht mal in der Lage gegen drittklassige Zwergnationen in einem Krieg zu bestehen, wie sollten wir da in der Lage sein Nationbuilding zu betreiben, als die de facto anspruchsvollste politisch/militärische Kunst die man sich denken kann?!

Naja, wenn man "den Westen" als ganzes betrachtet und Afg als Beispiel nimmt, dann hätte man dort durchaus durch eine andere Weichenstellung ein anderes Ergebnis mit ähnlich großem Mitteleinsatz erlangen können. Ein Verzicht auf die demokratische Perspektive zugunsten einer auf Dauer angelegten direkten Militärverwaltung in den ISAF-Zonen wäre durchaus auch real möglich gewesen. Damit sich das für die Besatzer auch lohnt und perspektivisch funktionieren kann, hätte z.B. Bagram dann sowas wie ein zweites Rammstein werden müssen als zentralasiatische strategische Basis mit Blick auf China und den Iran.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Da meiner Einschätzung nach die vor Ort vorhandenen Machtgruppen im größten Teil der Welt grundsätzlich gegen jede solche Struktur sein werden, und sie aktiv bekämpfen würden, kann sie meiner Meinung nach nicht installiert werden, es sei denn durch einen Gros der von mir unter meinen 10 Punkten beschriebenen Voraussetzungen, beispielsweise indem wir dort die tatsächliche Macht vorübergehend selbst ausüben.

Existierende Macht ist das zentrale Problem, das stimmt. Allerdings werden seit jeher lokale Machtgruppen von außen beeinflusst und im Extremfall dann auch tlw. ausgeschaltet.
Mir geht es ja auch nicht um die konkrete Lösung des individuellen Problems einer Region, sondern um einen Rahmen, der die Lösung dieser Einzelprobleme besser ermöglicht, als dies die Nationalstaaten leisten können. Eine große Föderation hat z.B. einfach mehr Mittel zur Verfügung und gleichzeitig weniger Eigeninteresse über die innere Stabilität hinaus.
Theoretisch könnte so eine Föderation innerhalb einiger ihrer Teile gerade eben fremdverwaltend agieren, wie du es als Lösung beschreibst.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Zum einen sind es Welten zwischen Ex-Jugoslawien und den Zuständen in Afrika oder Zentralasien. Zum anderen setzt deine Theorie das Vorhandensein einer übergeordneten Institution voraus die nicht vollständig von Korruption, Nepotismus, Kleptokratie und Unrechtsherrschaft dominiert wird. Es gibt weder in Afrika noch in Zentralasien ansatzweise eine Übergeordnete Ebene wie die EU

Jeden Vergleich in so einer Diskussion kann man immer aushebeln. Es gibt immer Aspekte, warum etwas in dem einen Fall so funktioniert und in dem anderen eben nicht.
Die AU hat bei weitem nicht die Dimension der EU, natürlich nicht. Und auf Afrika übertragen wäre auch eher eine Mischung aus EU und UdSSR anzudenken. Denn das kann natürlich nicht funktionieren, wenn jeder Warlord die Möglichkeit hat, einfach auszuscheiden, sondern nur dadurch, dass die gemeinsame Macht aller Beteiligten einzelne daran hindert, gegen das Wohl aller zu handeln. Daher muss hier zuerst ein Zwang ausgeübt werden, sich diesem System anzuschließen. Die Frage wäre jetzt, wie man es durch äußeren Druck schafft, dass sich möglichst viele lokale Kräfte einer größeren Gemeinschaft anschließen, so dass diese stark genug wird, um die verbleibenden Einzelkräfte in die Gemeinschaft zwingen zu können.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Die einzige Möglichkeit wäre ein echter Neo-Kolonialismus in welchem sich diese kleineren homogeneren Gebiete de facto unter unsere Herrschaft stellen... Der größere heterogene Rahmen funktioniert dort nicht mit Einheimischen, er müsste also durch uns zur Verfügung gestellt werden. Das läuft im Prinzip auf astreinen Neokolonialismus hinaus.

Und da wäre dann der Ansatzpunkt, in dem man diese Konzepte mMn kombinieren müsste, dadurch dass man die übergeordnete Struktur beeinflusst, unterstützt und nutzt, um diese neokolonialistische Besatzung durchzuführen. Der Neokolonialismus wäre dann in diesem Konstrukt ein erforderlicher Zwischenzustand, der im Prinzip die Fehler der verfrühten Demokratisierung im Rahmen der falsch betriebenen Dekolonialisierung revidiert. Der entscheidende Unterschied gegenüber dem gescheiterten ersten Versuch wäre dann, dass die Bevölkerung die Chance bekommen würde, selbst Nationen oder etwas ähnliches zu entwickeln, anstelle dass ihnen diese zwangsweise vorgegeben werden.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Bewusst habe ich jetzt geschrieben, dass wir vor allem damit ein Problem hätten, die Völker dort hätten das so gar nicht. Tatsächlich lehnen primär die korrupten kleptokratischen Eliten in diesen Ländern einen Kolonialismus ab. Die einfache Bevölkerung würde einer europäischen Herrschaft in weiten Teilen sogar positiv gegenüber stehen, dass habe ich immer wieder in direkten Gesprächen ausmachen können.

Das sehe ich nicht anders, weswegen ich ja auch explizit ein Verfechter europäischer Hinterhofpolitik bin und auch Neo-Kolonialismus nicht grundsätzlich negativ beurteile. Wichtig ist für mich nur, dass solch eine Politik nachhaltig betrieben wird und nicht rein einseitige Ziele verfolgt.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Und das führt zu einer interessanten Fragestellung in Bezug auf das Nationbuilding: der Brain-Drain (wie es so schön Neu-Deutsch heißt) aus Dritte Welt Ländern in Richtung Europa stellt ein Problem für das Nation Building dar. Die Leute welche tatsächlich ihre Länder voran bringen wollen würden, welche tatsächlich die Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Nation Building wären, genau diejenigen welche man vor Ort für das Nation Building bräuchte fliehen in viel zu großer Zahl hierher nach Europa um hier zu leben. Das ist ein Problem aber auch eine Chance. Wir könnten sie hierzulande ausbilden, qualifizieren und ihnen Hilfen in die Heimat mitgeben - unter der Voraussetzung dass sie dann auch dorthin zurück kehren um dort ihre Heimat in die richtige Richtung weiter zu entwicklen.

Auch wenn ich dort überall von State und nicht von Nation Building sprechen würde, ja: Das ist eine Form von nachhaltigem State Building, das sich besonders gut im Rahmen eines kolonialistischen Systems umsetzen lässt. Einheimische, die aufgrund ihrer Überzeugung in die EU gehen, dort ausgebildet werden und dann in ihrer Heimat die Gesellschaft aufbauen, sind um ein vielfaches nachhaltiger als gekaufte lokale Eliten.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Der Grund warum Afghanistan gescheitert ist, ist vor allem auch in diesem einen Satz zu suchen. Warum hätte irgendein Afghanen für diesen Drecksversagerstaat kämpfen sollen? Für diese Diebe, Betrüger, Lügner, und korrupten Schwerkriminellen welche man den Afghanen wie zum Hohn vom Westen noch mit der Behauptung aufs Auge gedrückt hat, dass wäre Demokratie und Freiheit.

Es kann aber vor Ort keine anständige Regierung geben, wenn wir diese nicht tatsächlich selbst uneingeschränkt aufbauen. Um das überhaupt tun zu können dürfen die bisherigen Machteliten dieser Länder an diesem Aufbauprozess nicht beteiligt sein und schon fängt der Widerstand gegen uns dort an. Der aber überwindbar ist. Nicht nur theoretisch, auch praktisch wäre das möglich. Es handelt sich hier um den einzigen gangbaren Weg, völlig gleich wohin, auch wenn man deine Föderation homogenerer Gebiete anstrebt, die Grundvoraussetzung ist vor allem anderen, dass wir selbst zunächst mal die Herrschaft dort ausüben. Nur so kann man selbst ausreichend Macht ausüben um das zu tun was notwendig ist.

Ich gebe dir Recht, wobei ich in diesem Zusammenhang "Machteliten" nicht gleichgesetzt betrachten möchte mit vorhandenen Strukturen. Diese können durchaus eine wichtige Funktion behalten. Ein Dorf- oder Stammesverbund ist nicht gleichbedeutend mit dem Warlord, der diesen beherrscht.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Daher muss man immer davon ausgehen, dass Anrainer Staaten ganz grundsätzlich absolut jeden Versuch von uns Nation-Building zu betreiben aktiv sabotieren werden, wie dies auch schon geschehen ist und auch in Zukunft weiter geschehen wird. Diese Dialektik haben viele die Nation Building betreiben wollen auch nicht auf dem Schirm: das Dritte sich durch erfolgreiches Nation Building zwingend in ihren eigenen Interessen bedroht fühlen und daher uns immer aktiv sabotieren werden.

Für mich ist dann die Konsequenz, dass man diese Nachbarn entweder einbeziehen, oder sogar einfach strategisch "überplanen" muss, so wie z.B. den Iran und Pakistan in der Afghanistan-Thematik.

Hierzu nochmal ein Gedanken-Spiel:
Es gab während der Besatzungszeit in Afghanistan eigentlich ständig ein gewisses Risiko, dass es zum Krieg der USA mit dem Iran kommen könnte. Wäre dies eingetreten, hätte man eventuell eine Situation gehabt, in der Irak, Iran und Afghanistan alle unter einer US-/NATO-Herrschaft gestanden hätten. (Den Iran hätten die USA vermutlich alleine mit arabischen Verbündeten bekämpft, so dass die anderen NATO-Mitglieder dann gezwungen gewesen wären, Afghanistan und den Irak zu sichern) Aus einer solchen Lage heraus, wäre eine Auflösung des Irans und die Bildung einer gemeinsamen Föderation einiger Teile mit einem ebenfalls geteilten Afghanistan eine real mögliche Option gewesen. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass man bereit gewesen wäre, in dieser Föderation weiterhin als Besatzungsmacht zu fungieren. Wenn eine solche Föderation dann tatsächlich nachhaltig funktionieren sollte, käme ihr eine entscheidende Rolle zu, für den dann wahrscheinlichen Fall von erfolgreichen Unabhängigkeitsbewegungen in Teilen Pakistans, insbesondere Belutschistans und den paschtunischen Stammesgebieten.

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Es gibt natürlich nie eine Universallösung und höchstwahrscheinlich werden wir gesellschaftlich-politisch nicht bereit sein, auch nur annähernd das zu tun, was im Interesse aller zu tun wäre. Aber ich halte es trotzdem für ein Problem, dass wir keine nachhaltige Strategie haben, wie eine funktionierende Welt aussehen könnte. Wir behalten gescheiterte Systeme, die von Anfang an keine Chance hatten, konsequent bei, anstatt mal zu überlegen, wie man es denn hätte von vornherein besser machen können, um daraus zu lernen.

Insofern gebe ich dir, Quintus, Recht, dass in vielen Bereichen eine unmittelbare Machtausübung von außen der einzige Weg sein dürfte. Nur sehe ich das halt nicht zwingend im Rahmen aktueller Nationalstaatsgebilde mit dem Ziel, diese zu festigen, sondern halte es im Sinne der Nachhaltigkeit für notwendig, diese zu überdenken und erforderlichenfalls auch zu revidieren.
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#14
Eine spannende Frage wäre ob Nationbuilding unter anderen Vorzeichen auch in Europa möglich wäre. Nehmen wir mal den Deobandismus dessen radikale Auslegung eine der Grundlagen der Taliban ist. Dieser ist in GB sehr weit verbreitet da dort die meisten Muslime aus Indien und Pakistan stammen. Auch soll nach Social Media Analysen angeblich GB der Staat in Europa sein in dem die Taliban prozentual den meisten Zuspruch erhalten. Wenn man nun einen beliebten Spruch der Taliban "Ihr baut die Uhren aber wir haben die Zeit" in Bezug auf den Westen für bare Münze nimmt, dann könnte es auch eine Art Nationbuilding von innen heraus geben, in dem man durch hohe Geburtenrate und weitere Zuwanderung einfach auf den Faktor Zeit setzt und wartet bis die "eigene Nation" im inneren des Staates groß genug geworden ist um dann offen Machtfrage zu stellen. Interessant wäre hierbei auch die Frage nach den Möglichkeiten wie man so eine Nationbuilding im eigenen Staat überhaupt abwehren könnte.
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#15
Meiner Definition nach ist das was du hier beschreibst kein Nation Building, sondern schlicht und einfach eine Form der modernen Kriegsführung. De facto also eine Invasion einer Nation durch eine andere. Dazu sollte man aber bedenken, dass die hier lebenden unterschiedlichen muslimischen Gruppen sich gegenseitig oft ebenso hassen wie sie uns hassen. Wenn man diesen Grundgedanken also in Richtung Nation Building weiter denken wollte, so müsste man die Frage stellen, wie eine Vereinigung der hier lebenden Sunniten geschehen könnte.

Ob andere Gruppen einwandern und dann durch Vermehrung irgendwann die Macht übernehmen und unsere Nation durch ihre ersetzen ist hier also nicht die Frage, sondern wie eine solche Gruppe sich über die anderen (ähnlichen) Gruppen hinweg ausbreiten und diese einen kann. Nehmen wir mal rein theoretisch an, die Salafisten würden ihr Gedankengut einheitlich über alle sunnitischen Muslime in Deutschland ausbreiten können, dann wäre das Nation Building, da hier die vorher vorhandenen traditionellen muslimischen Gruppen, welche sich auch ethnisch gegeneinander abgegrenzt haben und welche sich untereinander allesamt hassen, nun zu einer größeren neuen internationalistischen Gruppe zusammen geschlossen werden. Eine solche Gruppe könnte selbst dann wenn sie noch die Bevölkerungsminderheit stellt durchaus in einem längeren modernen Krieg die Macht in diesem Land an sich reißen und den Staat umstürzen.

Im Umkehrschluss ist es noch wesentlicher eine Einigung der verschiedenen muslimischen Gruppen zu verhindern als deren Einwanderung, da eine gemeinsame islamische Identität selbst dann extrem problematisch werden wird, wenn diese noch eine Minderheit darstellen. Dies kann man eigentlich nur verhindern indem man entweder rigoros jede weitere Einwanderung von Muslimen abstellt und/oder andere Gruppen hierher holt welche den hier befindlichen Gruppen in nicht auflösbarer Weise in Feindschaft gegenüber stehen und indem man von oben her kulturell massiv Einfluss nimmt, was wiederum bedeutet dass der Einfluss aus dem Ausland abgeschnitten werden muss (Musterbeispiel Türkei). Dann wäre langfristig auch eine islamische Gemeinschaft in Deutschland möglich auch wenn diese natürlich weiterhin einen gewissen potentiellen Kristallisationspunkt für ausländische/unerwünschte Einflüsse darstellen kann (Musterbeispiel islamische Minderheiten in Russland wie die Tataren etc).

Genau genommen unternehmen die Ölaraber seit Jahren den Versuch Nation Building in Europa zu betreiben, indem sie auf die hier lebenden Muslime Einfluss nehmen um diese zu einer wahabitischen Form des Islam zu bringen oder dessen Ansichten in der Sunna auszubreiten. Man könnte überspitzt sagen, dass die Erfolge der Saudis Nation Building in Deutschland zu treiben erfolgreicher verlaufen sind als unsere Versuche Nation Building in Afghanistan zu betreiben. Leider wird die grundsätzlich feindliche Ausrichtung dieser Handlungen durch die Ölaraber hier in Europa kaum verstanden. Das Ziel ist durchaus die Einigung der verschiedenen eingewanderten Ethnien unter einer übergeordneten internationalistischen Identität. Ob das langfristig gelingen wird ist natürlich nicht gewiss, aber dessen ungeachtet ist das durchaus die dahinter liegende Strategie. Und da man sehr sehr langsam dabei vorgeht, geschieht der ganze Prozess so schleichend, dass er an der öffentlichen Wahrnehmung bisher vorbei gegangen ist.

https://www.dw.com/de/saudischer-extremi...a-39602047

Um es kurz zusammen zu fassen: bloße Einwanderung und Vermehrung bedingen kein Nation Building, da die hier einwandernden Ethnien sich feindlich gegenüber stehen. Diese Feindschaft zu überwinden und eine Metaidentität für diese Einwanderer zu konstruieren wie es die Ölaraber aktiv in dieser Bundesrepublik tun ist jedoch durchaus eine Art von Nationbuilding und ist selbst dann gefährlich, wenn die Einwanderer noch in der Minderheit sind. Eine jahrelange Terrorismus und Guerillakriegkampagne würde diese Bundesrepublik bereits aktuell weitgehend zerstören. Umso unverständlicher, dass man gegen das Nationbuilding der Ölaraber in Europa mal schlicht und einfach gar nichts unternimmt.
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