Krieg im 21. Jahrhundert
Werter Nightwatch:

Zitat:Allerdings bezeugt das Erstarren der Westfront in den strategischen Befestigungen im ersten Weltkrieg eben davon, dass sie mit den damaligen Mitteln und Fähigkeiten für eine kurze Zeit ‚dem Höhepunkt der Überlegenheit der Defenive‘ nicht (oder meinetwegen nicht mit strategisch akzeptablen Verlusten) überwindbar gewesen sind.

Mit der dem Erstarren der Front resultierenden und schon in der Endphase des ersten Weltkriegs umgesetzten Evolution der Landkriegsführung wurde das Primat der Defensive aber bereits wieder überwunden. Und das ist der Stand, nach meiner Auffassung bis heute.

Was auch daran liegt, dass seitdem der Panzer als Element der Offensivkriegsführung in seinen Grundsätzen in spätestens den dreißiger Jahren verstanden wurde nichts mehr Grundsätzliches an der Landkriegsführung geändert hat. Das wäre aber ein anders Thema.

Meiner Ansicht nach nicht. Denn wie soll man klären warum jeweils scheinbar ein Primat der Defensive bestand oder warum dieses "überwunden" wurde, wenn man solche Faktoren außen vor lässt?

Meiner Ansicht nach wird der Panzer im 1WK als Mittel heillos überschätzt und kam der Bewegungskrieg eben nicht aufgrund des Panzers zurück, sondern weil man begann die Infanterie anders einzusetzen und weil man erfolgreich in großem Stil auf Infiltrationstaktiken zurück griff. Zum Ende hin kamen auch die ersten Gedanken zu wirklich großen Luftlandungen auf um so die Front unmittelbar zu überwinden. Es gab entsprechende Pläne der Alliierten der Umgehung durch die Luft.

Die Panzer hingegen waren im Vergleich dagegen wenig wirksam. Das Erstarren der Westfront (die Ostfront erstarte ja eben nicht) zeigt nun meiner Auffassung eben nicht einen Höhepunkt des Primat der Defensive, bzw. den Höhepunkt der Defensive, sondern sie resultierte aus einem ganzen Faktorenbündel heraus. Meiner Überzeugung nach wird ganz allgemein diese Idee, dass jeweils technologisch bedingt die Offensive oder die Defensive stärker sind sehr stark überhöht. Stephen Biddle hat in seinem Buch Military Power mit blanken Zahlen sehr klar dargelegt, dass dieser scheinbare Zusammenhang einer genaueren Überprüfung nicht standhält.

Oder kurz und einfach: meiner Meinung nach überschätzt du für diese Frage die Technologie als Faktor (auch wenn sie zweifelsohne wichtig ist). Deine Auffassungen machen daher auf mich den Eindruck, dass sie zu sehr von der Entwicklung der Militärtechnologie geprägt sind. Das kann natürlich jetzt leicht auch ein falscher Eindruck sein.

Zitat:Jedenfalls, der beginnend mit der Landkriegsevolution des ersten Weltkriegs möglichen Konzentration von Feuerkraft gepaart mit den Ein- und Durchbruchfähigkeiten der Panzerwaffe kann keine raumgreifende Befestigung standhalten.

Könnte sie schon. Ich verwies explizit auf eine ganze Reihe von Werken die sehr detailliert darstellen wie das vonstatten gehen könnte. In einer Netzartigen Verteidigung wäre es möglich, ganze Panzerarmeen in diesem Netz sich verfangen und verbluten zu lassen. Aber um bei schnöden Linien zu bleiben: selbst die Maginot Linie wäre frontal durch Panzerwaffe und Artillerie nicht zu durchbrechen gewesen, sie musste entsprechend umgangen werden !

Zitat:Oder beispielhafter formuliert: Es gab auch dieseits der Atombombe im Kalten Krieg gute Gründe, an der Innendeutschen Grenze keinen Ostwall zu errichten und bei der beweglichen Verteidigung zu bleiben.

Genau genommen war die NATO Strategie der Vorwärtsverteidigung gar nicht so beweglich wie es hier den Anschein haben mag, oder allenfalls dahingehend beweglich, als dass man sich bewegend nach vorne in feindliches Gebiet hinein vorstoßen wolle.

Zuvorderst aber war die Entscheidung gegen einen "Ostwall" eine politische, und eine der Strukturextrapolierung. Wehrmachtsoffiziere versuchten hier ein "Making Yesterday perfect", nicht mehr und nicht weniger. Entsprechend wollte man 12 mechanisierte Divisionen, und eigentlich noch viel mehr mechanisierte Großkampfverbände, weshalb man die 12 Divisionen dann entsprechend mit mechanisierten Brigaden überfrachtete, als de facto Mini-Divisionen (im übrigen auf einen Vorschlag Guderians hin). Und auch das wieder vor allem anderen aus rein politischen Gründen und nicht weil es militärisch das sinnvollste gewesen wäre.

Sowohl in Frankreich, wie auch bei einigen wenigen anderen deutschen Denkern gab es aber auch ganz andere Konzepte und Ideen hierzu: siehe Afheldt, siehe Guy Brossollet.

Nur der Springende Punkt – wie wären heutzutage durch die Verwendung Aktiver Schutzsysteme bereits wieder einen evolutionären Schritt weiter, genau genommen ließe sich gar die These aufstellen, dass wir mit modernen Waffenplattformen, enormer Steigerung der Luftnahunterstützung und sich exponentiell entwickelnden Aufklärungsmöglichkeiten vor einem Primat der Offensive stehen.

Um das nochmal zu betonen: meiner Meinung nach überbetonst du diese Frage, ob Defensive oder Offensive das Primat haben. Ich spreche dieser Betrachtung rein persönlich gar nicht so die Wichtigkeit zu, sondern sehe sie als eine Art Nebenkriegsschauplatz.

Mein Argument für ein Primat der Defensive heute ist der Kampf um die Aufklärung. Es spielt gar keine Rolle ob man abstandsaktive Schutzssysteme hat, die man in einem wirklich ernsthaften konventionellen Krieg so gar nicht ausreichend im Dienst einsatzfähig halten kann (Abnutzung) oder ob die Luftnahunterstützung so immens geworden ist, sondern die primäre Frage vor allem anderen ist der aktive Kampf um die Frage wer die Hoheit in der Aufklärung gewinnt. Wer den anderen aufklärt, aber nicht selbst aufgeklärt wird, der gewinnt querschnittlich, so einfachst ist das.

Nun hat aber derjenige welcher sich in der Defensive befindet meiner Auffassung nach erhebliche Vorteile in diesem Kampf um die Aufklärung. Die Überlegenheit der Defensive (als Frage die ich aber eben nicht überbewerten würde) ergibt sich daher meiner Auffassung nach vor allem aus diesen Vorteilen des Verteidigers in der Aufklärung und in der Bekämpfung der feindlichen Aufklärung.

Zitat:Das sehen wir aber in der Ukraine natürlich nicht, weil die russische Armee technisch irgendwo in den Siebzigern verblieben ist und im operativen Handeln geradezu degeneriert ist.

Deshalb noch ein Wort zum aktuellen Krieg, ich sehe da gegenüber Donezk nichts was auch nur in Ansätzen geeignet sein sollte in einem modernen Bewegungskrieg auch nur Wochen auszuhalten.

Ich schrieb ja explizit, dass man den aktuellen Krieg nicht überbewerten darf und dass man vor allem nicht anfangen sollte daraus zu weitgehend Schlußfolgerungen für einen selbst ziehen zu wollen, und dass die Erkenntnisse dieses Krieges nur bedingt übertragbar sind, dennoch:

Zitat:Gräben können mit konzentrierten Panzerangriffen buchstäblich überrollt werden. Bunkeranlagen leicht zerstört werden, sei es durch direkten, gezielten Beschuss, Luftnahunterstützung oder moderner, zielgenauer Artillerie.

Du selbst schreibst ja schon explizit, dass dies Wochen dauern könnte. Und genau in dieser Zeit tobt der Kampf um die Aufklärung, und wenn der Verteidiger diesen gewinnt, wird das Überrollen der Gräben und dass passiseren der Bunkeranlagen eben nichts anderes als zu einem Schlachtfest dem der Angreifer zum Opfer fällt. Der Wert strategischer Linien liegt daher vor allem auch darin, eine gewisse Verzögerung sicher zu stellen, welche die Vorteile welche der Verteidiger im Kampf um die Aufklärung ohnehin genießt noch verstärkt.

Und um das nochmal zu betonen: du denkst hier meiner Meinung nach zu linear. Moderne strategische Linien haben eher den Charakter eines Netzes in einem Raum und nicht den einer Linie.

Zitat:Nur scheinen mir die Erbauern derartiger Linien regelmäßig der verqueren Vorstellung anheim zu fallen, dass der Feind sich doch bitte auch genau so verhalten möge das es dem beabsichtigten Nutzen dieser Linien entspricht.

Dann ist aber der erhebliche Nutzen dieser Linien eben falsch bzw. fehlinterpretiert. Verquere Vorstellungen davon was der Nutzen eigentlich ist, ändern aber doch nichts an diesem selbst.

Zitat:
Zitat:Kein Befestigungssystem konnte jemals einen Feind in seiner operativ-strategischen Bewegung nachhaltig stoppen.

Da das eigentlich der ganze Inhalt meiner überspitzte Aussage mit einem tollen Patton-Zitat (*sigh*) gewesen ist, können wir die Diskussion an dieser Stelle auch beenden ,)

Das war jetzt nicht ganz glücklich von mir formuliert. Da ich jede Art von Axiomen im Krieg ablehne, bin ich der Überzeugung, dass solche strategischen Befestigungssysteme durchaus die Niederlage des Feindes herbei führen können, bzw. einleiten können. Und es kann natürlich auch sein, dass der Feind sie nicht überwinden kann, aus welchen Gründen auch immer. Das Patton Zitat (eines alten Kavalleristen) reicht aber weiter als über die Frage ob strategische Befestigungen einen Gegner tatsächlich komplett stoppen können hinaus:

Zitat:Fixed fortifications are monuments to man’s stupidity. If mountain ranges and oceans can be overcome, anything made by man can be overcome.

Sie sind eben nicht zwingend ein Monument für menschliche Dummheit. Und dass etwas (theoretisch !) überwunden werden kann, heißt eben nicht, dass es zwingend überwunden werden wird. Theoretisch können heißt nicht praktisch real tun.

Zitat:Oder anders gesagt: Nachdem man in den Krieg stolperte führte man ihn um einen günstigen Waffenstillstand zu erreichen und um politisch an der Heimatfront einigermaßen ungeschoren davonzukommen. Die militärische Situation und der Nutzen irgendwelcher Befestigungen spielte eine deutlich nachrangige Rolle, man scheiterte an der eigenen Erwartungshaltung im Prinzip schon bevor der erste Schuss gefallen war.

Dem kann ich zustimmen. Der Libanonkrieg war von mir kein gut gewähltes Beispiel.

Zitat:Heute würde ein dritter Libanonkrieg sehr anders ablaufen..... weil die Panzer aktive Schutzsysteme haben und die PALRs der Hisbollah kein Faktor mehr sind

Meiner Meinung nach überhöhst du den Wert abstandsaktiver Schutzmaßnahmen. Diese lassen sich meiner Meinung in einem ernsthaften Krieg nicht in dem notwendigen Maße aufrecht erhalten - vereinfacht gesagt fehlt ihnen die Durchhaltefähigkeit in einem ernsthaften Krieg. Spezifisch in Bezug auf einen Krieg im Libanone gegen die Hisbollah stimme ich dir zwar zu, aber ich würde diese Aussage eben nicht verallgemeinern wollen.

Zitat:Der Ansatz anstatt auf die starre, befestige Linie (mit natürlich auch gewisser Tiefe, versteht sich von selbst) und stattdessen auf eine verdichtende Verteidigung in Räumen mit erheblicher Tiefe zu setzen ist genau das worauf man als Gegenentwurf zur Linie vernünftigerweise auch heutzutage setzt.

Das primäre Problem scheint hier unser unterschiedliches Verständnis davon zu sein, was eine Linie ist. Es entsteht für mich der Eindruck, dass du darunter ein durchgehendes miteinander verbundenes "Grabensystem", also eine Linie von direkt miteinander verbundenen Festungen verstehst, während ich diesen Begriff weiter fasse und auch weiter definiere. Deshalb ist für mich eine strategische Linie auch in der Form eines sich verdichtenden Netzes gegeben. Dieses ist meiner Ansicht nach ebenso eine strategische Linie.

Zitat:Verteidigung in Räumen ist jetzt nicht viel mehr als das klassische Verzögerungsgefecht

Das teile ich in einer solchen Aussschließlichkeit nicht. Zwischen dem was beispielsweise Afheldt hier an Konzepten entwickelte und einem klassischen Verzögerungsgefecht liegen Welten. Ein primärer Unterschied ob eine Verteidigung in einem Raum eine strategische Linie darstellt, oder ob sie eine Verzögerung darstellt liegt meiner Auffassung nach darin, wie dieser Raum militärisch gestaltet wird und was für Einheiten in diesem Raum mit welchem Ziel kämpfen. Die Zielsetzung ist hier verschieden:

Die Verzögerung hat andere Ziele. Sie versucht eben nicht eine Entscheidung herbei zu führen, sondern sie soll die Voraussetzungen für einen Gegenangriff schaffen, oder sie soll die Voraussetzungen für eine Entscheidung herbei führen.

Hingegen ist die Verteidigung eines Raumes als strategische Linie daraufhin ausgerichtet, die Entscheidung herbei zu führen.

So weit meine Definition davon, darin sehe ich den primären Unterschied.

Verzögerung = Keine Entscheidung; stattdessen Voraussetzungen für anderes schaffen

Strategische Linie = Herbeiführung einer Entscheidung durch die Verteidigung im Raum selbst
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Krieg im 21. Jahrhundert - von Quintus Fabius - 27.04.2021, 21:38
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Broensen - 30.04.2021, 22:46
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Broensen - 02.05.2021, 01:21
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Broensen - 02.05.2021, 18:02
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Broensen - 02.05.2021, 21:09
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Broensen - 02.05.2021, 22:32
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Broensen - 05.05.2021, 21:12
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Broensen - 17.05.2021, 20:51
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Broensen - 17.05.2021, 21:58
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Pogu - 26.05.2021, 14:39
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Helios - 06.12.2021, 15:33
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von voyageur - 06.12.2021, 15:11
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Helios - 17.12.2021, 11:31
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Helios - 20.12.2021, 11:01
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Helios - 20.12.2021, 16:44
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Broensen - 20.12.2021, 19:32
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Helios - 21.12.2021, 11:43
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Helios - 21.12.2021, 17:18
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Ottone - 21.12.2021, 13:41
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von voyageur - 21.12.2021, 14:53
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Schneemann - 27.10.2022, 07:33
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Schneemann - 27.10.2022, 13:32
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Nightwatch - 27.10.2022, 14:14
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Quintus Fabius - 27.10.2022, 23:19
RE: Krieg im 21. Jahrhundert - von Schneemann - 30.10.2022, 09:39
RE: Bundeswehr - Wunschkonzert 2021 - von Leuco - 03.12.2021, 20:01
RE: Bundeswehr - Wunschkonzert 2021 - von Leuco - 04.12.2021, 10:17
RE: Bundeswehr - Wunschkonzert 2021 - von Leuco - 04.12.2021, 14:28
RE: Bundeswehr - Wunschkonzert 2021 - von Leuco - 05.12.2021, 15:36
RE: Russland vs. Ukraine - von Nightwatch - 25.10.2022, 12:39
RE: Russland vs. Ukraine - von Quintus Fabius - 25.10.2022, 19:49
RE: Russland vs. Ukraine - von Broensen - 25.10.2022, 20:43
RE: Russland vs. Ukraine - von Nightwatch - 26.10.2022, 09:38
RE: Russland vs. Ukraine - von Schneemann - 26.10.2022, 11:56

Gehe zu: