Krieg im 21. Jahrhundert
@Schneemann

Die Bemerkung hinsichtlich des Bürgerkrieges zielte lediglich darauf ab, dass der Amerikanische Bürgerkrieg vor allem in seiner späteren Phase schon eine Vorschattung des Triumphes der Defensive im Ersten Weltkrieg gewesen ist. Der springende Punkt jedenfalls, ein Vergleich des strategischen Wertes von Befestigungen der napoleonischen Ära (oder noch früher) ist wenig belastbar, weil die evolutionäre Entwicklungsschritte der Landkriegsführung ausgehend von der Endphase des Ersten Weltkriegs machte zur grundlegenden Paradigmenwechseln geführt haben.
Die dann aber halt bis in die heutige Zeit ihre Gültigkeit haben, weshalb ein Blick bis zum ersten Weltkrieg zurück lohnt, noch weiter in die Vergangenheit allerdings nicht. IMO

@Quintus Fabius

Zitat:Zunächst müsste ich hinterfragen, was genau du mit einer strategischen Linie meinst ?!

Das ist wohl tatsächlich die Gretchenfrage hier, wir liegen ansonsten garnicht so weit auseinander.
Strategische Linien wären hier raumgreifende Befestigungsanlagen, die nicht unter taktischen Geschichtspunkten oder taktisch-operative Gesichtspunkten errichtet wurden, sondern zum Ziel haben die strategische oder strategisch-operative Kriegsführung des Gegners im eigenen Sinne zu beeinflussen. Wechselwirkungen natürlich inbegriffen.

Oder einfach und plakativ ausgedrückt: Linien sind gedacht Armeen aufzuhalten, aufzureiben, umzulenken, zu verzögern… Befestigte Punkte sind dagegen das Problem des örtlichen Bataillonskommandanten. Relevant vor Ort, aber nicht in einem größeren operativen oder strategischen Kontext.

Zur Frage ob Linien als nicht überwindbar galten – sicherlich nicht, sonst, so würde man annehmen, hätte man schwerlich versucht sich zu überwinden. Allerdings bezeugt das Erstarren der Westfront in den strategischen Befestigungen im ersten Weltkrieg eben davon, dass sie mit den damaligen Mitteln und Fähigkeiten für eine kurze Zeit ‚dem Höhepunkt der Überlegenheit der Defenive‘ nicht (oder meinetwegen nicht mit strategisch akzeptablen Verlusten) überwindbar gewesen sind.

Mit der dem Erstarren der Front resultierenden und schon in der Endphase des ersten Weltkriegs umgesetzten Evolution der Landkriegsführung wurde das Primat der Defensive aber bereits wieder überwunden. Und das ist der Stand, nach meiner Auffassung bis heute.

Was auch daran liegt, dass seitdem der Panzer als Element der Offensivkriegsführung in seinen Grundsätzen in spätestens den dreißiger Jahren verstanden wurde nichts mehr Grundsätzliches an der Landkriegsführung geändert hat. Das wäre aber ein anders Thema.

Jedenfalls, der beginnend mit der Landkriegsevolution des ersten Weltkriegs möglichen Konzentration von Feuerkraft gepaart mit den Ein- und Durchbruchfähigkeiten der Panzerwaffe kann keine raumgreifende Befestigung standhalten. Heute haben wir vielleicht noch das Sturmgeschütz in seiner engeren Einsatzphilosophie durch Luftnahunterstützung ersetzt, aber im Wesentlichen ist es beim dem Geblieben was John Monarch im Sommer im Juli 1918 bei Hamel an der Somme erfolgreich demonstrieren konnte.

Oder beispielhafter formuliert: Es gab auch dieseits der Atombombe im Kalten Krieg gute Gründe, an der Innendeutschen Grenze keinen Ostwall zu errichten und bei der beweglichen Verteidigung zu bleiben.

In diesem Sinne, ich würde mich der These, dass heutzutage wieder die Defensive regiert nicht zwingend anschließen wollen. Andererseits würde ich der These, dass in einem fiktiven Großkonflikt in den Neunziger und meinetwegen auch den Nuller-Jahren die Defensive regiert hätte, wenn es damals zu größeren symmetrischen Auseinandersetzungen gekommen wäre, nicht unbedingt wiedersprechen wollen.
Der Grund hierfür wäre in erster Linie der Verbreitung leistungsfähiger Panzerabwehrwaffen gewesen, mit denen in Weitesten Sinne eingegrabene Infanterie in viel effektiven Maße als früher gegen konzentrierte Panzerkräfte hätte wirken können.

Nur der Springende Punkt – wie wären heutzutage durch die Verwendung Aktiver Schutzsysteme bereits wieder einen evolutionären Schritt weiter, genau genommen ließe sich gar die These aufstellen, dass wir mit modernen Waffenplattformen, enormer Steigerung der Luftnahunterstützung und sich exponentiell entwickelnden Aufklärungsmöglichkeiten vor einem Primat der Offensive stehen.
Das sehen wir aber in der Ukraine natürlich nicht, weil die russische Armee technisch irgendwo in den Siebzigern verblieben ist und im operativen Handeln geradezu degeneriert ist.
Am ehesten vielleicht noch bei den jüngeren Ausflügen der Israelis, wobei die Übertragbarkeit dieser Kleinskriege immer sehr relativ ist.

Deshalb noch ein Wort zum aktuellen Krieg, ich sehe da gegenüber Donezk nichts was auch nur in Ansätzen geeignet sein sollte in einem modernen Bewegungskrieg auch nur Wochen auszuhalten. Gräben können mit konzentrierten Panzerangriffen buchstäblich überrollt werden. Bunkeranlagen leicht zerstört werden, sei es durch direkten, gezielten Beschuss, Luftnahunterstützung oder moderner, zielgenauer Artillerie. Es gibt für mich auch nach sechs Monaten Krieg keine einleuchtende Erklärung dafür, warum die russische Armee diese Grabenstellungen nicht einfach lokal aufgerissen und anschließend in der Tiefe in den rückwärtigen Raum gebrochen ist – außer das man es nie ernsthaft versuchte, weil diese Bataillonsrumpfverbände zu zusammenhängenden Operationen nicht in der Lage sind.

Insofern fällt es mir auch schwer, diesen Befestigungssystemen einen höheren strategischen Wert zuzuschreiben. Der Feind hat sie umgangen und man hätte sie russischerseits im Prinzip auch vollständig ignorieren können (wie du ja auch beschreibst). Das man sich auf das Spiel der Ukrainer einlässt ist kein Argument für Befestigungsanlagen sondern für die Lehrunfähigkeit /willigkeit der russischen Führung.
Auf die Dummheit des Gegenübers zu setzen ist aber grundsätzlich kein vernünftiger Ansatz. Insofern in Falle der Ukraine – Glück gehabt, dass man jetzt was davon hate.

Zitat:Kein Befestigungssystem konnte jemals einen Feind in seiner operativ-strategischen Bewegung nachhaltig stoppen.

Da das eigentlich der ganze Inhalt meiner überspitzte Aussage mit einem tollen Patton-Zitat (*sigh*) gewesen ist, können wir die Diskussion an dieser Stelle auch beenden ,)

Natürlich ist der Wirkungsbegriff bei strategische Linien weiter zu fassen als das bloße Stoppen des Gegners, da gar kein Widerspruch.
Nur scheinen mir die Erbauern derartiger Linien regelmäßig der verqueren Vorstellung anheim zu fallen, dass der Feind sich doch bitte auch genau so verhalten möge das es dem beabsichtigten Nutzen dieser Linien entspricht. Das dann schon die Schaffung solcher Linien gerne dazu führt, dass das Gegenüber selbst das Denken anfängt und sich anpasst, scheint mir viel zu oft eine zu hohe Vorstellung gewesen zu sein.
Auch wenn der russischen Führung im aktuellen Fallbeispiel in weiten Teilen jedes operative Denken verlustig gegangen ist.

Zitat: Aber dessen völlig ungeachtet, wäre die Hisbollah ohne die von ihr angelegten Befestigungsanlagen weitgehend vernichtet worden.

Eben das sehe ich so nicht. Relatives Ungleichgewicht hin oder her, der Libanonkrieg erreichte sozusagen nie das Niveau einer primär militärischen Auseinandersetzung sondern wurde von Politik und (!) Generalität unter sehr eingeengten politischen Vorstellungen betrachtet und geführt.
Dies führte unter anderem zu einer weitgehenden operativen Ratlosigkeit (abgesehen vielleicht von der letzten Kriegswoche) und einem Unwillen Kampf auf- sowie Verluste hinzunehmen.

Damit wäre der Ausgang ohne Befestigungsanlagen sehr ähnlich gewesen. Natürlich hätte die Israelischen Einheiten den Hisbollah-Kämpfern so höhere Verluste zufügen können, da die politische und militärische Führung aber kein Konzept, keine Zeit und keinen Willen hatte den Konflikt auszukämpfen wäre noch jede Offensive lange vor dem Erreichen militärischer Ziele abgebrochen und in einen Waffenstillstand übergeführt worden.

Oder anders gesagt: Nachdem man in den Krieg stolperte führte man ihn um einen günstigen Waffenstillstand zu erreichen und um politisch an der Heimatfront einigermaßen ungeschoren davonzukommen. Die militärische Situation und der Nutzen irgendwelcher Befestigungen spielte eine deutlich nachrangige Rolle, man scheiterte an der eigenen Erwartungshaltung im Prinzip schon bevor der erste Schuss gefallen war.

Heute würde ein dritter Libanonkrieg sehr anders ablaufen, schon allein und vor allen Dingen weil sich Politik und Bevölkerung der Situation viel besser bewusst sind und die Erwartungen ganz andere sind. (Und natürlich weil die Panzer aktive Schutzsysteme haben und die PALRs der Hisbollah kein Faktor mehr sind Wink)

Zitat: Eine bewegliche Kriegsführung gegen einen Feind der eine extrem überlegene Artillerie besitzt und der hochgradig mechanisiert ist, macht keinen Sinn, weil sie einfach zu risikoreich ist.
Streiche beweglich setze symmetrisch.

Der Ansatz anstatt auf die starre, befestige Linie (mit natürlich auch gewisser Tiefe, versteht sich von selbst) und stattdessen auf eine verdichtende Verteidigung in Räumen mit erheblicher Tiefe zu setzen ist genau das worauf man als Gegenentwurf zur Linie vernünftigerweise auch heutzutage setzt.

Tatsächlich existierten diese Ideen schon im ersten Weltkrieg (jenseits von: wir ziehen hinter dem ersten Graben einen zweiten) und man wäre in der Endphase des Krieges auch deutscherseits von den Linien in der Verteidigung wieder abgekommen. Der Krieg war aber vorbei bevor sich diese Evolution in der Verteidigung hat etablieren können. Herfried Münkler hat das mal irgendwo schön herausgearbeitet, ich finde den Vortrag aber auf die Schnelle nicht. Egal.

Verteidigung in Räumen ist jetzt nicht viel mehr als das klassische Verzögerungsgefecht bei dem halt der Bunker durch den Panzer als beweglichen Bunker ersetzt wurde. Beziehungsweise abhängig von Räumen und Möglichkeiten variieren die Mittel - auf dem Golan war es halt der massive Einsatz gepanzerter Kräfte, in baltischen Wäldern mag es die leichte Infanterie im Jagdkampf sein.

Ich würde auch argumentieren, dass gerade im Ukrainekriege jenseits der Veranstaltung vor Donzek die verzögernde Verteidigung in Räumen durch die ukrainische Armee in Teilen eindrucksvoll unter Beweis gestellt wurde. Und gleichzeitig stellt auch der Ansatz der Hisbollah im Libanonkrieg viel eher eine Verzögerung im Raum dar als ein Festhalten an Linien. Wenn man sich dem Libanonkrieg aus dieser rein militärischen Sicht überhaupt nähern will, der Konflikt war in dieser Beziehung wie herausgearbeitet vorbei, bevor es in dieser Beziehung interessant wurde.

Insgesamt, ich fürchte auch hier wieder eher eine Diskussion um Spitzfindigkeiten in der Formulierung als ein tiefergehender inhaltlicher Dissens.
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