Droht ein Polexit?
#31
Mit der Logik ist es nicht immer ganz einfach, insbesondere wenn man nicht alle Faktoren berücksichtigt und daher Annahmen als Gegeben betrachtet, die das möglicherweise gar nicht sind. Mein Hinweis auf die Interpretationen und Urteile ist kein Bückling vor Autoritäten, sondern die Erkenntnis eigener Unwissenheit hinsichtlich der Umstände. Im Grundgesetz befinden sich explizite Passagen, die eine unmittelbare Justiziabilität ermöglichen, und implizite Aussagen, die zwingend eine Interpretation benötigt, die sich zudem im Laufe der Zeit ändern kann. Zudem sind die Formulierungen nicht nur Selbstzweck, sie folgen auch einer besonderen geschichtlichen Bedeutung. Die sexuelle Orientierung etwa nicht aufzunehmen war durchaus eine bewusste Entscheidung, weil man sonst die Durchsetzbarkeit von §175 StGB gefährdet hätte. Davon ist aber nichts übrig geblieben, und die aktuelle anerkannte Rechtinterpretation inklusive der Umsetzungen durch die Gerichtsbarkeit unterstellen einen solchen Schutz auf Basis eben jenes Grundgesetzes.
Natürlich war meine Aussage, dass dieses keinerlei Diskriminierungen erlaubt, nur in einem fachsprachlichen Kontext gemeint, in dem "Diskriminierung" eine gezielte Benachteiligung aufgrund von willkürlichen Wertvorstellungen meint. Der Vergleich mit einem fremden Staatsbürger, der hier nicht wählen darf, ist daher genauso unpassend wie die Frage im Umgang mit Krankheitsbildern, die zu tatsächlichen Sexualpräferenzstörungen führen.

Deinen Einlassungen zur Demokratie kann ich nicht folgen, denn gerade aufgrund der Mehrheitsentscheidungen in einer solchen muss der Minderheitenschutz eine besondere Stellung einnehmen, ansonsten besitzt sie im freiheitlichen Sinne keinen Wert, sondern dient nur als Legitimierung von Unrecht. Meiner Ansicht nach ist die Überhöhung von "Demokratie" als Selbstzweck genauso falsch wie die Überhöhung von "Kultur" als Selbstzweck, weil die jeweilige Ausgestaltung ein elementares Bewertungskriterium sein muss. Wenn in einer Kultur beispielsweise das Steinigen von vergewaltigten Frauen demokratisch legitimiert ist, ist das meiner Ansicht nach kein schützenswerte Diversität, keine schützenswerte Kultur, und keine schützenswerte Demokratie.

Dein Ausspruch "Jetzt aber zum wesentlichen: Es geht uns einfach mal rein gar nichts an." ist nicht mit meinem Gemeinschaftsbegriff vereinbar, wenn es um die gemeinsame Wertebasis geht. Und zu eben dieser gehört der Minderheitenschutz. Das heißt nun nicht, dass alles unrechtmäßig ist, was dort geschieht. Aber darum geht es in meiner Argumentation auch gar nicht, denn weder mache ich mir hierbei irgendwelche Standpunkte zu eigen (wie du unterstellst), noch äußere ich mich zu einer konkreten Fragestellung.

In anderer Hinsicht hast du allerdings recht, auch wenn ich weiß, dass du es so nicht gemeint hast. Es geht uns gesellschaftlich einfach mal rein gar nichts an, was der einzelne Mensch ist, wenn es darum geht, wie wir mit ihm umgehen. Damit ist nicht die Staatsbürgerschaft gemeint, oder die berufliche Qualifikation, oder auch etwaige Krankheitsbilder (usw., es ist keine abgeschlossene Liste), also keine formalen Kriterien zur Einordnung, oder Faktoren, die eine tatsächliche Gefährdung anderer Menschen bedeuten, sondern das tatsächliche Wesen. Diese Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines jeden von uns führt zu dem von dir befürchteten moralischen Nihilismus, zu einer Kulturlosigkeit, selbst zu dem von dir ja immer wieder angeprangerten Hyperindividualismus, auch wenn das widersprüchlich klingt. Und es betrifft natürlich nicht nur Ungarn oder Polen, sondern alle Staaten Europas und insbesondere auch die Bundesrepublik.
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#32
Zitat:Diese Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines jeden von uns führt zu dem von dir befürchteten moralischen Nihilismus, zu einer Kulturlosigkeit, selbst zu dem von dir ja immer wieder angeprangerten Hyperindividualismus, auch wenn das widersprüchlich klingt.

Exakt so meine ich es ja. Seit Jahren schon bin ich der Überzeugung, dass der immer übergriffiger werdende Staat in dem Versuch es allen Recht zu machen, absolute Gerechtigkeit und Diskriminierungsfreiheit zu erzeugen und die Belange von allen so weitgehend wie möglich zu ihrem Besten zu regulieren genau jene schizophrene Mischung aus Unfreiheit und Hyperindividiualismus erzeugt, welche heute zunehmend ein praktisches Problem für die Funktionalität der Gesellschaft darstellt. Ein soziales Rebound-Phänomen. Der ausuferende Etatismus ist der Weg in den Hyperindividualismus und dieser führt zur nachhaltigen Unfreiheit aller und beides zusammen schließlich in eine dysfunktionale Nicht-Gesellschaft.

Was aber ist die gemeinsame Wertebasis Europas? Die Antwort ist hier nicht eine UN Menschenrechtskonvention oder dergleichen, sondern die einzige gemeinsame Wertebasis ist in Wahrheit das Christentum. Christliche Werte sind es, welche Europa ausmachen und welche Europa gemacht haben. Nun gab und gibt es innerhalb dieser christlichen Werte gerade in Europa schon immer schärfere und deutlichere Unterschiede auf geringerem geographischen Raum als dies in anderen Weltgegenden der Fall war. Europa war also bei einer gemeinsamen Wertebasis schon immer in sich selbst unterschiedlicher als andere geographische Räume und auch dies liegt an der tatsächlichen Ausformung des Landes wie der Gewässer, welche diese Vielfalt auf einem derart kleinen Raum ermöglicht haben. Es ist gerade eben diese christliche Einheit in Vielfalt, welche die größte Stärke Europas war (und ist) und welche es ermöglicht hat, dass Europa sich gegenüber allen anderen Gegenden der Welt global durchsetzen konnte.

Diese Vielfalt nun für eine de facto weitestgehend kulturlose und sehr stark amerikanisierte deutsche Gegenwartskultur einstampfen zu wollen, nur weil eine Mehrheit hierzulande dies so wünscht, gefährdet gerade eben diese Vielfalt welche die Stärke Europas ausmacht und schwächt damit die EU statt die Kohäsion in dieser zu erhöhen (was ja gerade eben das wahre Ziel dieser kulturellen Vereinheitlichung darstellt). Ein klassiches Rebound-Phänomen auf der sozialen Ebene.

Der Schutz von Minderheiten ist nun gerade eben auch ein christlicher Wert. Und es geht mir auch gar nicht darum, ob Minderheiten an sich geschützt werden sollten, sondern welche praktische Form, welche Ausgestaltung dieser Schutz annimmt und wie sehr der Minderheitenschutz zu einem Selbstzweck wird, der in Wahrheit nur den Eigenheiten der Mehrheit dient und in Wahrheit gar nicht der Minderheit selbst. Gerade die Angehörigen von Minderheiten können heute mit der Hysterie welche um sie veranstaltet wird selbst gar nichts mehr anfangen und finden viele der gegenwertigen Entwicklungen hier als absolute Fehlentwicklungen. Die Grundlage für vieles was hier als Anti-Diskriminierung und Minderheitenschutz verkauft wird ist in Wahrheit nichts anderes als gerade eben Diskriminierung und Rassismus. Aus den gleichen unterbewussten Mechanismen heraus aus welchen vorher Diskriminert wurde wird nun hysterische Anti-Diskriminierung betrieben. Entsprechend sind viele Strömungen der Anti-Diskriminierung inzwischen ganz offen einfach nur noch rassistisch und wo wir uns da hin entwickeln ist in Amerika bereits hier und heute gut zu beobachten.

Wenn nun in Teilen Europas bestimmte sozialkulturelle Werte und Normen von den unsrigen abweichen, dann stellt das natürlich einen Reibungspunkt dar. Aber mich erstaunt, wie sehr hier realpolitische Notwendigkeiten (das gemeinsame Bestehen der EU im globalen Kampf gegen andere Großmächte) von solchen Unterschieden her angegangen werden. Den die Funktionalität der EU ist in Wahrheit durch diese Reibungspunkte nicht in Frage gestellt (theoretisch), sie wird daher einfach nur künstlich von uns in Frage gestellt (praktisch), ohne dass dazu eine wirkliche poliltische Notwendigkeit bestünde. Und exakt so wird dies auch in den entsprechenden Teilen der EU empfunden.

Meine These dazu ist deshalb, dass die EU christlich sein muss und zugleich vielfältiger sein muss, oder sie wird scheitern. Ich halte deshalb einen Polexit oder allgemein einen Abfall Osteuropas für nicht so unwahrscheinlich wie es viele Politanalysten hier in dieser Bundesrepublik tun.
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#33
Aber den christlichen Kirchen laufen die Mitglieder davon. Und nun?
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#34
Die Krichenaustritte müssten vielleicht hinterfragt werden. Haben die Kirchenmitglieder ihre Kirche verlassen, weil sie keine christlichen Werte mehr brauchen, oder vielleicht, weil die Kirchen solche Werte nicht mehr vermitteln? Kichenfürsten, die dem Zeitgeist huldigen und nur noch "woke" sein wollen, liefern keine spirituelle Basis mehr. Wenn man im Gottesdienst den Eindruck gewinnt, auf einem Parteitag der Grünen zu sein (hatte glaube ich der Chefredakteur des Fokus nach eigenem Erleben so niedergeschrieben), spricht das eben nur noch ganz bestimme Menschen an. Der Auftrag der Seelsorge sollte vielleicht wieder das "Kerngeschäft" solcher Institutionen sein. Dann kämen möglicherweise auch wieder mehr Menschen in die Kirchen.
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#35
(24.07.2021, 10:33)Quintus Fabius schrieb: Meine These dazu ist deshalb, dass die EU christlich sein muss

Fundamentaler Wiederspruch von mir.
Die EU muss im Gegenteil radikal säkular/areligiös sein. Die ihr zugrundeliegenden Werte müssen völlig unabhängig von einer religiös-kirchlichen Weltanschauung stehen, auch wenn sie sich in ihrem Kern vielleicht mit den christlichen Wertvorstellungen decken.

Und wenn es mit einzelnen Mitgliedern nicht möglich ist, dieses Wertesystem aufrecht zu erhalten, dann muss man sich halt überlegen, ob eine echte UNION nicht vielleicht kleiner sein müsste als die EU27.


Allerdings kann ich dem christlichen Europa insofern bedingt zustimmen, dass es schwer werden dürfte, muslimisch geprägte Länder wie Albanien oder die Türkei in diese Gemeinschaft zu integrieren, da die religiöse Vorprägung der Gesellschaft noch deutlich stärker vorherrscht als in christlich geprägten Nationen.
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#36
Ottone:

Zitat:Aber den christlichen Kirchen laufen die Mitglieder davon. Und nun?

Das wichtigste dazu hat Aramiso ja schon beantwortet, von daher will ich da keine bloße Widerholung bringen. Ergänzend könnte man anmerken, dass die Abkehr von den Kirchen abgesehen von den von Aramiso schon so richtig genannten Gründen vor allem auch deshalb geschieht, weil die christliche Lehre in Wahrheit in der Kirche selbst nicht mehr real so durchgesetzt wird, wie sie eigentlich ist. Nehmen wir beispielsweise die aktuellen Skandale um pädophile Priester. Jeder dieser Priester sollte ausnahmslos vom Papst selbst sowohl für immer exkommuniziert als auch öffentlich verdammt und verflucht werden, so dass seine Seele ohne Möglichkeit der Errettung der Hölle anheim fällt. Ein solches Vorgehen wäre geboten, nicht aber dass man solche Todsünden aus Profitgier und anderen selbstischen Gründen unter den Teppich kehrt um dann nachdem dies scheitert das übliche Sozialpädagoginengewäsch von sich zu geben, was auch nur als Nebelkerze dienen soll.

Es ist gerade eben so wie aramiso es schreibt: die Kirche selbst hat sich in weiten Teilen von Christus abgewandt, und folgerichtig wenden sich die Menschen daher auch von der Kirche ab.

Broensen:

Ich habe dargelegt, warum die EU christlich sein muss, weil das Christentum in Wahrheit der Ursprung und die Wurzel Europas ist und genau jener gemeinsame Wertekanon, welcher als einziger ganz Europa durchzieht.

Warum aber soll deiner Ansicht nach Europa radikal säkular werden? Die sich daraus zwingend ergebende Schlußfolgerung, nämlich dass die EU zerfallen wird hast du ja wenigstens gleich selbst angeführt.

Da es hier um den Polexit geht, hier noch ein meiner Meinung nach recht interessanter Artikel zur Rolle und zur Macht der katholischen Kirche in Polen:

http://conciliumcivitas.pl/poland-as-an-...relations/

Im Prinzip hat sich in Polen der Katholizismus erst nach der ethnischen und kulturellen Homogenisierung Polens ab 1945 in dieser Art durchsetzen können. Vorher war Polen sowohl multireligiös als auch multiethnisch, was dein Einfluss der Kirche im Vergleich zu heute einschränkte. Die ethnische und kulturelle Homogenität Polens waren für das polnische Volk ein großer Gewinn und daraus ergibt sich heute in Polen eine positive Entwicklung hin zu mehr christlichen Werten und zu mehr genuin Europäischen Werten. Polen ist damit eine Nation welche viel eher als andere in der EU dazu geeignet wäre die EU als politischer Ausdruck des Raumes Europa zu verwirklichen. Es ist daher mehr als bedenklich, wie sehr Polen hier von bestimmten anderen Ländern (lies Bundesrepublik) in der EU ohne Sinn und ohne Not angegangen wird.

Warum sollte die EU deiner Meinung nach radikal säkular sein? Mal völlig abgesehen von meinen rein privaten Auffassungen dazu und rein von der Frage der Funktionalität und des praktischen Nutzens her: die christlichen Kirchen für die EU zu nutzen ist von erheblichem Vorteil. Eine radikal säkulare EU hingegen führt zwingend zum Zerfall und zur Schwächung der EU. Worin soll da der Sinn liegen?
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#37
(24.07.2021, 16:45)Broensen schrieb: Und wenn es mit einzelnen Mitgliedern nicht möglich ist, dieses Wertesystem aufrecht zu erhalten, dann muss man sich halt überlegen, ob eine echte UNION nicht vielleicht kleiner sein müsste als die EU27.

Früher wurde der Aufbau der EU damit begründet dass man einen zukünftigen weiteren verheerenden Krieg auf europäischem Boden verhindern bzw. unmöglich machen will. Gesetzt den Fall dies wäre immer noch eine der Hauptideen des Fundamentes der aktuellen EU, dann müsste man doch eigentlich eher alles dafür tun, dass nicht noch weitere Mitgliedsstaaten die EU verlassen (müssen).
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#38
Das wäre dann halt ein Werteverfall der EU.
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#39
(24.07.2021, 19:10)Quintus Fabius schrieb: weil das Christentum in Wahrheit der Ursprung und die Wurzel Europas ist und genau jener gemeinsame Wertekanon, welcher als einziger ganz Europa durchzieht.

Dieser Wertekanon hat sich mit der Aufklärung vom Christentum gelöst und unabhängig weiter entwickelt. Er umfasst viele neue Aspekte und hat andere überwunden. Auch wenn viele Werte des modernen Europas mit der christlichen Lehre übereinstimmen, gibt es trotzdem in so ziemlich jeder Kirche noch Ansichten, Regeln und Denkweisen, die diesem modernen Wertekanon entgegenstehen.

(24.07.2021, 19:10)Quintus Fabius schrieb: rein von der Frage der Funktionalität und des praktischen Nutzens her: die christlichen Kirchen für die EU zu nutzen ist von erheblichem Vorteil.

Organisierte Religion ist immer ein Mittel zum Zweck. Im besten Fall ist dieser Zweck, ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, dadurch dass religiöse Vorgaben den gesellschaftlichen Rahmen regeln.
Im ungünstigsten Fall ist der Zweck die Unterwerfung von Gesellschaften unter die Vorstellungen einzelner aus egoistischen oder einfach nur idiotischen Gründen.

So sinnvoll Religionen in der Geschichte der Menschheit auch gewesen sein mögen; zu den positiven Zwecken ist Religion in einer modernen aufgeklärten Gesellschaft schlicht und einfach nicht mehr erforderlich. Wenn sie heute noch gesamtgesellschaftlich Einfluss nimmt, führt das nicht mehr zum Guten, sondern richtet eigentlich immer nur noch Schaden an.

Ich gestehe dem religiösen Glauben und sogar den Kirchen einen gewissen Wert durchaus zu. Dieser kann aber nur im privaten des Individuums liegen, bzw. darauf aufbauend im Bereich der Wohlfahrt und Seelsorge. Hier leisten Kirchen extrem viel. Aber nichts, was darüber hinaus geht, bringt eine moderne Gesellschaft weiter, im Gegenteil.

(24.07.2021, 19:10)Quintus Fabius schrieb: Eine radikal säkulare EU hingegen führt zwingend zum Zerfall und zur Schwächung der EU. Worin soll da der Sinn liegen?

Diesen zwingenden Zerfall sehe ich nicht. Ich bin ein Verfechter des Europas der zwei Geschwindigkeiten. Also zum Einen einer Westeuropäischen Kerngemeinschaft, die viel stärker integrativ wirken kann, so dass eine echte Wertegemeinschaft mit einer tatsächlich gemeinsamen Außenpolitik entsteht. Und zum anderen einer deutlich größeren Gemeinschaft, die den einzelnen Mitgliedern mehr Freiräume gewährt, sich innerhalb eines geeinten Europas etwas unabhängiger zu entwickeln. So könnte die EU sogar noch weiter wachsen, während die absolut notwendige tiefergreifende Vereinigung der Union in vielen Bereichen dann einfach nicht für alle gilt.
Das ist mMn der einzige Weg, um das Dilemma aufzulösen, in dem die EU seit den Osterweiterungen feststeckt.
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#40
(25.07.2021, 00:24)Broensen schrieb: Diesen zwingenden Zerfall sehe ich nicht. Ich bin ein Verfechter des Europas der zwei Geschwindigkeiten. Also zum Einen einer Westeuropäischen Kerngemeinschaft, die viel stärker integrativ wirken kann, so dass eine echte Wertegemeinschaft mit einer tatsächlich gemeinsamen Außenpolitik entsteht. Und zum anderen einer deutlich größeren Gemeinschaft, die den einzelnen Mitgliedern mehr Freiräume gewährt, sich innerhalb eines geeinten Europas etwas unabhängiger zu entwickeln. So könnte die EU sogar noch weiter wachsen, während die absolut notwendige tiefergreifende Vereinigung der Union in vielen Bereichen dann einfach nicht für alle gilt.
Das ist mMn der einzige Weg, um das Dilemma aufzulösen, in dem die EU seit den Osterweiterungen feststeckt.

Das würde für Ungarn und Polen deiner Meinung nach was bedeuten?
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#41
Ottone:

Ein Werteverfall ist allein das, was hierzulande und in anderen Teilen West-Europas heute real stattfindet. Werte und Normen verfallen hier in dieser Bundesrepublik, während sie in anderen Teilen Europas noch aufrecht erhalten werden. Der verantwortliche für den Werteverfall sind daher wir.

Und wenn man geringfügig unterschiedliche Werte und Normen nicht akzeptieren kann, dann ist das politisch das Ende der EU, den diese Einheitlichkeit vermeintlicher Werte gibt es nicht und wird es nicht geben. Und das noch völlig abgesehen von der Frage ob die Fehlentwicklungen und der erhebliche Verlust von Werten in dieser Bundesrepublik überhaupt für alle anstrebenswert sind.

Broensen:

Zitat:modernen Wertekanon......echte Wertegemeinschaft

Und welche "Werte" sollen das sein? Selbst völlig unabhängig vom Christentum gibt es selbst in Westeuropa durchaus Unterschiede und wird der aktuelle moralische Verfall in dieser Bundesrepublik nicht von allen nach belieben geteilt? Hierzulande werden echte Werte viel zu weitgehend mit Dekadenz und Beliebigkeit verwechselt.
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#42
(24.07.2021, 10:33)Quintus Fabius schrieb: Was aber ist die gemeinsame Wertebasis Europas? Die Antwort ist hier nicht eine UN Menschenrechtskonvention oder dergleichen, sondern die einzige gemeinsame Wertebasis ist in Wahrheit das Christentum. Christliche Werte sind es, welche Europa ausmachen und welche Europa gemacht haben.

Das sehe ich anders, was wir als "Christliche Werte" bezeichnen war schon immer eine willkürliche Selektion aus einer Vielzahl an adaptierten Wertvorstellungen, bei denen die religiöse Komponente nur Mittel zum Zweck war. Es ist eine Art Rosinenpickerei, die in den letzten zwei Jahrtausenden stattgefunden hat und auch heute noch stattfindet, seit gut zwei Jahrhunderten insbesondere, um die Religion weiterhin als moralische Basis einer aufgeklärten Gesellschaft zu rechtfertigen. Insofern bin ich da eher bei Broensen, unsere gemeinsame europäische Wertebasis muss eine solche der Aufklärung sein, und dazu gehört insbesondere auch die Deklaration der Menschenrechte. Dass es bei einer solchen Wertebasis größere Schnittmengen mit den "Christlichen Werten" gibt liegt in der Natur der Sache, kann aber keine Rechtfertigung für eine größere Rückbesinnung auf die Religion als gemeinsamen Nenner sein.
Für eine Einordnung des Mitgliederschwunds der Kirchen muss man tatsächlich nach den Gründen schauen, wenn es aber ein breites Bedürfnis nach einer stärkeren Hinwendung zu traditionellen christlichen Werten auch in der Breite und Tiefe gäbe, so meine Behauptung, dann hätte die Kirche gar nicht erst das Bedürfnis, sich selbst zu reformieren. Denn das geschah und geschieht ja nicht aufgrund eines echten Wertewandels, der nun nach außen vertreten werden soll, sondern als Reaktion auf den gesellschaftlichen Wertewandel. Soll heißen, sicherlich wenden sich auch Personen von der Kirche ab, deren eigene Ansichten nicht durch eine aus ihrer Sicht zunehmend morallosere Kirche repräsentiert wird, in der Masse kann das aber nicht zur Erklärung der Abwendung von der Kirche und im Endeffekt vom Glauben ausreichen.

Allerdings ist das für mich auch gar nicht der entscheidende Punkt, denn das Problem auch mit Blick auf den vermeintlichen Werteverfall ist eher der Verlust von moralischen Autoritäten (auch auf die Gefahr hin, dass man mir das wieder negativ anrechnet). Mit dem Niedergang der Kirche, um das mal plakativ zu formulieren, gab es eine Renaissance der Philosophie, doch was ist von der in der öffentlichen Wahrnehmung geblieben? Die Abkehr von einer wirklichen Diskussion zur gemeinsamen Werteentwicklung in der Öffentlichkeit hat dazu geführt, dass eine vermeintliche Öffentlichkeit selbst diese Werteentwicklung voran treibt, und das nach dem Prinzip der Demagogie. Ich will das an dieser Stelle gar nicht Werten, denn die Möglichkeiten dieser Öffnung können sowohl positiv wie auch negativ sein, aber wir sollten sie nicht grundsätzlich mit Freiheit verwechseln, und wir müssen uns der Gefahren bewusst sein, die sie birgt.

Zitat:Gerade die Angehörigen von Minderheiten können heute mit der Hysterie welche um sie veranstaltet wird selbst gar nichts mehr anfangen und finden viele der gegenwertigen Entwicklungen hier als absolute Fehlentwicklungen.

Ich habe hier immer wieder angeführt, dass die lauten Meinungsführer nicht repräsentativ für die jeweiligen Minderheiten hinsichtlich der Art des Auftretens sind und es da sehr viel interne Kritik gibt, das gilt aber nur bedingt bei den jeweiligen Zielsetzungen. Insofern würde ich dies nicht als "absolute Fehlentwicklungen" bezeichnen, sondern vielmehr als typisches gesellschaftliches Phänomen, dass sich in den Vordergrund drängt, wer ein übertriebenes Geltungsbedürfnis hat. Das zieht sich allerdings wie ein roter Faden durch unser gesamtes Leben, egal ob Beruf, Gesellschaft, Politik, usw.
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#43
(25.07.2021, 06:48)lime schrieb: Das würde für Ungarn und Polen deiner Meinung nach was bedeuten?

Die Konsequenzen würden sich nicht gegen einzelne Staaten direkt wenden, sondern umgekehrt würden sich innerhalb der EU einzelne, vorwiegend westeuropäische Nationen zusätzlich zu einer engeren Gemeinschaft zusammenschließen, in der deutlich mehr Souveränität von den Staaten an diese Föderation abgetreten werden würde. Diese Föderation wäre dann das größte EU-Mitglied. Staaten, die das nicht wollen, verbleiben einfach in der EU, die dann halt etwas "großzügiger" mit Staaten wie Polen und Ungarn umgehen kann.

Ich weiß, das wäre ein großer, schwieriger Schritt auch in Westeuropa, aber wir können mit der weiteren europäischen Integration nicht ewig darauf warten, dass jedes einzelne Mitgliedsland endlich gesellschaftlich und politisch im 21. Jhd. ankommt.

(25.07.2021, 07:46)Quintus Fabius schrieb: Und welche "Werte" sollen das sein? Selbst völlig unabhängig vom Christentum gibt es selbst in Westeuropa durchaus Unterschiede und wird der aktuelle moralische Verfall in dieser Bundesrepublik nicht von allen nach belieben geteilt? Hierzulande werden echte Werte viel zu weitgehend mit Dekadenz und Beliebigkeit verwechselt.

Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit, Menschenrechte, persönliche Freiheit...
Helios hat es schon ganz gut getroffen: Die Werte der Aufklärung.
Wikipedia schrieb:Als wichtige Kennzeichen der Aufklärung gelten die Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz, ... der Kampf gegen Vorurteile und die Hinwendung zu den Naturwissenschaften, das Plädoyer für religiöse Toleranz und die Orientierung am Naturrecht. ... persönliche Handlungsfreiheit (Emanzipation), Bildung, Bürgerrechte, allgemeine Menschenrechte und das Gemeinwohl als Staatspflicht

(25.07.2021, 10:05)Helios schrieb: Dass es bei einer solchen Wertebasis größere Schnittmengen mit den "Christlichen Werten" gibt liegt in der Natur der Sache, kann aber keine Rechtfertigung für eine größere Rückbesinnung auf die Religion als gemeinsamen Nenner sein.

Hierbei ist auch zu beachten, dass eine Aufklärung in dieser Form bisher nur in den zuvor christlichen Gesellschaften Europas stattgefunden hat. Somit ist dieser moderne aufgeklärte Wertekanon eine Weiterentwicklung des christlichen. Jede vergleichbare Entwicklung in anderen Teilen der Welt basiert auf dieser europäischen Aufklärung und trifft in den entsprechenden Regionen auf massiven Wiederstand der dort vorherrschenden Gesellschaftsbilder, meist religiöser Natur.
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#44
Allen Hochkulturen droht früher oder später der Verfall. Das als Abendland bezeichnete europäische Kulturmodell scheint an sein Ende zu kommen. Irgendwann sind die Errungenschaften der Zivilisation verlockender, als die alten Kulturwerte. Doch wenn die Leute nicht mehr stolz darauf sind, Ägypter, Griechen, Römer, Genueser oder Briten zu sein, wenn es genügt, gut zu leben und sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren, dann setzt langsam der Verfall ein. In Polen und Ungarn, das ist meine Interpretation, wird dieser Niedergang bewusster wahrgenommen, als beispielsweise in Deutschland. Die Rückbesinnung auf Werte wie Kirche, Familie, Heimatliebe, etc. ist ein Versuch, gewachsene Strukturen noch etwas länger am Leben zu erhalten. Aus Sicht von Nationen, die dem westlichen Zeitgeist scheinbar etwas hinterherhinken, ist der Kampf gegen die westliche Dekadenz aus ihrer Sicht notwendig, aber objektiv betrachtet, in dieser Form aussichtslos. Man will die Segnungen der westlichen Zivilisation, den hohen Lebensstandard auch im eigenen Land, die negativ empfundenen Begleiterscheinungen aber draußen halten. Doch einen Tod muss man aber sterben. Polen und Ungarn könnten den gleichen Lebensstandard wie Mitteleuropa erreichen. Die Gesellschaft würde dabei aber die gleichen Prozesse durchleben, wie wir sie bei uns sehen: Individualisierung/Vereinzelung, Egoismus, Wohlstandsverwahrlosung, etc. Das Hochhalten der idealisierten Werte geht nur um den Preis einer gewissen Abgrenzung. Die Polen liegen strategisch ungünstig zwischen den Machtblöcken Brüssel und Moskau. Eine neutrale Position einzunehmen, wird man den Polen schon aus geostrategischen Gründen nicht erlauben. Sie hätten theoretisch die Möglichkeit, sich den Russen zu öffnen. Zur Aufrechterhaltung ihrer kulturellen Werte, wäre das sogar vermutlich eine funktionierende Lösung. Eine politische und militärische Abhängigkeit von Putin wird aber vermutlich von keinem Polen auch nur in Betracht gezogen. Für Polen wird zeitverzögert all das blühen, was wir schon längst kennen: Verwahrlosung der Innenstädte, Zunahme der Kriminalität, Kinder, die für das Klima hüpfen und die Diskussion, ob es so etwas wie polnische Kultur überhaupt gibt.
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#45
Welche Zunahme der Kriminalität? Und warum sind hüpfende Kinder eine Bedrohung oder Ausprägung des Verfalls? Sie halten nur den Habenden vor, dass sie ihr eigenes Wohlergehen auf Kosten der Kindergeneration geniessen.

Ich nehme aus der Diskussion mit: Es gibt einige Diskussionsteilnehmer, die sich eine Welt mit festeren Regeln und in Folge weniger Freiheiten wünschen. Um das Christentum an sich geht es dabei weniger, mehr um konservative und klare Strukturen, die sich nicht verändern (selbst wenn sich die Welt ändert), und bei denen die Menschen eindeutig als Mitglied (drinnen) und Nichtmitglied (draussen) identifiziert und behandelt werden. Man widerspreche mir!

Randbemerkung: Manchmal wünschte ich mir, dass dieses Forum für eine Woche bestimmte Begriffe und Worte sperren könnte wie Verfall, Untergang, Verwahrlosung, zwingend, unausweichlich. Aber vielleicht liesse sich so etwas ja einmal als gemeinsames Experiment organisieren?
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