(Allgemein) Bundeswehr – quo vadis?
Redhead:

Zitat:Weiss sie was sie will bzw. benötigt und was sie für ihr Geld bekommt?

Die Bundeswehr hat meiner Meinung nach keinen kohärenten Plan, keine tatsächliche Idee wie sie ihre militärische Schlagkraft maximieren könnte und mit welcher Zielsetzung diese zu maximieren wäre, sie ist eine Gucci Armee die zwar weiß was sie will, aber nicht weiß dass das was sie will Unsinn ist. Vereinfacht gesagt kann sie gar nicht wissen was sie benötigt, weil sie gar nicht weiß wofür sie es benötigt.

Zitat:Wie war das mit dem Korvetten und den Getrieben? Kommt der Zerstörer oder wie man dem sagen will nicht zu spät und am Trend vorbei geplant? Was ich so lese sind mehr Fregatten gefragt und keine Zerstörer und Kreuzer.

Die Marine ist so ein Musterbeispiel für das oben von mir angeführte. Und genau genommen könnten wir sogar ad extremum komplett auf eine Marine verzichten, da diese zur Landesverteidigung als grundgesetzlichem Auftrag unnötig ist und für Neo-Kolonial-Scharmützel ebenfalls von höchst fragwürdigem Nutzen. Also werden alle nur denkbaren Pseudo-Ziele formuliert nur um die Ausgaben für die Marine zu legitmieren (Sicherung Handelswege, Piraten und ähnlicher Unfug). Genau genommen rüstet man die Marine frei von jeder tatsächlichen militärischen Sinnhaftigkeit. Das heißt nicht, dass man nicht eine tatsächlich sinnvolle Marine schaffen könnte. Aber Gucci Armee welche die Bundeswehr nun mal ist rüstet man einfach irgend was vor sich hin.
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(02.06.2021, 21:02)Redhead schrieb: Flugzeuge. Gemäss dem Bericht der Evaluation für einen neuen Flieger (Schweiz) vor ca 8 Jahren, war der Rafale klar der beste. Sind die Franzosen nicht aus einem Gemeinschaftsprojekt ausgestiegen als die sahen, es geht in ihren Augen nicht in die richtige Richtung?

Nur weil die Rafale sich für die Schweiz als beste Lösung darstellt, muss sie das ja nicht für jeden sein. Der beste Bomber taugt nix, wenn man einen Jäger braucht. Wenn gemeinsame Entwicklungen scheitern, liegt das für gewöhnlich an unterschiedlichen Zielsetzungen. Was soll falsch daran sein, wenn zwei Entwicklungspartner sich trennen, weil sie unterschiedliche Ziele verfolgen? Klar, hätte man wahrscheinlich früher feststellen müssen, aber warum sollte Deutschland eine Rafale entwickeln und kaufen, wenn sie ein ganz anderes Flugzeug braucht?

(02.06.2021, 21:02)Redhead schrieb: Generell habe ich das Gefühl, dass die Franzosen anscheinend besser Wissen was sie benötigen, die Rüstüngsindustrie das auch liefert. Und sie bereit sind, aus einem Gemeinschaftsprojekt auszusteigen, wenn sie das Gefühl haben, es laufe in die falsche Richtung.

Ja, das stimmt. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass die Entscheidungen der Franzosen auch für die Bundeswehr die richtigen gewesen wären. Boxer/VBCI ist ein gutes Beispiel: Die Entwicklung sollte eigentlich gemeinsam betrieben werden, dann ist Frankreich ausgestiegen, weil sie andere Vorstellungen hatten. Im direkten Vergleich bleibt das VBCI jetzt weit hinter dem Boxer zurück und wäre für Deutschland absolut unsinnig gewesen. Für Frankreich war es aber sehr sinnvoll.
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@Broensen:
Nur weil die Rafale sich für die Schweiz als beste Lösung darstellt, muss sie das ja nicht für jeden sein. Der beste Bomber taugt nix, wenn man einen Jäger braucht. Wenn gemeinsame Entwicklungen scheitern, liegt das für gewöhnlich an unterschiedlichen Zielsetzungen. Was soll falsch daran sein, wenn zwei Entwicklungspartner sich trennen, weil sie unterschiedliche Ziele verfolgen? Klar, hätte man wahrscheinlich früher feststellen müssen, aber warum sollte Deutschland eine Rafale entwickeln und kaufen, wenn sie ein ganz anderes Flugzeug braucht?

Die Rafale war als Multirole-Kampfflugzeug konzipiert, das sowohl als Jäger, Bomber und Trägerflugzeug zum Einsatz kommen soll. Der Eurofighter war speziell als Luftüberlegenheitsjäger geplant. Jetzt soll er auch mehr und mehr als Jagdbomber eingesetzt werden. Die Rafale ist für ein breiteres Aufgabenspektrum geeignet, weil so geplant. Mittlerweile zweifele ich auch daran, dass der Eurofighter in der Rolle des Jagdflugzeugs besser ist. In simulierten Luftkämpfen zeigte der Eurofighter zwar eine bessere Steigfähigkeit, aber zu meiner großen Überraschung scheint die Rafale im Dogfight klar besser zu sein. Und als Bomber kann die Rafale 1.000 Kg mehr an Zuladung mitführen. Bei der Radartechnik werden beide Typen gerade verbessert. Wer hier die Nasse vorn hat, kann vielleicht ein Fachmann sagen. Alles in allem scheint die Rafale das klar bessere Flugzeug zu sein.
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(02.06.2021, 23:12)Quintus Fabius schrieb: Redhead:
Die Bundeswehr hat meiner Meinung nach keinen kohärenten Plan, keine tatsächliche Idee wie sie ihre militärische Schlagkraft maximieren könnte und mit welcher Zielsetzung diese zu maximieren wäre, sie ist eine Gucci Armee die zwar weiß was sie will, aber nicht weiß dass das was sie will Unsinn ist. Vereinfacht gesagt kann sie gar nicht wissen was sie benötigt, weil sie gar nicht weiß wofür sie es benötigt.

Der Auftrag ist doch eigentlich recht klar: Landesverteidigung. Unabhängig von den tatsächlichen politischen Gefahren ist ebenfalls klar, dass als potenzieller Gegner Russland angesehen wird. Die Fähigkeiten und Grenzen der russischen Armee mögen vielleicht nicht im allerletzten Detail kalkulierbar sein, aber es dürfte ein recht brauchbares Wissen darüber in der NATO geben.

Daraus sollte sich ableiten lassen, welche Ausrüstung (Personalstärke ist wieder ein anderes Thema) benötigt wird, um solch einen schlagkräftigen Gegner aufzuhalten, oder zumindest so abzunutzen, dass kaum noch brauchbare russische Verbände bis zum Rhein kommen.
Die Bundeswehr darf also nicht mit dem angenehmsten Szenario rechnen (die russischen Stoßkeile bleiben schon zum Großteil in der Ukraine liegen; den Rest erledigen US-Truppen zusammen mit Polen weit vor der Weichsel), sondern mit einem Worst-Case-Szenario: Was können wir tun, wenn die Russen an der Oder stehen oder schon erste Brückenköpfe auf deutschen Boden gebildet haben? Wenn man entscheidet, dass man sie ohnehin nicht aufhalten kann/will, ist das was wir haben, mehr als genug.

Wenn man einen Angriff abwehren will, muss man bereit sein, dafür vielleicht neue Wege zu gehen. Das ist es, was mich am meisten stört: Ich sehe keine "Querdenker", die innovative Ansätze prüfen. Neue Taktiken, andere Ausrüstung und Bewaffnung. Was Nationen tun, die auf jeden Fall gewinnen wollen, sieht man bei den Israelis. Nur als Beispiel: Die Sa’ar-6-Klasse ist geradezu grotesk stark bewaffnet. Bei den deutschen Korvetten sieht das vergleichsweise bescheiden aus.
Die Bundeswehr scheint mir bei neuen Entwicklungen etwas planlos hinterher zu stolpern. Die Truppe erhält entweder Goldrandlösungen in homöopathischen Dosen, oder wird auf die ferne Zukunft vertröstet und muss weiterhin Systeme betreiben, die schon 50 Jahre alt sind. Wo sind neue Ideen und Lösungen, die nicht schon von anderen Streitkräften vorgedacht wurden? Wenn man schon eine sehr begrenzte Anzahl von Verbänden hat, wie stattet man sie mit überlegener Feuerkraft aus? Wie könnte man taktische Überlegenheit erlangen?

Die Überlegungen wie Landesverteidigung funktionieren könnte, dürften für Zorn & Co. kein Neuland darstellen. Dass das Thema so unambitioniert verfolgt wird (drei funktionierende Divisionen bis 2032), kann doch nur daran liegen, dass die Politik (nicht nur wegen der Kosten) bremst, oder die Auswahl der obersten Generäle anderen Kriterien folgt, als der Truppe gut tut.
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@aramiso:
guter Beitrag!
wenn man sich genau auf dieses Szenario konzentrieren würde könnte man die Landstreitkräfte entsprechend ausrüsten...
klassisch wären wohl mindestens
800 Leopard 2
1600 SPZ Puma/Lynx
moderne Artillerie und Aufklärung nötig...

man könnte aber auch anders denken dass und moderne Systeme mit Maße kombinieren...
mal anders gedacht könnte man auch auf
50.000 JLTV setzen... bewaffnet mit 30mm Kanone und Spike LR oder Spike NLOS
dann hätte man Masse kombiniert mit Feuerkraft und wenigstens gegen mittlere Bedrohungen gepanzert...
dazu auch Artillerie und gute Aufklärung

Oder man beschafft 1000 Apache Helis
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(03.06.2021, 11:16)aramiso schrieb: Die Rafale war als Multirole-Kampfflugzeug konzipiert, das sowohl als Jäger, Bomber und Trägerflugzeug zum Einsatz kommen soll. Der Eurofighter war speziell als Luftüberlegenheitsjäger geplant.

Das ist mir bekannt und war ja gerade der Grund dafür, dass sich die Vorstellungen der Projektpartner zu weit unterschieden haben.

(03.06.2021, 11:16)aramiso schrieb: Jetzt soll er auch mehr und mehr als Jagdbomber eingesetzt werden. Die Rafale ist für ein breiteres Aufgabenspektrum geeignet, weil so geplant.

Richtig. Deutschland und England hatten einfach damals andere Ziele, weil sie den Tornado hatten und weiterhin mit einer 2-Muster-Flotte geplant haben, mit einem spezialisierten Jäger EF, während Frankreich einfach früher auf den Allround-Mehrzweck-Spar-Ansatz gesetzt hat. Somit hatte vielleicht Frankreich früher erkannt, dass es sich den teureren, wenn auch besseren 2-Muster-Weg nicht mehr leisten kann als Deutschland.
Hätten wir, wie damals erwartet, frühzeitig einen hochwertigen Tornado-Nachfolger entwickelt, sähe die Situation jetzt anders aus. Aber der "Jäger 90" hatte einfach die "Friedensdividende 89" noch nicht berücksichtigt.

(03.06.2021, 11:16)aramiso schrieb: Wer hier die Nasse vorn hat, kann vielleicht ein Fachmann sagen. Alles in allem scheint die Rafale das klar bessere Flugzeug zu sein.

Welches Waffensystem das "bessere" ist, kann man immer nur im Hinblick auf eine Aufgabenstellung entscheiden. Deshalb kann die Schweiz zwar feststellen, dass die Rafale für deren Aufgabenstellung die bessere ist (was sie womöglich ist, wenn man einen Allrounder sucht), das heißt aber noch lange nicht, dass sie z.B. für die Briten als F-35-Ergänzung sinnvoller als deren EF-Typhoon wäre.
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Und wieder sind wir bei der Frage aller Fragen ... welche Doktrin verfolgt die Bundeswehr. De facto ist die Bundeswehr nicht in der Lage an einem andauernden und intensiven konventionellen Krieg teilzunehmen. Weder haben wir dazu das quantitative und qualitative Kriegsmaterial noch die Munitionsreserven und vor allem keine Kriegserfahrung. Wir haben schon in Afghanistan eine Menge Blutgeld gegen schlecht organisierte Guerillasoldaten bezahlt.

In einem konventionellen Gefecht wird sich am Ende immer die Fraktion behaupten, die über massive Feuerkraft in ausreichend quantitativer Anzahl verfügt. Natürlich gilt das nur, so lange nicht gegen eine Übermacht gekämpft wird.

Unserem Land und unserer Generation fehlt es an Werten und Tugenden, die eine militärische Durchsetzungsfähigkeit hervorrufen. Wir haben in allen Teilstreitkräften einen geradezu lächerlichen „bang for the buck“ oder Output nach Input. Uns fehlt es an Soldatenidealen, stattdessen werden Abenteurer in Uniform rekrutiert.

Der Trend ist allerdings in vielen Ländern zu sehen, wir sind da kein Einzelfall. Zu einem Krieg mit Russland wird es sowieso nie mehr kommen, von daher ist es letzten Endes egal, ob wir einen obsoleten Eurofighter oder eine hoffnungslos veraltete F-16 zum Air Policing ins Baltikum schicken.

Der komplette deutsche Regierungs- und Verteidigungsapparat ist so verfault, dass dort keine Reform und keine zusätzlichen Milliarden jemals aus der Bundeswehr eine kriegsbereite Armee machen könnten. Das sollte man so akzeptieren und die Bundeswehr als eine Art Expeditionskorps sehen, die Bündnisverpflichtungen wahrnimmt. Wir schicken Tanker, machen Kontrollflüge und Fotos. Für Kriegshandlungen lassen wir gerne die anderen vor, die sich des Öfteren leider auch nicht ruhmreich bewähren.
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(03.06.2021, 14:33)ObiBiber schrieb: @aramiso:
guter Beitrag!
wenn man sich genau auf dieses Szenario konzentrieren würde könnte man die Landstreitkräfte entsprechend ausrüsten...
klassisch wären wohl mindestens
800 Leopard 2
1600 SPZ Puma/Lynx
moderne Artillerie und Aufklärung nötig...

man könnte aber auch anders denken dass und moderne Systeme mit Maße kombinieren...
mal anders gedacht könnte man auch auf
50.000 JLTV setzen... bewaffnet mit 30mm Kanone und Spike LR oder Spike NLOS
dann hätte man Masse kombiniert mit Feuerkraft und wenigstens gegen mittlere Bedrohungen gepanzert...
dazu auch Artillerie und gute Aufklärung

Oder man beschafft 1000 Apache Helis

So sehe ich das auch. Der Ansatz "wir haben eine ähnliche Bewaffnung wie der Feind, aber leider nur 10% davon", schreckt keinen Gegner ab. Entweder muss die Bundeswehr wieder wachsen und große Mengen an Leos, etc. vorhalten, oder man braucht unkonventionelle Ideen. Wenn man einen Panzerkeil nicht stoppen kann, dann vielleicht die nachfolgenden Verbände. Wie können schnelle, schlagkräftige Verbände den Nachschub unterbinden? Wie könnte man mit leichten, mobilen Einheiten ausgestattet mit NLOS vorrückende Panzerverbände dezimieren? Welche Entwicklungen brauchen wir, um die gegnerische Artillerie auf große Entfernungen auszuschalten (zumindest daran wird ja gearbeitet)? Mit "klein und selten fein" wird die Bundeswehr sicher keinen echten Gegner abschrecken.
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@Aramiso: Die veröffentlichte Bewaffnung der Saar 6 ist nur eine theoretische und geht stark zu Lasten von Reichweite und Durchhaltefähigkeit, ggf. auch der Stabilität. Israel muss einfach keine grosse Reisen machen und operiert nur direkt vor den eigenen Küsten. Der Gegner ist idR asymmetrisch. Keine andere Marine hat solche Anforderungen.

Eine starke konventionelle Aufrüstung der Bundeswehr (kolportierte 800 Panzer) würde schnell eine Rüstungswettlaufspirale und vor allem militärpolitische Konsequenzen haben. Für die Besetzung der Panzer wären andere Dienstposten und Fähigkeiten zu opfern, oder aber eine neue Art Wehrpflicht einzuführen. Klingt nicht nach einem umsetzbaren Plan in einer Welt, in der andere Fähigkeiten in den Fokus rücken (Raketen, Drohnen, Kommunikation, Cyber, SOF).
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@ Ottone:

Ja, eine massive zahlenmäßige Aufrüstung wäre politisch nicht durchzusetzen.
Allerdings ist die Bundeswehr weit über das Maß geschrumpft, als es notwendig gewesen wäre. Das ist jetzt schwer zu revidieren, da die Strukturen nicht mehr vorhanden sind. Ich glaube allerdings nicht, dass ein Wettrüsten beginnen würde, wenn der Bund 800 Panzer hätte. Verglichen mit der Größe des Landes haben wir zu wenige. Die Polen mit 37 Mio. Einwohnern verfügen über rd. 700 Panzer. Die Schweden mit ihren 10 Mio. Einwohnern haben 280 Panzer. Da sind die unsere zukünftig 328 Panzer nicht besonders viel.
Der 2-plus-4-Vertrag sieht immerhin eine Obergrenze für die Bundeswehr von 370.000 Mann vor. Eine Zahl, die wir natürlich nie mehr erreichen oder finanzieren könnten, aber das wäre immer noch eine legitime Größe.

Aber zur Ausgangsfrage zurück: Welche Befähigung zur Landesverteidigung wollen wir haben und welche Ausstattung wäre dazu notwendig? Daraus sollte dann auch die Anzahl und Art der Waffensysteme resultieren.
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Wer hinsichtlich der Ausrüstung der Bundeswehr den internationalen Vergleich sucht, der sollte das schon gründlich machen. Nirgendwo auf der Welt ist der Rasen grundsätzlich grüner als bei uns, vielmehr geht es überall nur um verschiedene Brauntöne, genauso wie bei uns. Wenn es also irgendwo anders vermeintlich grundsätzlich runder läuft, und nicht nur auf einzelne Projekte bezogen, dann stimmt da etwas nicht mit der Quellenlage.

(02.06.2021, 23:12)Quintus Fabius schrieb: Die Marine ist so ein Musterbeispiel für das oben von mir angeführte. Und genau genommen könnten wir sogar ad extremum komplett auf eine Marine verzichten, da diese zur Landesverteidigung als grundgesetzlichem Auftrag unnötig ist und für Neo-Kolonial-Scharmützel ebenfalls von höchst fragwürdigem Nutzen.

Bei der Landesverteidigung geht es nicht nur um das geographische Gebiet, sondern auch um die Interessen des Volkes, und die sind heute stärker denn je global zu suchen. Was bringt es, sich gegen einen fiktiven Angriff Russlands zu rüsten, wenn es vielerorts eine reale Bedrohung der Handelsrouten gibt, die unmittelbar unseren Wohlstand gefährden? Navigare necesse est! (und ja, vivere non necesse!).

(03.06.2021, 16:42)aramiso schrieb: Die Polen mit 37 Mio. Einwohnern verfügen über rd. 700 Panzer. Die Schweden mit ihren 10 Mio. Einwohnern haben 280 Panzer.

Für Polen gelten zwei Aspekte. Zum einen hat das Land zwar nominell über 700 Panzer im Bestand, man sollte aber auch einen realistischen Blick auf den jeweiligen Technik- und Technologiestand werfen. 230 modernisierte T-72 und ebenso viele PT-91, letztlich auch "nur" modernisierte T-72, plus knapp 250 Leopard, die ebenfalls nicht dem aktuellen Stand entsprechen (auch nach der Modernisierung nicht). Das Land setzt auf Masse und Unterhalt, nicht auf Beschaffung. Zum anderen ist Polen sehr deutlich auf das Heer fokussiert, Luftwaffe und Marine spielen eine untergeordnete Rolle. Ob diese Konstellation in einem möglichen Konflikt mit Russland wirklich Sinn ergibt, sei dahingestellt, als Referenz für Deutschland darf Polen aber diesbezüglich nicht gelten.

Die schwedischen Streitkräfte rüsten gerade 87 Strv 122A auf den C-Standard und die 14 für Auslandseinsätze vorgesehene Strv 122B auf den D-Standard (wenn ich jetzt gerade die Versionen nicht durcheinander bringe) auf, macht also 101 Kampfpanzer insgesamt.

Genauso wie bei den israelischen Korvetten oder allen anderen Vergleichen führt dieses Zahlendenken nirgendwo hin. Auch wenn natürlich die Quantität eine Rolle spielt, und diese an vielen Stellen bei der Bundeswehr zu wünschen übrig lässt, so sollten die Vergleiche, insbesondere wenn sie der Kritik dienen, meines Erachtens doch tiefer gehen.
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aramiso:

Zitat:Der Auftrag ist doch eigentlich recht klar: Landesverteidigung.

Das ist heutzutage einfach nur noch eine Worthülse. Man verwendet den Begriff, aber er hat genau genommen keinen echten Inhalt. Es fehlt jedwede klare und absolut eindeutige Definition, es fehlt jedwedes realistische Szenario, es fehlt an jeder notwendigen Vorbereitung. Kurz und einfach: Die Bundeswehr behauptet, sie sei für die Landesverteidigung da. Dabei ist sie dies in Wahrheit nicht und selbst unabhängig davon kann sie die Landesverteidigung auch gar nicht gewährleisten. In großen Teilen weiß sie nicht einmal was genau die Landesverteidigung sein soll.

Zitat:Bei der Landesverteidigung geht es nicht nur um das geographische Gebiet, sondern auch um die Interessen des Volkes, und die sind heute stärker denn je global zu suchen. Was bringt es, sich gegen einen fiktiven Angriff Russlands zu rüsten, wenn es vielerorts eine reale Bedrohung der Handelsrouten gibt, die unmittelbar unseren Wohlstand gefährden?

Gemäß dem Grundgesetz und dessen Intention geht es eben keineswegs um die Sicherung von Handelsrouten. In keinster Weise stellt der Bund Streitkräfte zum Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen auf, so steht das nicht im Grundgesetz und so ist der entsprechende Artikel nicht gemeint. Aber mal völlig unabhängig davon und außerhalb des Bodens des Grundgesetzes: die deutsche Marine kann unsere Handelsrouten sie wie sie zur Zeit aufgestellt ist und so wie sie zur Zeit operiert in Wahrheit eben nicht schützen. Sie kann die realen Bedrohungen für diese Routen nur in ganz bestimmten Einzelfällen abwehren und dann meist auch nur im Verbund mit anderen.

In diesem bestimmten Einzelfällen (beispielsweise Piraterie) könnte man unsere Handelsrouten auch sehr viel günstiger, sehr viel effizienter und sehr viel besser schützen als es die Marine hier und jetzt kann. Man braucht keine x-Milliarden Euro Fregatten dafür. Und gegen ernsthafte staatliche Angriffe auf unsere Handelsrouten ist die Marine in ihrer jetzigen Verfassung ungeeignet.

Das ganze was du hier anführst ist aber eigentlich ein sehr gutes Musterbeispiel dafür was ich oben aramiso geantwortet habe: man redet zunächst möglichst nebulös von Landesverteidigung, ohne klar zu definieren was exakt für Szenarien auf was exakt für eine Weise hier gelöst werden sollen. Dem folgend propagiert man ebenso nebulös etwas von Sicherung von Handelsrouten und erklärt daraus folgend dann ganz konkret, dass meine Art Blue Water Navy braucht um diese zu sichern. Zu sichern gegen wen? Wo? Unter welchen Umständen? Auf welche Weise? Und gäbe es andere Wege das gleiche Ziel effizienter zu erreichen? Und ohne eine dieser Fragen tatsächlich zu beantworten, fängt man dann bei den konkreten Einzelsystemen dann damit an ganz bestimmte und präzise definierte Anforderungen zu stellen, während alle eigentlich vorher zu klärenden Fragen gar nicht ausreichend beantwortet sind. Damit hängt die Beschaffung der Systeme de facto in der Luft, sie entbehrt der eigentlich für jede Beschaffung notwendigen Grundlage.

ObiBiber:

Zitat:wenn man sich genau auf dieses Szenario konzentrieren würde könnte man die Landstreitkräfte entsprechend ausrüsten...
klassisch wären wohl mindestens
800 Leopard 2
1600 SPZ Puma/Lynx

Mit einem Wort: Strukturextrapolierung. Den tatsächlich notwendigen Denkumschwung reißt du auch schon an:

Zitat:man könnte aber auch anders denken.....
mal anders gedacht könnte man auch auf
50.000 JLTV setzen... bewaffnet mit 30mm Kanone und Spike LR oder Spike NLOS
dann hätte man Masse kombiniert mit Feuerkraft und wenigstens gegen mittlere Bedrohungen gepanzert.

Aber beides beantwortet genau genommen nicht die vorher eindeutig zu klärenden Fragen: auf welche Weise genau sollen wo genau diese Systeme wie genau gegen wen genau eingesetzt werden und was soll durch diesen Einsatz bezweckt werden, wie interagiert dieser Einsatz mit anderen Faktoren, was für alternative Möglichkeiten bieten sich und was für andere Szenarien und Einsatzweisen könnten wie von diesen Systemen abgedeckt werden usw usw usf

Systeme im luftfreien Raum. Nun schreibst du ja explizit von Russland / Osteuropa. Aber auch das ist genau genommen zu diffus. Den auch hier sind sehr viele sehr unterschiedliche Szenarien denkbar.

aramiso:

Zitat:Das ist es, was mich am meisten stört: Ich sehe keine "Querdenker", die innovative Ansätze prüfen.

In dieser Bundeswehr wie sie nun einmal so ist, ist Querdenken völlig konträr zu dem was die Führung der Bundeswehr in Wahrheit will und das was sie will hat wenig mit militärischer Schlagkraft zu tun. Das ist eine Beamten-Bürokratie die nebenbei so tut als ob sie eine Armee wäre.

Aber auch Querdenken darf kein Selbstzweck sein. Ständig alles vollkommen ändern zu wollen ist keine Lösung, es ist nur eine Methode. Die eventuell zu einer Lösung wird, oder eben auch nicht. Und genau das hängt eben wieder davon ab, von was genau wir überhaupt reden. Und da die Führung der Bundeswehr nur noch Buzzword-Bingo spielt und Worthülsenkakophonie, wird genau dieser entscheidende Faktor (was genau) auch weiterhin außen vor bleiben.

GMP:

Zitat:Und wieder sind wir bei der Frage aller Fragen ... welche Doktrin verfolgt die Bundeswehr.

Ich vermute du verwendest hier den Begriff mit einer anderen Bedeutung, aber auch die Frage der Doktrin ist eigentlich erst einer der weiteren Schritte nachdem man vorher bereits eine ganze Reihe anderer Fragen exakt geklärt hat.

Zitat:In einem konventionellen Gefecht wird sich am Ende immer die Fraktion behaupten, die über massive Feuerkraft in ausreichend quantitativer Anzahl verfügt.

Jedes Gefecht, völlig gleich ob konventionell oder unkonventionell ist eben kein Selbstzweck. Es dient einem anderen höheren Zweck. Heute konzentrieren sich selbst innerhalb der Bundeswehr viel zu viele allein auf den Sieg im Kampf, statt auf den Sieg im Krieg. Rein theoretisch könnte man jeden Krieg entscheiden ohne auch nur ein einziges Gefecht zu führen.

Die Bundeswehr hat noch lange vor jeder Doktrin überhaupt gar kein Konzept wie sie überhaupt einen ernsthaften Krieg strategisch führen will. Sie hängt in zu großen Teilen auf der operativen Ebene oder darunter fest, und auch die zivile Politik hat kein wirkliches strategisches Konzept sondern faselt davon dass unsere Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird und heute von der Sicherung von Handelsrouten als Landesverteidigung und vom Suwalki-Gap.

aramiso:

Zitat:Aber zur Ausgangsfrage zurück: Welche Befähigung zur Landesverteidigung wollen wir haben und welche Ausstattung wäre dazu notwendig?

Ich will noch eine Frage davor anfangen: was genau soll heute Landesverteidigung sein? Was sind überhaupt die echten (militärischen) Gefahren welche die Existenz der Bundesrepublik bedrohen? Gegen was exakt stellt der Bund Streitkräfte zu seiner Verteidigung auf? Und gleich vorab: ich halte allgemein gehaltene Allgemeinplätze ala Russland, Handelsrouten, Interessen für absolut unzureichend. Wenn schon der Beginn einer solchen Kausalkette zu ungenau ist, dann pflanzt sich dass durch die ganze Kette immer weiter fort und kann nie die dann tatsächlich notwendige Ausstattung erreicht werden.

Ansonsten wird es auf:

800 bewaffnete Drohnen und 1600 HIMARS vs. 800 MGCS und 1600 PUMA vs 50.000 JLTV Panzerjäger hinauslaufen. Und dann steht man als nächstes völlig gleich wofür man sich davon dann entscheidet einem Guerillakrieg der russischen Minderheit im Baltikum gegen die Baltischen Staaten gegenüber, oder einem ausgedehnten Seekrieg mit China im Indopazifik oder eine Massenflucht von Millionen und Abermillionen Afrikanern in Richtung Europas, oder was sonst noch.
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https://www.behoerden-spiegel.de/2021/06...-meint-33/


Neben den “großen Linien” des Eckpunktepapiers der Bundesministerin der Verteidigung und des Generalinspekteurs der Bundeswehr, die ja nun ausgiebig von Sicherheits- und Militärexperten kommentiert wurden, zeigt der Blick ins Detail doch ganz erhebliche Aufgaben für die Streitkräfteentwicklung.

In der Dimension Land muss der Begriff der mittleren Kräfte, jahrzehntelang ein “Unwort” in der Heeresplanung, mit Strukturen, Einsatzkonzepten und Rüstungsforderungen hinterlegt werden. Sollen diese Kräfte zum Beispiel auch das Gefecht der Verbundenen Waffen führen können? Welche “radbeweglichen” Waffensysteme braucht man dazu?

Die Dimension Luft hat im Hinblick auf eine rasche Erhöhung der Einsatzbereitschaft eine Multinational Air Group bereitzustellen und zu führen. Welche multinationalen Anteile (wahrscheinlich Kräftemultiplikatoren) müssen hinzutreten, um die MAG “Combat Ready” zu machen und sind diese Verpflichtungen abgesichert?

Was bedeutet die “Übernahme der Raumverantwortung Ostsee” für die Deutsche Marine wirklich? Verantwortung ist prinzipiell unteilbar, erfordert also – obwohl nahezu alle Anrainerstaaten NATO-/EU-Mitglieder sind – im Krisenfall als “First Responder” die Wahrnehmung aller Lead Functions bei Führung, Aufklärung, Wirkung und Unterstützung. Die Planer werden alle Hände voll zu tun haben.

Generalmajor a.D. Reinhard Wolski ist Senior Expert des Behörden Spiegel.
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Zitat:In der Dimension Land muss der Begriff der mittleren Kräfte, jahrzehntelang ein “Unwort” in der Heeresplanung, mit Strukturen, Einsatzkonzepten und Rüstungsforderungen hinterlegt werden.

Ein perfektes Beispiel: wir haben mittlere Kräfte, welche wir beharrlich als leichte Infanterie bezeichnen und wir tun so als ob man diese als leichte Infanterie einsetzen könnte. Dem folgend räumen wir nun nach langem Zögern ein, dass es sich um mittlere Kräfte handelt. Dem folgend stellen wir fest, dass wir sie haben und nun sucht man sich Aufgaben für diese, und fragt sich wie man diese in der Heeresplanung, in der Strukturen, in den Einsatzkonzepten usw überhaupt einbindet.

Man hat also eine Fähigkeit unabhängig von all diesen Faktoren faktisch geschaffen und nun fragt man sich wozu, wofür und weshalb und sucht Fragen zur bereits vorgegebenen Antwort ohne diese selbst überhaupt in Frage zu stellen. Statt zu Fragen was überhaupt die Heeresplanung sein soll, was für Einsatzkonzepte genau sich daraus ergeben und erst wenn dass alles klar ist die Frage zu stellen, ob man überhaupt mittlere Kräfte benötigt, macht man es also umgekehrt.

Genau das meinte ich. Man verwendet Worthülsen, schafft Fakten und weiß dann gar nicht so recht worauf man damit hinaus will.
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(03.06.2021, 20:54)Quintus Fabius schrieb: Gemäß dem Grundgesetz und dessen Intention geht es eben keineswegs um die Sicherung von Handelsrouten. In keinster Weise stellt der Bund Streitkräfte zum Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen auf, so steht das nicht im Grundgesetz und so ist der entsprechende Artikel nicht gemeint.

Die Diskussion ist so alt wie die Bundeswehr, und auch wenn dein Standpunkt dazu völlig legitim ist, er ist kein Fakt. Schon bei der Gründung der Marine wurde das Grundgesetz dahingehend ausgelegt, dass es explizit auch die Sicherung von Versorgungswegen (Bündnisverteidigung ist Landesverteidigung) einschließt, in einer sich deutlich stärker zu qualitativen asymmetrischen Bedrohungen hin entwickelnden Welt sowie der immer größeren Abhängigkeit vom Seehandel hat sich nur der potenzielle Gegner verändert. Ich will hier jetzt keine rechtstheoretische Diskussion beginnen, denn da würden wir wohl eh auf keinen Nenner kommen (und ohne gerichtliche Entscheidung kein Ergebnis erzielen), aber diese explizite Betrachtung wird seit gut dreißig Jahren vertreten und die Marine auch daraufhin ausgerichtet.

Zitat:Das ganze was du hier anführst ist aber eigentlich ein sehr gutes Musterbeispiel dafür was ich oben aramiso geantwortet habe (...)

Was soll daran nebulös sein, wenn die Sicherung von Seewegen gegen äußere Bedrohungen, beispielsweise Piraterie oder staatliche Übergriffe (bspw. durch den Iran), verhindert werden soll in dem zu diesem Zweck entwickelte Einheiten in den entsprechenden Seegebieten auf Abruf zur Verfügung stehen? Die einzigen Probleme sind der tatsächlich fehlende politische Wille und aufgrund von einer immer weiter in ihren operativen Fähigkeiten zusammengestutzten Marine die tatsächliche Fähigkeit, diese konkret beschlossene Ausrichtung auch zum Einsatz zu bringen. Deine Beschreibung mag auf das Heer zutreffen, das kann ich bekanntlich nicht beurteilen.
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