23.01.2024, 04:58
(22.01.2024, 08:46)lime schrieb: Ich verstehe absolut nicht wie man sich darüber wundern kann. All das war doch abzusehen und entspricht auch völlig der dort vorherrschenden Mentalität. Und wenn sie auf komplette Kriegswirtschaft umschalten müssten werden sie es im Endeffekt auch tun. Die russ. Regierung und auch die große Mehrheit der Russen hat den Sieg dort schon eingepreist und wird zur Not auch Jahre dafür investieren oder eher opfern. Und wenn der Westen nicht bald genug Material und vor allem Munition herstellt, dann werden sie wohl damit auch erfolgreich sein.
Ich muss sagen, ich finde es schon sehr erstaunlich, vor allem aus zweierlei Gründen:
Erstens war ein wesentlicher Vorteil von autoritären Staaten in der Geschichte zumeist, dass sie die Informationen, die an die Bevölkerung weitergegeben werden, steuern konnten. Das kann Russland heutzutage zwar -was Presse und TV betrifft- immernoch, aber heutzutage kann sich jeder Russe, welcher ein Smartphone mit Internetzugang besitzt und sich ein wenig mit dem Thema befasst jederzeit vor Augen führen, was ihn in der Ukraine erwartet.
Natürlich gibt es auch eine Zensur im Internet, aber genauso wie wir uns pro-russische Propaganda, Videos und Bilder von der misslungenen Gegenoffensive anschauen konnten, genauso können sich die Russen anschauen was momentan in Avdiivka, und Krynky los ist, wenn sie sich etwas mit dem Thema befassen.
Früher sind die Soldaten ja oft voller Übermut und Abenteuerlust in den Krieg gezogen und sind dann erst mit der harten Realität konfrontiert worden, wenn sie zum ersten Mal das Schlachtfeld betreten haben. Berichte über das Grauen des Krieges konnte man getrost nach dem Motto "so schlimm wird es nicht sein" außer acht lassen.
Bilder und Videos von FPV Drohnen, die deinen Körper jederzeit in Stücke reißen können; Soldaten, die sich mit Handgranaten umbringen bevor die Drohne ihre tödliche Last abwirft; Sperrtruppen, die dich bei Befehlsverweigerung direkt hinrichten; SPZ die in dritter Reihe auf den gleichen Minengürtel fahren wie die 2 vorherigen Wellen, aus welchen dann die brennenden Soldaten "aussteigen" oder MBTs, die in absoluter Panik ihre eigenen Kameraden überfahren sollten doch aber eigentlich schwer zu ignorieren sein und eine abschreckende Wirkung besitzen. Dazu noch die Verwundeten, die einfach sich selbst überlassen und ohne jeden Evakuierungsversuch zurückgelassen werden (Allesamt Uploads der letzten paar Monate, muss man sich aber nicht unbedingt anschauen).
Aber wie Quintus angeführt hat, scheint Sie das tatsächlich nicht zu interessieren.
Das es für die ukrainischen Soldaten an der Front nicht viel rosiger aussieht, ist mir durchaus bewusst. Aber während diese sich jederzeit vor Augen führen können, Heimat / Familie / Freunde zu verteidigen und vor russischen Übergriffen zu schützen...Und damit kommen wir zum zweiten Punkt:
Zweitens ist es m.M.n. umso erstaunlicher, wenn man sich den Antrieb / die Moral der Truppe vor Augen führt. Diese war ja von Anfang an nicht besonders hoch anzusiedeln, und genügend interviewte russische Soldaten gaben an, dass Sie zu Beginn einfach nur hoffen, dass es bald vorbei ist und sie schnellstmöglich wieder heimkehren. Wenn man sich verschiedene übersetzte Telefonmitschnitte zu Beginn des Krieges durchliest, bekommt man schnell einen Eindruck davon, dass eigentlich kaum ein Soldat wirklich wusste was sie in der Ukraine wollten. Noch dazu beim "Brudervolk", mit welchem viele grenzübergreifende Verwandtschaftsverhältnisse bestehen.
Klar, wäre die ganze Aktion abgelaufen wie bei der Krim 2014, und die Russen wären als strahlende Helden ohne große Verluste nach kurzer Zeit heimgekehrt, hätte sich wohl keiner beschwert. Aber dieser mangelnde Antrieb zu Beginn des Krieges kann sich doch eigentlich unmöglich im Laufe der Zeit bei diesen immensen Verlusten verbessern - hat er sich aber scheinbar bis zu einem gewissen Grad.
Gut, im laufe des Krieges bilden sich dann gute Argumente, um weiterzumachen. Sei es, weil der beste Freund und Kamerad getötet wurde, der eigene Stolz einen gehörigen Knacks erlitten hat (weil der "kleine Bruder" einfach nicht einknicken möchte) oder eine persönliche Verwundung gerächt werden will. Oder auch Angriffe auf russisches Gebiet in verdrehter Weise als Rechtfertigung für die eigenen Angriffsbemühungen herangezogen werden.
Aber trotzdem, und trotz der hohen Leidensfähigkeit, die man der russischen Bevölkerung ja generell schon zuschreibt:
Freiwillig in dieses Massaker einzusteigen, ist aus meiner Perspektive Wahnsinn.
Das erklärt ja gewissermaßen auch auf die Fehleinschätzung ab, die Saluschnyj zuletzt "zugegeben" hatte:
Zitat:Der ukrainische Armeechef Walerij Saluschnyj bemerkte zuletzt bitter: Jedes andere Land hätte nach den Verlusten dieses Sommers den Krieg beendet. Nicht Russland.https://www.tagesspiegel.de/internationa...52669.html
Grundsätzlich stimme ich aber mit der hier vorherrschenden Meinung überein: Wenn nicht bald etwas passiert die militärische Unterstützung der Ukraine betreffend, dann wird das richtig kritisch. Allein durch die personelle Übermacht Russland könnte sich "Stumpf ist Trumpf" im Endeffekt für Putin noch auszahlen, mit fatalen Folgen für die Ukraine. Denn der angestaute Hass dürfte mittlerweile auf beiden Seiten ins Unermessliche gehen.
Abschließend noch ein erst kürzlich erschienener Artikel zu dem Thema, wobei man eigentlich wohl ein "Vorsicht - kann (und wird) ukrainische Propaganda enthalten" beifügen sollte. Denn wenn solche Geschichten durch ukrainische Offizielle verbreitet werden, ist das wohl weitab der Objektivität. Dennoch - vielleicht ist ein Funke Wahrheit enthalten (Vorstellbar wäre es, ich hätte als gut ausgebildeter Soldat auch keine Lust, sinnlos abgeschlachtet zu werden):
Zitat:Russian marines and paratroopers are refusing to launch certain types of assaults due to concerns over the huge losses other troops are suffering, a Ukrainian official said, the Kyiv Post reported.https://www.businessinsider.com/russia-e...cks-2024-1
(...)
Nataliya Humenyuk, a press secretary for the Armed Forces of Ukraine's Joint Command South, said that the soldiers considered "themselves 'elite troops'" and did not "want to go into frontal assaults" that former felons and reservists typically carry out, the outlet reported.