11.07.2022, 12:26
@Nightwatch
Naja, im Nachhinein ist man immer klüger. Machen wir uns nichts vor: Im Februar dachte mindestens die Hälfte aller Politiker (und auch Geheimdienstler) im Westen, es gibt keinen Angriff. Man hoffte es wohl auch, ja man dachte an eine Show of Force und Drohungen und das es dabei irgendwie bliebe. Dann kam der Angriff doch, und alle waren zunächst in einer Art Schockstarre. Hektik setzte ein, man lieferte, was gerade ging, suchte die Lager durch, meistens leichtes, tragbares Gerät. Die "Zeitenwende" in Deutschland kam etc.; es war etwas, womit niemand Wochen zuvor auch nur im Ansatz gerechnet hatte.
Dann jedoch das überraschende Debakel der Russen vor Kiew, die beinahe schon irritierende Zurückhaltung der russischen Luftwaffe, es gab eine gewisse Erleichterung, v. a. in Europa und auch in Deutschland. Tenor: So stark sind die Russen doch nicht, die Ukrainer halten die Russen doch auf (genau genommen tun sie dies ja immer noch) etc. pp. Eine "maximale Eskalation" hätte also aus europäischer (und auch amerikanischer) Sicht militärisch zu diesem Zeitpunkt überhaupt keinen Sinn ergeben. Und wäre auch innenpolitisch nicht zu verkaufen gewesen.
Dann das Umswitchen auf den Donbass mit anderer Taktik - und hier könnte man durchaus eine gewisse Unterschätzung der immer noch vorhandenen russischen Feuerkraft unterstellen, was aber angesichts des russischen Versagens davor auch irgendwie nachvollziehbar war -, dann kam die Materialschlacht. Es wurde dann nach zwei, drei Wochen ersichtlich: Mist, das gelieferte Zeugs reicht doch nicht. Herumsuchen in den Lagern, was kann schnell geliefert werden? Da hatten wir aber dann schon Ende April/Anfang Mai. Und jetzt, zwei Monate später, ist das schwere Gerät zunehmend im Einsatz - und wirkt sich meiner M. n. auch immer stärker aus.
D. h.: Ja, man könnte unterstellen, man habe nicht sofort die Tragweite richtig erkannt oder jede Entwicklung richtig gedeutet, aber genau genommen hat dieser Krieg manche Haken geschlagen, die niemand für möglich erachtet hatte und die dazu beitrugen, dass sich auch manche Militärs in die Nesseln setzten mit Prognosen. Letztlich haben die Politiker im Westen also bei aller Überraschung relativ korrekt reagiert (man könnte dies wiederum als Problem ansehen, wenn man sagt, sie würden "nur reagieren als zu agieren", aber genau ist man in Demokratien immer an Entscheidungsfindungen und Abwägungen gebunden - insofern sehe ich diesen [deinerseits nun von mir unterstellten] Vorwurf als nicht ganz fair an).
Schneemann
Naja, im Nachhinein ist man immer klüger. Machen wir uns nichts vor: Im Februar dachte mindestens die Hälfte aller Politiker (und auch Geheimdienstler) im Westen, es gibt keinen Angriff. Man hoffte es wohl auch, ja man dachte an eine Show of Force und Drohungen und das es dabei irgendwie bliebe. Dann kam der Angriff doch, und alle waren zunächst in einer Art Schockstarre. Hektik setzte ein, man lieferte, was gerade ging, suchte die Lager durch, meistens leichtes, tragbares Gerät. Die "Zeitenwende" in Deutschland kam etc.; es war etwas, womit niemand Wochen zuvor auch nur im Ansatz gerechnet hatte.
Dann jedoch das überraschende Debakel der Russen vor Kiew, die beinahe schon irritierende Zurückhaltung der russischen Luftwaffe, es gab eine gewisse Erleichterung, v. a. in Europa und auch in Deutschland. Tenor: So stark sind die Russen doch nicht, die Ukrainer halten die Russen doch auf (genau genommen tun sie dies ja immer noch) etc. pp. Eine "maximale Eskalation" hätte also aus europäischer (und auch amerikanischer) Sicht militärisch zu diesem Zeitpunkt überhaupt keinen Sinn ergeben. Und wäre auch innenpolitisch nicht zu verkaufen gewesen.
Dann das Umswitchen auf den Donbass mit anderer Taktik - und hier könnte man durchaus eine gewisse Unterschätzung der immer noch vorhandenen russischen Feuerkraft unterstellen, was aber angesichts des russischen Versagens davor auch irgendwie nachvollziehbar war -, dann kam die Materialschlacht. Es wurde dann nach zwei, drei Wochen ersichtlich: Mist, das gelieferte Zeugs reicht doch nicht. Herumsuchen in den Lagern, was kann schnell geliefert werden? Da hatten wir aber dann schon Ende April/Anfang Mai. Und jetzt, zwei Monate später, ist das schwere Gerät zunehmend im Einsatz - und wirkt sich meiner M. n. auch immer stärker aus.
D. h.: Ja, man könnte unterstellen, man habe nicht sofort die Tragweite richtig erkannt oder jede Entwicklung richtig gedeutet, aber genau genommen hat dieser Krieg manche Haken geschlagen, die niemand für möglich erachtet hatte und die dazu beitrugen, dass sich auch manche Militärs in die Nesseln setzten mit Prognosen. Letztlich haben die Politiker im Westen also bei aller Überraschung relativ korrekt reagiert (man könnte dies wiederum als Problem ansehen, wenn man sagt, sie würden "nur reagieren als zu agieren", aber genau ist man in Demokratien immer an Entscheidungsfindungen und Abwägungen gebunden - insofern sehe ich diesen [deinerseits nun von mir unterstellten] Vorwurf als nicht ganz fair an).
Schneemann