Ist der Atomwaffensperrvertrag noch zu halten?
#1
Eine Überlegung:
Zitat:Russland hat drei mal die Grenzen der Ukraine vertraglich garantiert.
Zuletzt 1994 im "Budapester Memorandum" gegen die Abgabe sämtlicher in der Ukraine befindlichen Atomwaffen.
Seit dem Einmarsch Russlands auf der Krim (2014), spätestens jedoch seit dem Überfall im Februar 2022 und der bis zuletzt eher wankelmütigen Reaktion aus den anderen beteiligten "Garantiestaaten" (wie den USA) sieht die ganze Welt, was solche Garantien real "Wert" sind - nämlich nichts.
Seither ist der Atomwaffensperrvertrag sowas von tot geschossen, töter geht nicht.
Die folge wird hier gut beschrieben:

„Es ist nicht mehr klar, wie diese Weltordnung weiter bestehen wird“ - WELT

Und deshalb ist es verständlich, wenn Staaten, die bisher auf atomare Bewaffnung verzichtet haben, darüber nachdenken, wie sie - zumindest in Form einer nuklaearen Teilhabe durch die Bereitstellung von Trägersystemen wie Flugzeugen - das eigene Abschreckungspotential erhöhen können.
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#2
Der Atomwaffensperrvertrag oder auch internationale Ordnung sind in gewisser Weise nicht tot. Wir befinden uns aktuell zwar in einer interessanten, wirr anmutenden und brüchig wirkenden Lage, die das Durcheinander suggeriert, aber wir sollten uns wegen irrlichternder Politiker, die alterstechnisch in den 70ern sind, nicht allzu sehr verrückt machen lassen. Sowohl die Tage von Putin als auch von Trump sind faktisch gezählt und es gibt immer noch genügend vernünftige Menschen in der Politik.

Übrigens hat man das Thema einer atomaren Abschreckung Europas schon vor 30 Jahren thematisiert und damals richtete sich die Sorge nicht gegen Russland, das in der Irrungen und Wirrungen der Zerfallswehen der Sowjetunion gefangen war, sondern es wurde mit Nordafrika begründet, mit algerischen Islamisten mit Atomwaffen oder einem Gaddafi mit Atomwaffen. Bekanntlich haben sich diese Sorgen verworfen.

Aber zurück zur Frage und zu uns: Wir sollten nicht aus dem hier und jetzt versuchen eine Einschätzung zu geben, wie die Lage in fünf oder zehn Jahren ist. Ein Unsicherheitsfaktor hinsichtlich der USA sehe ich da eigentlich nicht, auch wenn es einige Rechtsausleger in den Staaten vielleicht postulieren, so werden sich die USA nicht aus Europa verabschieden. Das würde man weder im Pentagon noch im State Department mitmachen und das strategische Standing in der alten Welt ist da viel zu wichtig - wichtig ist allerdings auch, dass die Europäer ihre Mindestverpflichtungen zumindest grob erfüllen müssen.

Und dies wiederum ist in unserem Interesse.

Welche Risikogebiete sind auszuloten?

1. Nordkorea - sehr unberechenbar. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kim unter dem Schutz seiner Atomwaffen einen Krieg beginnt, scheint - nach aktuellem Gebaren zu urteilen - durchaus gegeben. Und hier hätten sich auch die Strategen dann getäuscht, die seinerzeit mutmaßten, dass Kim sein Atomarsenal nur aufbaue, um sein Regime abzusichern (der Sturz Saddams wirkte da auch mit hinein). Aktuell kann man nicht mehr von ausgehen, dass dies zutrifft.

2. Iran - unklar bis diffus. Schon vor Jahren hieß es, sie stünden nur ein paar Jahre vor dem Bau der Bombe, dann sind die Jahre ins Land gegangen und es passierte nichts. Ein Jahrzehnte lang währendes, wildes Gezerre, ein Hin und Her mit Gesprächen, Attentaten, ein wenig Anreicherung und etwas mehr Anreicherung und vielen Nebelkerzen. Die Bombe haben sie bislang nicht, was eigentlich recht verwunderlich ist angesichts der Agitprop und dem Druck gerade aus USA. Selbst wenn man eine technische Rückständigkeit annimmt, so wäre ein Bau zumindest einfacher Atomwaffen innerhalb weniger Jahre machbar gewesen. Aktuell ist zumindest die Möglichkeit gegeben, dass Iran Technik aus Russland, China oder Nordkorea erhält, um das Programm zu beschleunigen. Es kann also sein, dass in den kommenden Jahren nichts passiert (und der Zoff in Nahost auf jetzigem Niveau weiterschwelt) oder dass recht überraschend es in diesem oder im nächsten Jahr einen überraschenden Atomtest gibt (und die Folgen wären sehr schwer abschätzbar). Infolgedessen alles sehr undurchschaubar.

3. Russland - erhebliches bis unklares Gefährdungspotenzial. Die inflationären Drohungen mit Atomwaffen in den letzten Jahren haben dazu geführt, dass man der russischen Führung quasi nicht mehr glauben kann. Ist es noch oder schon ernst gemeint? Oder nur psychologische Kriegführung? Maskirowka? Es ist mittlerweile egal, was in Moskau gesagt wird, weil es eh nur Schulterzucken generiert - weswegen man den aktuellen Aussagen Medwedews auch keinen Glauben schenkt, wenn er aussagt, man wolle kein NATO-Gebiet angreifen (selbst wenn der das ernst gemeint hat). Das große Problem und zugleich Risiko besteht darin, dass die russische Führung im Rahmen ihres hybriden Krieges einen Nebel erzeugt hat, der die tatsächlichen Absichten nur schwer erkennbar macht (insofern waren sie dabei durchaus erfolgreich) - und das birgt wiederum Risiken einer Fehleinschätzung bei der äußeren Betrachtung; zugleich jedoch fällt ihnen dies selbst auf die Füße, weil eben das Risiko einer Fehleinschätzung besteht (insofern waren sie zwar auch erfolgreich, aber nicht im Sinne der eigenen Interessen, weil eine solche Fehleinschätzung sehr schnell verhängnisvolle Kausalketten auslösen könnte). Zudem glaube man ihnen auch dann nicht mehr, selbst wenn sie es mal ernst meinen. Hinzu kommt, dass Putins Zeit nicht ewig währen wird, er ist nicht mehr der jüngste. Und hier ist nun die Frage, was nach ihm kommt und ob das Nachfolgesystem leichter oder schwerer einzuschätzen ist oder noch wirrer um sich schlägt?

Insgesamt betrachtet bedingen 1. und 2. keine europäischen Atomwaffen. Hier sind die internationalen Konstellationen vollkommen ausreichend und auch sind die Distanzen zu groß und die regionalen Begebenheiten einhegend. Bei 3. müssen wir uns aber tatsächlich fragen, ob wir nicht eine atomare Abschreckung bräuchten? Wenn in Russland eine Liberalisierung stattfindet, dann nicht. Wenn aber das Land in ein protofaschistisch-nationalistisches Regime abgleitet, dann wäre es zwingend notwendig. Die dritte Möglichkeit wäre, dass das Land in einer neuen Smuta und in einem internen Konflikt versinkt - dann sollten wir uns darauf gefasst machen, dass zumindest radikale Gruppen, die aber nicht zwingend im Auftrag des Staates agieren, Atomwaffen in die Hände kriegen könnten. Dann bräuchte man eigene Atomwaffen nicht zwingend, aber wir würden anderweitige Einmischungsbefähigungen besitzen müssen, um diese Waffen zu sichern.

Insofern: Der Atomwaffensperrvertrag ist im Grunde relativ sicher, was aber unsicher ist, sind einige Faktoren auf dem internationalen Parkett.

Schneemann
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#3
Das grösste Problem an der nukleare Abschreckung ist, dass keiner bisher den Ernstfall getestet hat (Gott sei Dank). Sollte Russland, unter welchen Verrückten auch immer, aber eine nukleare Waffe auf NATO-Gebiet feuern wird man sehen ob die USA das herunterspielen, ignorieren oder was auch immer um dem Risiko der eigenen Vernichtung zu entgehen.
Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass irgend jemand, auch nicht die USA, ernsthaft die eigene Vernichtung riskiert um andere zu schützen.

Z.B. Putin sagt wir feuern auf die BRD wenn diese die Unterstützung der Ukraine nicht sofort beendet. Die USA sagen wir werden nuklear antworten wenn Russland das macht. Putin sagt 1000 Sprengköpfe zielen auf die USA und wenn eine Nuklearwaffe auf dem Gebiet der russischen Föderation (oder auch dem Gebiert der ehemaligen Sowjetunion) einschlägt dann gibt es den Weltuntergang. Was wenn der so durchgeknallt ist wie Hitler (Deutschland wird Weltmacht oder gar nicht sein)? Arg weit davon entfernt kann Putin jedenfalls nicht mehr sein.

Das ist ein Pokerspiel das Putin gewinnen kann. Gewinnen kann er es aber nicht wenn die BRD selber Nuklearwaffen hat. Dann ist die eigene, russische Auslöschung ein sehr wahrscheinliches Ergebnis. Eigene Nuklearwaffen helfen allerdings auch dann nicht wenn Putin dieses Risiko eingehen will, aber dagegen hilft fast nichts ausser einem sicheren Abwehrschirm oder einem Erstschlag. Weder das eine noch das andere ist allerdings realistisch für uns risikofrei durchführbar.
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#4
Ich weiß jetzt nicht ob das eine spinnerte Idee meinerseits ist, aber beim Lesen von Schneemanns Beitrag ist mir folgender Gedanke gekommen:

Wie wäre es wenn Deutschland, Japan und Südkorea eine gemeinsame diplomatische Initiative starten, um den Atomwaffen Sperrvertrag zu ihren Gunsten zu verändern? Mit Verweis auf die von Schneemann genannten Gefahren von Nordkorea, Russland und den Zweifeln an den USA, sie nun selber Atomwaffen haben wollen.

Diese Initiative wird wohl scheitern, aber es wäre ein starkes Signal an die drei Atommächte China, Russland und USA das sie selber verantwortlicher mit ihren Verpflichtungen umgehen müssen. Also keine Drohungen mit Atomwaffen gegen Staaten ohne Atomwaffen und das sie gemeinsam dafür verantwortlich sind, das Staaten wie der Iran keine Atomwaffen bekommt und Nordkorea eingedämmt und unter Druck gesetzt wird mit seinen illegalen Atomwaffen verantwortlich umzugehen. Das wäre auch eine Ermahnung an die USA das sie ihren nuklearen Schutzschild glaubwürdig kommunizieren muss.

Wenn sie das nicht tun, droht ihnen die Ausbreitung von Atomwaffen.
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#5
Ich halte die Gefahr eines russischen Nuklearangriffs auf NATO Gebiet für extrem gering, selbst unter anderen Umständen. Was allerdings passieren könnte ist meiner Meinung nach, dass man irgendwann auf dem Gebiet der Ukraine eine Nuklearwaffe zündet - und dass ist dann noch viel problematischer in Bezug auf die Frage wie man darauf reagiert.

Putin ist meiner Ansicht nach immer so vorgegangen, dass er erstmal mehrfach testet ob der eigentliche Plan von ihm aufgehen könnte - und ob und was für Widerstand gegen diesen zu erwarten ist. Deshalb wird er zuerst eine Atombombe woanders einsetzen, einen Atombombentest durchführen usw. bevor er Nuklearwaffen gegen NATO Gebiet einsetzt.

In Bezug auf die Eingangsfrage des Stranges: meiner Meinung nach ist der Atomwaffensperrvertrag nicht zu halten. Schuld daran trägt vor allem Russland - allein schon durch seine inakzeptable Rethorik im Umgang damit, und dann natürlich auch durch seine Handlungen.
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#6
(18.02.2024, 22:14)spotz schrieb: Wie wäre es wenn Deutschland, Japan und Südkorea eine gemeinsame diplomatische Initiative starten, um den Atomwaffen Sperrvertrag zu ihren Gunsten zu verändern? Mit Verweis auf die von Schneemann genannten Gefahren von Nordkorea, Russland und den Zweifeln an den USA, sie nun selber Atomwaffen haben wollen.

Und was für eine Änderung sollte das sein?
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#7
@spotz
Zitat:Das wäre auch eine Ermahnung an die USA das sie ihren nuklearen Schutzschild glaubwürdig kommunizieren muss.
Dies ist ein sehr guter Punkt. Unabhängig von populistischen und kaum haltbaren America first!-Slogans (als ob eine Weltmacht sich einfach so aus der Verantwortung zurückziehen könnte?), ist es eines der generellen Interessen der USA, dass es eben keine unnötige Weiterverbreitung von Nuklearwaffen gibt. Und dazu gehört auch, die Abschreckung auch hinsichtlich des "Schutzschirms" über Verbündete aufrecht zu erhalten. Weicht man jedoch davon ab oder verwässert man dieses Beistandsgebäude, dann würde das Weiße Haus entgegen der ureigenen (US-)Interessen handeln, da somit direkt und indirekt die Weiterverbreitung von Atomwaffen begünstigt werden würde.

Anbei: Studien haben schon in den 1970ern Deutschland und Japan die Befähigung zugesprochen, in zwei bis acht Monaten Atomwaffen bauen zu können - wenn seitens der Politik gefordert...

Schneemann
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#8
Deutschland hat sich im 2+4-Vertrag zum (zuvor bereits bestehenden) Verzicht auf ABC-Waffen bekannt. Hier sind Herstellung, Besitz und Verfügungsgewalt eingeschlossen.

Eine etwaige Kündigung des Atomwaffensperrvertrags hätte demzufolge für uns keinen Effekt, oder?
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