Ukraine
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Aus der Ferne wirkt alles wie ein riesiges Konzert: Rockmusik tönt durch die Prachtstraßen im Zentrum von Kiew, Hunderttausende Menschen hören begeistert zu. Doch was wie ein musikalisches Großereignis aussieht, könnte der Auftakt zu einer Revolution werden: Die Ukrainer trotzen nicht aus Liebe zu heißen Rhythmen der Kälte – sie wehren sich gegen offensichtlichen Betrug bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag.

Panzer rollen

Die friedliche Atmosphäre könnte bald umschlagen: Medien berichten, dass sich am Dienstag Abend Militär und Panzer auf den Weg in die Hauptstadt gemacht haben. Der Fernsehsender „5. Kanal“ teilte unter Berufung auf die Opposition mit, auch russische Sondereinsatz-Einheiten, umgekleidet in ukrainische Uniformen, seien im Anmarsch. Die russischen Behörden wiesen diese Gerüchte umgehend zurück.

Oppositionsführer Viktor Juschtschenko, der sich um seinen Wahlsieg betrogen fühlt, leistete gegen den Widerstand des Parlamentspräsidenten am Abend in der ukrainischen Volksvertretung einen Amtseid. Die regierungstreue Mehrzahl der Abgeordneten hatte allerdings zuvor das Parlament verlassen. Der scheidende Präsident Kutschma rief zur Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung auf.

Juschtschenko gilt als pro-westlich

Die Wahl in dem zweitgrößten Flächenstaat Europas galt als Weichenstellung für die ganze frühere Sowjetunion: Auf der einen Seite der zweimal vorbestrafte Ministerpräsident Viktor Janukowitsch, ein Apparatschik vom alten Schlag und der Mann der alten, korrupten Macht-Elite. Auf der anderen Seite Oppositions-Kandidat Viktor Juschtschenko, der sich als Reform-Premier einen Namen gemacht hat. Er gilt als moderner Politiker westlichen Zuschnitts, obwohl auch er zweifelhafte Geschäftsleute in seinem Gefolge hat.

Bis zu 96 Prozent

Nach unabhängigen Prognosen vom Wahltag soll Oppositions-Politiker Juschtschenko den Urnengang deutlich gewonnen haben; die Wahlkommission jedoch sah das anders und erklärte Ministerpräsident Janukowitsch zum Sieger, mit rund drei Prozentpunkten Vorsprung.

Demnach erreichte Janukowitsch in seiner Heimat-Region Donezk bis zu 96 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von ebenfalls 96 Prozent: Ergebnisse, die wahlentscheidend waren, aber eher für Diktaturen als für demokratische Staaten typisch sind.

„Betrug und Missbrauch“

Wahlbeobachter berichteten von zahllosen Täuschungsmanövern – von Mehrfach-Wählern bis hin zum Austauschen ganzer Wahlurnen. US-Senator Richard Lugar, der für Präsident George W. Bush die Wahl beobachtete, sprach von einem „konzertieren und energischen Programm des Betruges und des Missbrauchs.“ Die EU und die USA drohen nach Medienberichten mit Sanktionen.

Oppositions-Kandidat Juschtschenko erklärte sich am Dienstag zum Wahlsieger – und rief die Bevölkerung zum Marsch in Richtung Parlament auf. Die Stadträte in Lwiw (Lemberg), Iwano-Frankiwsk und Kiew erklärten sich solidarisch – und wollen Juschtschenko als Präsident anerkennen.

Gespaltenes Land

Ein Blick auf die Landkarte mit den Wahlergebnissen zeigt ein zweigeteiltes Land: Während die West-Ukraine, die einst zu Polen und Österreich-Ungarn gehörte, und die Zentralukraine geschlossen die Opposition unterstützten, stimmten die an Russland grenzende Ost-Ukraine und die früher russische Krim geschlossen für Regierungs-Kandidat Janukowitsch.

In Kiew gaben Universitäten und Schulen ihren Studenten und Schülern frei, damit sie sich an den Protest-Aktionen der Opposition beteiligen können. Aus der West- und Zentral-Ukraine machten sich Zehntausende Menschen auf den Weg in die Hauptstadt, um die Opposition zu unterstützen. Augenzeugen berichteten, die Polizei habe Straßensperren für Busse errichtet und den Bahnverkehr eingeschränkt, um die Demonstranten aufzuhalten.

Erinnerungen an „Rosenrevolution“

Die Ereignisse in Kiew wecken Erinnerungen an die so genannte „Rosenrevolution“ vor einem Jahr in Georgien. Dort jagten Demonstranten nach dreisten Wahlfälschungen Präsident Eduard Schewardnadse aus dem Amt. Anders als in Georgien gelten die Streitkräfte und die Miliz in der Ukraine aber nicht als Wackelkandidaten. Auch fehlt es Oppositions-Führer Juschtschenko an Ausstrahlung, vor allem nach einem angeblichen Gift-Anschlag vom September, hinter dem er den Geheimdienst vermutet: Der telegene Frauen-Schwarm von einst sieht seither krank aus und wirkt mit seinem aufgedunsenen Gesicht wie ein schwer wodkageschädigter Apparatschik.

Ob sich die Demonstranten durchsetzen können, blieb zunächst fraglich. Die Regierung setzt allem Anschein nach statt auf Gewalt und Polizei auf die Faktoren Zeit und Kälte: Bei den winterlichen Temperaturen in Kiew könnten sich die Proteste bald verlaufen, so die Hoffnung der Machthaber.

Warten auf Kutschma

Ausländische Diplomaten halten auch einen taktischen Schachzug des noch amtierenden Präsidenten Leonid Kutschma für möglich, der nach zwei Amtszeiten bei der Wahl laut Verfassung nicht mehr antreten durfte; der umstrittene Kutschma könne die Wahl für ungültig erklären und somit erst einmal selbst im Amt bleiben, heißt es.

Wer auch immer den Machtkampf gewinnen wird: Wirtschaftlich wie außenpolitisch wird es im Kurs der Ukraine allenfalls kleine Abweichungen, aber keine Gradwende geben: Die Sachzwänge sind zu groß, die wirtschaftlich angeschlagene Ukraine ist auf den Westen ebenso angewiesen wie auf Russland.

Die Symbol-Wirkung der Kiewer Ereignisse dagegen gilt als enorm. Im Kreml sei die Wahl in der einstigen Sowjetrepublik Chefsache, glaubt der Kiewer Politologe Wladimir Polochalo: „Wladimir Putin hat sich auf Seiten der Mächtigen enorm eingemischt in diesen Wahlkampf, fürchtet einen demokratischen Präzedenzfall.“ Für den Kreml-Chef sei die Ukraine der Trainings-Platz für die russische Präsidentschaftswahl 2008, meint Polochalo: „Wenn sich bei uns das Volk gegen die Machthaber durchsetzt und sich nicht manipulieren lässt, wird das im Kreml vielen den Schweiß auf die Stirn treiben.“

Quelle MSN
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Ukraine - von KaZaK - 23.11.2004, 20:26
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RE: Ukraine - von Kongo Erich - 15.03.2024, 11:17

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