(Europa) Streitkräfte der russischen Föderation
In der Tat sehr interessante Informationen.
Ich finde es generell sehr spannend, sich mit der "anderen Seite" über die Geschehnisse zu unterhalten.
Problem ist oftmals, dass man kaum jemanden findet, der die russische Perspektive objektiv (bzw. subjektiv, aber eben in einem sachlichen Gespräch) und ohne in Hasstiraden zu verfallen wiedergibt (mal von der Sprachbarriere in meinem Fall abgesehen).

(05.07.2023, 06:16)Quintus Fabius schrieb: Auf meine Aussage, dass man in den Medien lesen könne, dass es an moderner Elektronik mangele sagte er, dass diese Berichte so nicht stimmen würden. Es habe 2022 einen solchen Mangel gegeben, dieser sei aber inzwischen überwunden. Man kriege genug moderne Elektronik.

Das hatte ich zumindest vermutet, denn auch wenn Russland nicht in der Lage ist die entsprechenden elektronischen Komponenten, Mikrochips etc. selbst zu produzieren, so müssten das die Chinesen recht problemlos hinbekommen. Und davor, diese nach Russland zu exportieren wird China bestimmt nicht zurückschrecken, nur weil im Westen manch einer den drohnenden Zeigefinger erhebt (zumal es oftmals nicht klar als militärisches Gut erkennbar wäre).

Nachhaken würde ich gerne hier:

(05.07.2023, 06:16)Quintus Fabius schrieb: Als größtes und primäres Problem und als Grund warum man nicht genug produziert gab er stattdessen den Mangel an Technikern, Ingenieuren und Fachkräften an. Seine Firma suche dringend Techniker, es gäbe aber keine welche die notwendigen Qualifikationen besäßen. Beispielsweise würden mehrere hundert Elektroniker fehlen, nur in seinem begrenzten Bereich. Er erklärte, dass es Schätzungen gäbe, dass der russischen Rüstungsindustrie mindestens um die 600.000 Fachkräfte fehlen. Die nicht vorhanden seien, weil es in Russland die entsprechenden Leute dafür nicht gäbe. Er benannte explizit den Bau von Kampfflugzeugen, man komme hier überhaupt nicht mehr voran, weil man keine Ingenieure dafür habe. Das gleiche gelte für jedes moderne hochtechnische Waffensystem, überall würden die entsprechenden Fachkräfte zu zehntausenden fehlen.

Liegt das aus der Perspektive deines Bekannten hauptsächlich daran, dass die Ausbildung solcher Techniker / Fachkräfte generell verschlafen wurde oder sind die entsprechenden Fachkräfte tatsächlich nach Kriegsbeginn ausgereist, wie es in unseren Reihen gerne erzählt und gehört wird (meist aber ohne verlässliche Quellen)?
Generell sind Jobs in der Rüstungsindustrie doch sicherlich begehrte Arbeitsplätze...

Denn wenn man Putin glaubt, haben sich seit Jahresbeginn 185000 freiwillig für den Weg in die Armee entschieden:
[https://www.n-tv.de/politik/Moskau-185-0...37704.html

Fällt mir schwer zu glauben, dass die alle lieber in der Armee dienen, als eine entsprechende Ausbildung im Elektrowesen aufzunehmen. Sollte ja nicht allzu schwierig sein, angesichts der von deinem Bekannten genannten Werbungsversuche.
Sind diese 185000 Freiwilligen also als reine Propaganda zu werten? Oder werden da evtl. die Mobiks mitgezählt, die ja dann doch nicht ganz freiwillig ihren Militärdienst aufnahmen?

Abschließend noch eine Frage, die vielleicht etwas zu weit vom Thema abweicht (dann bitte einfach ignorieren oder auslagern):
Wurde von deinem Bekannten thematisiert, wie der aktuelle Stand der Bevölkerung bezüglich der "militärischen Spezialoperation" ist?
Je nachdem, wo man sich informieren möchte bekommt man ja wirklich jede Antwort, von "der Kampf In der Ukraine ist garnicht so unpopulär, wie viele denken" bis zu "eigentlich ist das Land ziemlich kriegsmüde, die Toten dürfen aber nicht vergebens sein ergo muss man siegen" ist alles dabei.

Eine Einschätzung diesbezüglich "aus erster Hand" wäre für mich durchaus aufschlussreich, auch wenn mir natürlich bewusst ist, dass es in diesem Moment auch "nur" die Sichtweise einer Einzelperson und dessen Kosmos wiederspiegelt.
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1. Zum Fachkräftemangel in der Rüstungsindustrie

Das ist keine Einzelperspektive, über das wurde auch schon sowohl in den russischen wie auch in einigen westlichen Medien offen berichtet. Was mich hingegen an seinen Aussagen erstaunt hat und was ich bisher so nicht gehört hatte ist die Größe des Problemes und dass da laut seinen Angaben um die 600.000 Techniker und Ingenieure fehlen damit in dem Maß produzieren könnte, wie es eigentlich von der Regierung verlangt wird.

Die Gründe dafür sind vielfältig: zum einen hat man tatsächlich einfach zu wenig ausgebildet. Junge Russen die technische Berufe erlernen und darin gut sind, gehen zudem sehr oft ins Ausland, im übrigen war das schon vor dem Krieg so. Es gab auch schon vor Kriegsbeginn eine stete Abwanderung der besten Techniker. Dann ist das Niveau an vielen der Universitäten nicht gut, die Ausbildung soll in vielen Hochschulen einfach nur schlecht sein.

Dazu kommt die grassierende Korruption. Ich selbst kenne einen Fall eines jungen Russen der an der Universität im Prinzip ganz offen aufgefordert wurde, Geld zu zahlen, sonst würde er seinen Abschluss nicht erhalten. Er meldete dies und zeigte es bei der Polizei an. Das Ergebnis war ein Strafverfahren gegen ihn selbst wegen versuchter Bestechung (man drehte die Sache einfach um) und schlussendlich ist er ohne Abschluss ausgewandert. Das war noch vor dem Krieg.

Die Korruption und dass man mit Beziehungen bzw. einer bestimmten Abstammung an der Universität oder sonstwo Abschlüsse erhält, für die man keinerlei Qualifikation besitzt schädigt die technische Weiterentwicklung in Russland immens. Das greift aber inzwischen sogar eigentlich in alle Bereiche hinein. Beispielsweise erhalten Kinder aus entsprechenden Familien einfach so Stellen im Geheimdienst, obwohl sie überhaupt keinerlei Qualifikation oder Eignung dafür haben. Entsprechend sinkt seit Jahren schon überall die Qualität, nicht nur in der Rüstungsindustrie, einfach überall.

Die Flucht nach Kriegsbeginn hingegen ist vor allem für die IT Branche, die Finanzwirtschaft usw. hochproblematisch. ITler sind unter den Geflüchteten immens überrepräsentiert. Zudem flohen eher wohlsituierte Kreise und nahmen teilweise ihr Kapital ins Ausland mit. Das führte in Serbien und auch in Georigen inzwischen zu einem Boom sondergleichen was Wohnungspreise angeht, Unternehmensgründung, neue Geschäftsmodelle und überall drängen vergleichsweise wohlhabende Russen dort in die Wirtschaft vor. Das sind aber ganz bestimmte Kreise und sie kommen auch überwiegend aus bestimmten Städten und Regionen.

Laut meinem Bekannten hat sich die Flucht vieler junger Russen ins Ausland um nicht eingezogen zu werden deutlich weniger auf die Rüstungsindustrie ausgewirkt als die Korruption, die mangelnde Qualität und die zu geringe Quantität in den technischen Universitäten. Diese Faktoren seien deutlich relevanter als die Flucht junger Russen vor der Einberufung.

2. Zur Frage wie begehrt diese Jobs sind

Die sind begehrt, aber das nützt ja rein gar nichts in Bezug auf die Frage der Herstellung von Waffensystemen, wenn die Qualifikation nicht vorhanden ist. Entsprechend hätten russische Rüstungsfirmen viel zu viele Mitarbeiter die eigentlich nichts leisten und entsprechend irgendwo in der Verwaltung, dem Marketing, Personalentwicklung usw. geparkt werden, nur um die Löhne dort abzugreifen. Entsprechend ist auch für das Ergattern eines solchen Jobs Korruption und Nepotismus ein großes Thema.

3. Zur Frage wer zur Armee geht und wieviele rekrutiert werden

Zur Armee geht der, der muss, der arm ist, der kriminell ist, der asozial ist, der keine Beziehungen hat, nicht aus einer entsprechenden Familie stammt, einer ethnischen Minderheit angehört und dessen Familie akute Geldprobleme hat.

Die Zahl von 185.000 halte ich sogar rein persönlich für realistisch. Wieviele überhaupt eingezogen werden (auf welche Weise auch immer) ist höchst unklar. Meiner Ansicht nach läuft in Russland eine massive Schattenmobilisierung. Vor allem bei der ersten "Teilmobilisierung" wurden in Wahrheit sehr viel mehr Soldaten eingezogen als offiziell gesagt wurde. Viele der "lustigen" Filme und Bilder die da entstanden resultierten daraus, dass man sehr viel mehr Soldaten eingezogen hat als offiziell gesagt wurde und man dafür die Kapazitäten gar nicht hatte. Manche der Mobilisierten wurden sofort an die Front geworfen um den Feind zu stoppen, andere aber durchaus gründlich und über Monate hinweg ausgebildet. Und entspechend tauchen diese Einheiten jetzt "überraschend" auf, obwohl sie offiziell eigentlich gar nicht sein dürften. Wie groß das Ausmaß der Mobilisierung tatsächlich ist, kann man meiner Meinung nach gar nicht sagen.

Theoretisch könnte es sogar größer sein als die genannten 185.000. Das klingt zwar jetzt bedrohlich bzw. problematisch, aber den Russen gehen aktuell zunehmend Waffen und Munition aus. Entsprechend ist die Kampfkraft dieser Masse im Verhältnis zu ihrer Quantität nicht so hoch. Sie sinkt aber auch nicht, weil entsprechend immer weiter zugeführt wird.

4. Zur Stimmung in der Bevölkerung

Dazu sollte man anmerken, dass Russland zum einen sehr uneinheitlich ist, zum anderen dass Russen selten öffentlich (oder auch sonst) wirklich sagen was sie denken und dass wenn man es gröbstmöglichst darlegen möchte die Bevölkerung meiner Ansicht nach vor allem von zwei großen Gruppen dominiert wird: die einen sind recht einfache, ich möchte sagen Naive Gemüter, die zudem meist ein sehr archaisches Weltbild und sehr archaische Vorstellungen von Gesellschaft haben. Diese Gruppe steht dem Krieg tatsächlich mehrheitlich positiv gegenüber, weil man glaubt die Russische Welt (das ist ein fester Begriff in Russland) gegen den Westen zu verteidigen, der diese Welt seit Jahrzehnten schon mit allen Mitteln zerstören will. Die andere große Gruppe sind im Prinzip aphatische Zyniker. Denen ist der Krieg einfach völlig egal, wobei sie durchaus bereit sind Gewalt jedweder Art anzuwenden, wenn sie irgendwelche Vorteile davon haben.

Mein Bekannter gehört im Prinzip zur zweiten Gruppe, den Zynikern. Ihm ist schon bewusst was man da tut, er weiß auch was die Wahrheit ist und was wirklich in der Ukraine vor sich geht, aber es ist ihm völlig egal. Zu diesem spezifischen russischen Zynismus gehört eine extreme Apathie und sehr oft eine extreme Menschenverachtung, selbst wenn man das nach außen hin nicht zeigen will.

Dazu kommt ein über alle Gruppen hinweg auftretendes Bewundern von Stärke und Härte als Wert für sich und die feste Überzeugung dass die Schwachen keinerlei Gnade verdient haben. Der Starke der sich erfolgreich über andere hinweg setzt und dadurch deren Rechte missachtet wird in Russland bewundert. Vorausgesetzt er ist erfolgreich. Andernfalls: Es gibt keine Gnade für die Schwachen.

Das ist meiner Meinung nach der Kern der sozialkulturellen Grundströmung dort. Und daraus erklärt sich vieles was so geschieht, von der asozialen Kriminalität über den übertriebenen Nationalismus bis hin zu den Kriegsverbrechen.
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Vielen Dank für die ausführlichen Erläuterungen bzw. die umfangreiche Beantwortung meiner Fragen.

Ich muss zugeben, dass ich die Anzahl an fehlenden Fachkräften (600000 laut deines Bekannten) erstmal so hingenommen habe, bei genauerer Betrachtung ist das aber natürlich tatsächlich ein riesiger Mangel welchen man auch nicht so schnell beseitigt bekommt.
Ich wusste ja, dass die russische Rüstungsindustrie groß ist. Aber dass sie so groß ist, dass man noch 600000 Leute zusätzlich beschäftigen könnte war mir dann doch neu.
Im Vergleich zu den Beschäftigungszahlen der hiesigen Rüstungsindustrie kaum vorstellbar...

Definitv äußerst interessant ist auch dein Bericht zur Stimmung in der Bevölkerung.
Ist eben doch eine andere Welt...

Bin sehr gespannt, wie sich die einzelnen Aspekte deiner Ausführungen in Zukunft entwickeln und welche Auswirkungen das auf die Armee haben wird.
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Die extreme Gleichgültigkeit sehr vieler Russen wird inzwischen von der Militärführung wie auch von Putin selbst als Problem angesehen. Obwohl man sie jahrelang nach Kräften gefördert hat, da der nihilistische Zynismus der da in weiten Teilen der Gesellschaft herrscht die Macht der Eliten stabilisiert und erhält. Nun aber schlägt das im Krieg nach hinten aus, denn zu vielen Russen ist auch der Krieg genau so egal wie alles andere. Selbst den Soldaten an der Front ist der Krieg weitgehend egal, sie lehnen ihn aber auch nicht ab oder vermeiden den Kampf. Diese eigentümliche Geisteshaltung dürfte neben vielen anderen Aspekten ein Grund dafür sein, warum die Russen sich jetzt in der Defensive deutlich besser schlagen als in der Offensive. Selbst russische Soldaten deren Leben akut gefährdet ist, verhalten sich meist sehr passiv, sie handeln aber, wenn es ihnen befohlen wird. Zwar nicht voll motiviert, aber sie handeln - genau genommen ist ihr Handeln auf Befehl nämlich einfach auch Passivität.

In der Verteidigung kann man nun deutlich besser befehlen und Pläne zentralisiert ausarbeiten und zentralisiert durchsetzen. Entsprechend kämpfen die russischen Soldaten jetzt deutlich mehr und deutlich aktiver als während ihrer Offensiven, und zwar weil es ihnen halt befohlen wird und sie einfach tun was ihnen befohlen wird in der Grundannahme, dass jedwedes eigenes Handeln (wozu auch aktiver wie passiver Widerstand gehören würde) einfach sinnlos ist. Entsprechend macht man eigentümlicherweise meist auch keinen Dienst nach Vorschrift, sondern man wartet halt passiv darauf, dass einem sein Handeln angeschafft wird, und dann handelt man so wie es angeschafft wird.

Nun hat der russische Staat wie gesagt erkannt, dass dies für viele militärischen Aufträge äußerst nachteilig ist und daher versucht man jetzt gerade zunehmend und mit Hochdruck in der Gesellschaft entgegen zu steuern. Man will mit sehr viel mehr Propaganda, Einflussnahme schon bei den Kindern und zentalisiert befohlenem Patriotismus die Bürger aktivieren aus dieser Passivität auszubrechen. Dafür setzt man vor allem bei den Kindern an, entsprechend beispielsweise erst im Dezember 2022 die Gründung einer neuen einheitlichen landesweiten Jugendorganisation welche die Kinder und Jugendlichen zu begeisterten aktiven Patrioten erziehen soll. Und bei meiner rein persönlichen Einschätzung nach ungefähr einem Viertel der Kinder verfängt das auch, der Rest bleibt wie er ist, täuscht das also allenfalls vor.

Gleichzeitig aber wird diese persönliche Passivität durch eine starke Neigung zum Regelbruch, zur Normverletzung, zum Hinwegsetzen über Gesetze und Werte konterkariert. Diese Neigung bricht sich nur deshalb nicht auf einer strategischen Ebene Bahn, weil die persönliche Passivität sie einschränkt. Das klingt erstmal widersprüchlich, aber solche Widersprüche gibt es dort zuhauf. Und entsprechend bewundert man diejenigen, welche (praktisch gesehen) stellvertretend für den ganzen Frust und Hass den man selber empfindet aus dem System erfolgreich ausbrechen.

Daher beispielsweise die Jugendkultur in Russland welche Mafiastrukturen in den Gefängnislagern in Sibirien bewundert und diese aktiv unterstützt (Solidarität mit den Gefangenen). Diese Jugendkultur wurde so problematisch, dass der Staat kurz vor dem Krieg begann massiv gegen sie vorzugehen. Schlussendlich bewundert man also die organisierte Kriminalität, asoziale Strukturen und Elemente und jedweden erfolgreichen Regelbruch. Deshalb regt sich auch niemand über erfolgreiche und reiche Kriminelle auf, ihr Reichtum und Erfolg legitimieren ihre Handlungen.

Und gerade deshalb beispielsweise die rasant wachsende Wut in der Bevölkerung auf die Armeeführung und die zunehmend offen geäußerte Bewunderung für Prigozhin und umgekehrt die aktuellen hektischen Versuche der Regierung Wagner und Prigozhin zu delegitimieren und schlecht aussehen zu lassen. Es war jederman bekannt, dass die Armeeführung korrupt war und alles gestohlen hat was man nur stehlen kann, aber dafür war man ja die zweitstärkste Armee der Welt und in Bezug auf Atombomben die Stärkste. Der Verlust dieser Illusion, die Erkenntnis dass man also gar nicht militärisch stark ist, delegitimiert die Armeeführung und vor allem delegitimiert es die Korruption in der Armee, die ja nur deshalb hingenommen wurde, weil man dafür im Gegenzug militärisch so stark ist. Sollte Russland in der Ukraine militärisch verlieren, wird das die Bevölkerung unter gar keinen wie auch immer gearteten Umständen so hinnehmen. Dann ist der Status Quo nicht haltbar.

Ein weiterer Aspekt ist der grassierende Alkoholismus in Russland. Mein persönlicher Eindruck ist, dass der Konsum in den letzten Jahren entgegen den offiziellen Zahlen deutlich zugenommen hat. Wie so oft wird das nicht öffentlich gemacht. Beispielsweise gilt es in Russland als Zeichen für Alkoholismus bzw. als nicht legitim alleine Alkohol zu trinken. Das macht man nur in Gesellschaft zusammen mit anderen. Entsprechend wird jeder Russe immer angeben, dass er gar nicht so viel trinkt (weil nur zusammen mit Freunden etc) aber die saufen insgeheim immer krasser. Das zerstört Familienstrukturen, führt zu Gleichgültigkeit und Gewalt in den Familien und schließlich hinterlässt das alles deutlich Spuren bei zu vielen russischen Kindern, die entsprechende Charaktere entwickeln.

Stichwort archaische Gesellschaftsvorstellungen und Gewalt in den Familien. In Russland gibt es relativ viel Gewalt gegen Frauen in den Familien. Das wird aber ebenso einfach hingenommen, und viele Frauen sehen einfache Schläge, Ohrfeigen usw als ganz normal an. Man ruft auch wegen so etwas nicht die Polizei. Diese notorische Gewalt in den Familien bringt natürlich grundsätzliche gewalttätige Menschen hervor. Auch dies wird öffentlich nicht kommuniziert, aber heimlich intern gutgeheißen.

Nun sind das alles nur Tendenzen, gewisse - allerdings große Anteile der Bevölkerung sind so, aber weiß Gott nicht alle. Sehr viele Russen, gerade in den großen Städten im Westen Russlands sind völlig anders. Aber diese urbane russische Klasse prägt Russland nicht. Geprägt wird es durch die Landbevölkerung. Das ist kontraintuitiv, weil ungefähr drei Viertel der Russen in Städten leben. Viele der Städte im Osten aber rechne ich zur Landbevölkerung, sie entsprechend nicht dem was wir unter einer urbanen Bevölkerung verstehen. Es ist die Kultur der Landbevölkerung, welche maßgeblich ist, und diese wirkt selbst in Großstädte hinein.

Vor allem aber wirkt sie in das Militär und jedwede andere Art von bewaffneten Einheiten hinein, weil sich diese weit überproportional aus der Landbevölkerung rekrutieren und eben nicht aus den im Westen gelegenen Großstädten. Beispielsweise stellen Russen aus Sibirien weit weit über ihrem Bevölkerungsanteil Soldaten für die russische Armee, genau so die ethnischen Minderheiten in Russland, ganz allgemein die Peripherie. Und genau dort wirkt auch die Kultur der Lager und der Mafiagruppen in den Lagern sehr stark in der Zivilbevölkerung, schlicht und einfach weil die Lager dort liegen, weil dort viele Russen die dort leben selbst aus dieser Lagerkultur stammen (noch aus Sowjetzeiten) und weil es eine Wechselwirkung zwischen den Lagern und der freien Bevölkerung dort gibt. Die russische Armee wird also von ethnischen Minderheiten, Peripherie, Landbevölkerung und der kriminellen Subkulturen der russischen Gangster geprägt. Entsprechend archaisch und unzivilisiert sind die russischen Streitkräfte.

Jedwede Zivilisiertheit wird in Russland von einem Gros ohnehin nur vorgetäuscht und dies in einer bloßen Kopie des Westens. Und dies gilt umso mehr für die Armee, die ja aus einem ganz anderen Russland rekrutiert wird, als jenem der großen Städte im Westen. Entsprechend gären da ganz andere Kräfte unter dem Deckel, auf welchen die russische Führung mit aller Gewalt drauf hält.

Dazu muss man auch wissen, dass die russischen Soldaten in Russland entgegen der offiziellen Darstellung genau wegen der gerade angeführten Aspekte und Punkte einen niedrigen gesellschaftlichen Rang inne haben. Gerade die städtischen Eliten im Westen verachten Soldaten und die Armee an sich. Die Führung wiederum fürchtet die Armee als eine Macht die sie stürzen könnte und entsprechend wird die Armee hinter den Kulissen klein gehalten. Russland ist ein Staat der Geheimdienste, der Geheimpolizei, der inneren Sicherheit und der Polizei, aber es ist kein Militärstaat, keine militaristische Gesellschaft und keine die eigentlich wirklich auf den Krieg ausgelegt ist, auch wenn das nach außen hin so dargestellt wird.

Noch ein Aspekt ist beschließend der Bürokratismus und die Ineffizienz der Russen, wobei beides oft direkt zusammen hängt. Die russische Bürokratie dient in erster Linie dazu die Armee klein, gefügig und machtlos zu halten, damit sie nicht die Eliten gefährden kann. Im aktuellen Krieg aber in Bezug auf die Zukunft der Streitkräfte stellt genau dieses Machtinstrument welches ja gegen die Armee gerichtet ist ein Problem dar.

Die Führung kann sich genau genommen eine starke, fähige, selbstständige und siegreiche Armee gar nicht leisten. Eine solche Armee würde auf der Stelle die Führung eliminieren und selbst die Macht ergreifen. Entsprechend erwürgt man auch mitten im Krieg die russischen Streitkräfte mit möglichst viel Bürokratie, nur um sie nicht durch den Krieg hochkommen zu lassen. Und entsprechend galten die ersten Säuberungen welche man jetzt nach dem Vorstoß Prigozhins vorgenommen hat der Armee, den Offizieren der Streitkräfte und dort hat man auf der Stelle, so schnell wie möglich und sehr viel schärfer durchgegriffen als in jedem anderen Bereich.

Wenn man all dies zusammen nimmt, ergeben sich daraus meiner Meinung nach folgende Auswirkungen: solange das aktuelle politische System bestehen bleibt, wird die russische Armee nur immer weiter verfallen und immer schwächer werden. Russland wird militärisch zumindest im konventionellen Bereich ein Zwerg werden. Die russischen Streitkräfte werden sich auch nach einer Niederlage nicht militärisch erneuern können (Niederlagen führten ja sonst in der Militärgeschichte oft dazu, dass Armeen sich erneuerten). Stattdessen wird man genau so weitermachen wie bisher und Druck, Kontrolle und Bürokratie noch ausweiten.

Sollte aber das aktuelle politische System stürzen, dann wird die Zukunft der russischen Streitkräfte vor allem anderen davon abhängen, wer genau da an die Macht kommt und wie dieser zur Armee steht bzw. wie er mit dieser politisch verbandelt wird. Sehr viele der möglichen Machtgruppen welche da von Putin übernehmen könnten, sind aber ganz genau so der Armee insgeheim feindlich gesinnt bzw. sehen in einer starken erfolgreichen Armee eine politische Gefahr.

Sollten gewisse militaristisch / faschistische Gruppen von Ultranationalisten an die Macht kommen, dann aber könnte sich etwas grundsätzlich ändern und dann könnte Russland auch in kurzer Zeit seine Streitkräfte reformieren und neu und mit erheblicher militärischer Stärke wieder aufstellen. Die Wahrscheinlichkeit dass es zu einer solchen Machtübernahme von ganz rechts außen kommt ist zwar gegeben, sie ist aber meiner Einschätzung nach nicht hoch (Gott sei es gedankt).

Wenn die Regierung aber jetzt in den folgenden Jahren / der folgenden Dekade ausgerechnet den Ultranationalismus weiter so schürt wie es aktuell geschieht und entsprechende Personen und Gruppen sich weiter frei ohne Konsequenzen äußern können (Musterbeispiel Strelkov), dann wird die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Umsturz von ganz rechts außen stark steigen. Aktuell benutzt die Regierung die Ultranationalisten, oder sie ignoriert sie einfach, beides stellt ein Problem dar. Umgekehrt heißt dies, dass wir mit unserem jeweiligen Handeln nur wenig oder keinen Einfluss auf diese Entwicklung haben, die läuft meiner Meinung nach unabhängig davon was wir so tun. Ob also die Ultranationalisten die Macht an sich reißen und dann die russische Armee wieder wie ein Phönix aus der Asche aufsteigt, hängt primär von rein innerrussischen Entwicklungen ab, primär vor allem anderen aber vom weiteren Umgang der aktuellen Regierung mit den entsprechenden Kreisen.

Schlussendlich wird allein Putins Versagen oder Nicht-Versagen völlig unabhängig von dem was wir so tun dazu führen, dass extreme Faschisten die Macht ergreifen oder auch nicht. Und entsprechend sich die Armee neu aufstellt oder auch nicht.

Ganz beschließend kann ich nur davor warnen, die Russen zu unterschätzen, wie es jetzt durch die allgegenwertige vorherrschende pro-ukrainische Echokammer im Westen geschieht. Sie sind zum Glück nicht ansatzweise so stark wie befürchtet, dass bezieht sich aber eben nur auf den Status Quo und dieser wird zunehmend instabil und volatil. Russland wäre dazu in der Lage Streitkräfte aufzubauen und einzusetzen, die eine erhebliche Gefährdung Europas darstellen. Das dies zur Zeit immer mehr geleugnet oder ignoriert oder ins Lächerliche gezogen wird und ein zu großer Vorsprung des Westens propagiert wird ist meiner Meinung nach ein erheblicher politischer Fehler.
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„Die Härte der russischen Gesetze wird durch ihre allgemeine Nichteinhaltung gemildert“
Eine schon vor 180 Jahren von Marquis De Custine niedergeschriebene Zeile.

Was die Vorgänge, Zustände und Verhältnisse in der russischen Gesellschaft für den Beobachter nach DIN-Norm so schwer fassbar machen, ist diese Ambivalenz, die Du, sehr geschätzter @Quintus, so detailliert gezeichnet hast. Nach grober Überschlagsrechnung hast Du seit Februar '22 mit Deinen Analysen und den damit verbundenen Prognosen eine erstaunlich hohe Treffsicherheit. Das ist auffallend. Respekt!
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Ich hatte aber auch oft Unrecht.

Als meinen größten Denkfehler würde ich es ansehen, dass ich die ersten Wochen (Monate) im Prinzip der gleichen Auffassung war wie die Strategen in den USA, dass man der Ukraine nicht so viel Waffen liefern darf sondern dass ganz langsam Stück für Stück machen muss um entsprechende innenpolitische Folgen in Russland zu mindern. Damals war Nightwatch bereits der Ansicht, man müsse viel massiver unterstützen und inzwischen bin ich der gleichen Auffassung (wenn auch sich die Details und die dahinter stehende Motivation unterscheiden).

Beschließend vielen Dank für das Zitat, dass ich noch gar nicht kannte! Das Buch Russische Schatten muss ich mal unbedingt als nächstes lesen.

Noch eine kurze Anmerkung zur sogenannten Russischen Seele, wie sie ja vor allem anderen in Deutschland gezeichnet wurde (meiner Meinung nach ist sie eine Erfindung der deutschen Romantik die dann überhaupt erst von russischen Intellektuellen übernommen wurde). Diese russische Seele gibt es meiner Ansicht nach so nicht, bzw. nicht so wie sie hierzulande dargestellt wird. Das ist stattdessen nur das Selbstbild eine gewissen sehr kleinen Gruppe von Intellektuellen und Künstlern gewesen und beschreibt im Endeffekt nur die Einstellung einiger russischer Künstler, nicht aber den Charakter des russischen Volkes selbst, dass davon deutlich abweicht.

Früher habe ich öfter geschrieben, dass für das Verständnis der russischen Gesellschaft das Werk von Scheibelreiter - Die Barbarische Gesellschaft - deutlich geeigneter ist, obwohl es nicht von den Russen handelt.
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Ja, muss ich zeitnah lesen. Vielen Dank dass mich dieses Zitat darauf gestoßen hat !

https://de.wikipedia.org/wiki/Russische_Schatten

Zitat:Auf den ersten Blick erscheint Russland Custine als ein zivilisiertes Land, doch sehr schnell bemerkt er, dass dies vor allem auf Fassaden aufbaut. Die gerühmte Gastfreundschaft etwa ist vor allem eine Möglichkeit der Präsentation und mangelt wahrhaft empfundener Herzlichkeit, und die große Höflichkeit verwandelt sich schnell in rohe Gewalt. Auffällig ist Custine dabei die allgemeine Ergebenheit und der Fatalismus, der aber plötzlich, wie er zu hören bekommt, bei Aufständen auch in äußerste Brutalität umschlagen kann.

Dazu noch ein Punkt: Russen sind solange Gleichgültig, wie sie irgend etwas haben was sie verlieren könnten und für dass sie sich sehr anstrengen. Wenn man ihnen das nimmt, dann kann diese Gleichgültigkeit schlagartig wegfallen und dann bricht sich plötzlich extremste Gewalt ihre Bahn. Prigozhins Handeln wäre ein gutes Beispiel für diesen Mechanismus.

Ein Beispiel: als ich vor Jahren in Ostsibirien war, lernte ich dort eine russische Familie kennen, deren Vater unverschuldet viele Probleme mit der örtlichen Polizei hatte - dass hatte rein persönliche zwischenmenschliche Gründe. Er wurde dann von einer Polizeistreife komplett rechtswidrig einfach zusammen geschlagen. Er ließ sich aber auch danach noch belieben herumschikanieren, obwohl er Beweise gehabt hätte und die Polizeibeamten hätte anzeigen können. Als Grund dafür nannte er seinen einzigen Sohn, für diesen würde er einfach alles hinnehmen und erdulden. Denn sollte er irgendwie protestieren, und sich beschweren und die Polizisten anzeigen, würden die Behörden ihm als Rache das Kind wegnehmen. Die könnten auch so jederzeit kommen und ihm ohne jeden Grund den Sohn wegnehmen. Deshalb müsse er sich unterordnen.

Ich fragte ihn daraufhin, was denn passieren würde, wenn der Staat ihm plötzlich einfach so den Sohn wegnehmen würde. Daraufhin verzog sich sein Gesicht derart vor Hass dass ich dachte er dreht jetzt auf der Stelle völlig durch und erklärte, dann habe er ja nichts mehr zu verlieren und er werde dann einfach nur so viele Beamte des Staates töten wie nur irgendwie möglich. Weil die Polizisten ja Waffen hätten, würde er dann in der Kommunalverwaltung alle umbringen weil er dann dort mehr töten könne bis er selbst getötet wird, aber vorher würde er die Kinder dieser Beamten in deren Häusern umbringen usw. Völlig irrational und extremst. Dass er dabei wild mit einem Küchenmesser rumfuchtelte machte es nicht besser.

Das ist kein Einzelfall, auch wenn es natürlich für sich nur eine anekdotische Evidenz ist, so ist das doch meiner Meinung nach ein gewisser typischer Zug in der russischen Sozialkultur. Man erträgt aus irgendwelchen Gründen mehr als jeder Mensch sonst ertragen würde, aber es gibt durchaus Rote Linien, und werden diese überschritten, dann hat das auf der Stelle extremste Gewalt zur Folge.

Die Staatskunst in Russland ist es also, diese Roten Linien genau zu kennen und peinlichst einzuhalten. Auf das ganze Volk bezogen kann man sich deshalb bestimmte Dinge nicht leisten, weil dies auf der Stelle den Ausbruch von Gewalt sondergleichen nach sich zieht. Und das gilt umso mehr noch für die Armee.

Man kann mit russischen Soldaten alles mögliche anstellen, aber es gibt gewisse Rote Linien und dann hat man eine Bande von amoklaufenden Barbaren vor sich. Wobei die Gründe aus unserer Sicht meist komplett irrational sind, dass folgt also nicht unserer Logik.

Starke Irrationalität und Widersprüchlichkeit sind daher meiner Meinung nach die wesentlichsten Merkmale dieser Kultur. Dazu gehört auch das Zwiedenken. Man weiß dass 2 + 2 die Zahl 4 ergibt, aber man weiß auch zugleich, dass es 5 ist. Das ist für Russen kein Widerspruch. Man kann logisch rational denken und zugleich völlig irrational. Darin liegt das Barbarentum in Russland und in der russischen Armee im Besonderen, rekrutiert sich diese doch vor allem aus wirklich "russischen" Russen, in denen diese Wesenszüge noch sehr viel stärker ausgeprägt sind als in der urbanisierten westlichen Bevölkerung der Großstädte im europäischen Teil Russlands.
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Ein Russe hat "sich und alle Russen" einmal so erklärt:

Die Welt würde fast immer in Osten und Westen eingeteilt. Russland etwa würde mal als Ganzes dem Osten zugerechnet, mal nur mit seinem asiatischen Teil. Und es wäre stets eine entweder-oder-Situation. Östliche Philosophie gegen westliche Philosophie. Östliche Medizin gegen westliche Medizin.

Doch es gäbe auch einen Raum dazwischen, der mehr ist als nur die Grenze zwischen Ost und West. Es gibt eine Mitte, wo sich beide Seiten treffen und vermischen. Das ist besser als nur eine Seite zu haben. Russland ist diese eine Mitte, die Ost und West vereint, etwas Ganzes bildet und alles hat und niemanden braucht.

Die Russen selber würden sich aber nicht als Ostvolk sehen, schon deshalb nicht, weil sie sich als Zivilisation mit einer Vielzahl an Völkern sehen. Ostkulturen und Westkulturen hätten jeweils ihre eigenen Vorteile und Nachteile - aber sie haben doch nie mehr als die Hälfte.
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Zu den Ingenieuren und Technikern verweise ich mal auf einen über 10 Jahre alten Artikel. Trotz aller gewachsener Korruption usw. muss man feststellen dass Rußland und vorher die Sowjetunion auch im Vergleich zu den westlichen Industrieländern überproportional Ingenieure und Techniker ausgebildet hat. Das Problem waren in der SU eher die Planwirtschaft und danach eben die allgemeine Korruption.

https://taz.de/Das-Bildungssystem-Russlands/!5120301/

Und zu den Manufakturen die Quintus hier nennt. Ohne jetzt selbst Kenntnisse aus erster Hand über die russ. und westl. Rüstungsindustrie zu haben stellt sich für mich die Frage ob bei den oft geringen Stückzahlen (wenige hundert in 10-20 Jahren) nicht auch im Westen eher im Rahmen einer Manufaktur gearbeitet wird. Ich bezweifle irgendwie dass zum Beispiel die genannten Hubschrauber in den USA vom Band rollen und in der EU schon gleich gar nicht.
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Vielen Dank für diesen Artikel. Der beschreibt vieles perfekt, was sich in den letzten 10 Jahren nochmal deutlich verschlimmert hat.

Dass die Zustände in der Rüstungsindustrie in Europa, insbesondere in der deutschen Rüstungsindustrie ebenfalls katastrophal bis bizarr sind, ist davon ja völlig unbenommen. Aber bei einer Bewertung der russischen Möglichkeiten hilft es ja in keinster Weise weiter festzustellen, dass in dieser Bundesrepublik die Rüstungsindustrie ebenfalls äußerst unrund läuft, wenn auch aus völlig anderen Gründen.

Ein paar Auszüge aus dem Artikel:

Zitat:Der Flugzeughersteller Suchoi ist ein Vorzeigeunternehmen der russischen Rüstungsindustrie. Vor allem Kampfjets stellt der Staatsbetrieb her, der im August 2010 Schlagzeilen machte: Siebzig Mitarbeiter hatten gefälschte Ingenieurdiplome. Die Unternehmensleitung hielt dies für keinen Entlassungsgrund.

Zitat:Später stellte sich heraus, dass der Betrieb die Diplome selbst organisiert hatte, um Anforderungen der Moskauer Zentrale zu genügen, die auf eine Aufstockung qualifizierter Kader gedrängt hatte.

Zitat:Experten schätzen, dass je nach Fachrichtung der Anteil gekaufter Doktortitel zwischen 30 und 50 Prozent beträgt.

Zitat:Die Abteilung für Wirtschaftssicherheit im Innenministerium bezifferte den Umfang der Bestechungsgelder im Bildungssektor 2009 auf 5,5 Milliarden Dollar. Allein 1,5 Milliarden zahlten angehende Studenten, um sich den Zugang zur Hochschule zu erschleichen.

Zitat:In absoluten Zahlen besitzt es den größten Akademikerpool der Welt. Von 350 Millionen Menschen mit Hochschulabschluss leben 20 Millionen in Russland, das mit 2 Prozent der Weltbevölkerung 6 Prozent aller Akademiker stellt.

Zitat:Von 3.000 Einrichtungen seien höchstens 100 bis 150 konkurrenzfähig, klagte Bildungsminister Andrei Fursenko. Im Ranking des "Times Higher Education Index", der die 200 weltweit führenden Universitäten ermittelt, fand sich 2010 kein einziger russischer Name.

Zitat:Die Leistungsfähigkeit des akademischen Sektors bleibt aber weit hinter den Erwartungen zurück. Zwischen 1995 und 2008 registrierte das US-Patent-Amt (USPTO) weltweit 2,3 Millionen Patente. Nur 0,1 Prozent stammten aus Russland. Ohne den überdurchschnittlichen Bildungsstand mitzurechnen, hätte es allein schon mit 2 Prozent der Weltbevölkerung das Zwanzigfache an Patenten vorlegen müssen. Japan meldete im selben Zeitraum 200-mal, Deutschland 60-mal mehr Patente an.

Zitat:Ein Blick auf die Handelsstatistik verrät, dass sich auch die Arbeitsproduktivität, berechnet nach den Einnahmen aus dem Export von Fertiggütern, auf einer Stufe mit Marokko und den Fidschi-Inseln bewegt.

Zitat:Der Lehrkörper zählt zu den konservativsten gesellschaftlichen Gruppierungen, die sich an die Fiktion eines zivilisatorischen "Sonderwegs" für Russland klammern. Dieser Mythos der Einzigartigkeit beherrscht besonders in der Provinz den Kanon der Sozial- und Geisteswissenschaften.

Wer glaubt, ein ausländischer Studienabschluss würde die Karrierechancen verbessern, sieht sich getäuscht. Auch darin unterscheidet sich Russland von China, das Diplomanden mit Auslandsexamina hofiert.

Das letztgenannte kann ich aus eigener persönlicher Erfahrung bestätigen (spezifisch für die Jahre 2006 bis 2008). Ausländische Abschlüsse sind in Russland rein gar nichts wert. Man ist / war auch nicht daran interessiert das Wissen von Ausländern abzugreifen, was schon einigermaßen erstaunlich ist.

Aber die Basis wäre im Prinzip immer noch da, wenn man es nur wirklich wollte und wenn die gesamte Gesellschaft nicht in viel zu großem Ausmaß dermaßen passiv wäre und/oder zu asozial, dann könnte man darauf meiner Einschätzung nach recht schnell erhebliche Kapazitäten aufbauen.

Stattdessen läuft es aktuell so, dass der Sohn eines Parteifunktionärs in der Verwaltung eine Ingenieursstelle kriegt, obwohl er die Fachkenntnisse nicht hat, während jemand der die Fachkenntnisse hat überhaupt keine Arbeit kriegt obwohl er qualifiziert ist und wenn er sich selbstständig macht dann von den Behörden so massiv drangsaliert wird, dass er sein Unternehmen wieder schließt. Während der andere sich in dem Unternehmen wichtig tut aber schlußendlich gar nichts leistet außer Unmengen von Büromaterial zu stehlen und zu verkaufen.

So wird man natürlich niemals eine funktionierende Hochleistungs-Rüstungsindustrie aufziehen können. Und entsprechend sollten wir diesen Zustand unbedingt erhalten und befördern. Die militärischen Nachteile dieser Fehlentwicklungen auf die militärische Schlagkraft der rusisschen Streitkräfte werden meiner Meinung nach heillos unterschätzt. Das ist meiner Ansicht nach wesentlicher als vieles andere was da schiefläuft. Beispielsweise wird zur Zeit gerne die Korruption in der Armee und die rigide Befehlstaktik als Problem benannt. Die genannten Probleme was technologische Weiterentwicklung und Hochtechnologie angeht sind aber viel wesentlicher. Auch mit einer rigiden Befehlstaktik und all den Defiziten in der Führung und Struktur, könnten die russischen Streitkräfte sehr viel mehr militärische Schlagkraft entfalten, wenn die genannten Probleme in der Zivilgesellschaft nicht dergestalt wären.

Tatsächlich hat die Befehlstaktik und die Primitivität der russischen Kriegsführung sogar erhebliche Vorteile. Es wäre für Russland falsch davon abzugehen. Entsprechend müsste Russland an einer völlig anderen Stelle militärische Stärke aufbauen, da es sie eben nicht über eine Veränderung der Doktrin und der inneren militärischen Kultur erreichen kann.

Entsprechend war beispielsweise der Versuch der Militärreform und der Versuch eine Art Unteroffizierskorps zu schaffen meiner Meinung nach ein Fehler und hat die russischen Streitkräfte geschwächt. Insbesondere weil man dafür die Sondergruppe der niederen Offiziere (Fähnrichslaufbahnen) kaputt gemacht hat. Nun hat man das schlechteste aus beiden Welten, statt seinen eigenen Weg evolutionär zu verbessern.

Je länger der Krieg dauert und je härter die Umstände sind, desto mehr Vorteile generiert der russische Weg - womit ich die grundsätzliche Doktrin und Auffassung vom Krieg in den russischen Streitkräften meine. Früher war dieser Vorteil sogar noch viel erheblicher und allein daraus Russland eine militärische Großmacht. Im heutigen Zeitalter der Hochtechnologie fehlt aber Russland eben diese, um damit die eigenen genuinen militärischen Vorteile nutzen zu können bzw. auf diesen aufzubauen.

Nirgendswo zeigt sich das meiner Ansicht nach besser als bei der Artillerie, insbesondere bei Präzisionsmunition hoher Reichweite und bei der Frage der bloßen Zünder. Eine russische Artillerie auf dem gleichen technologischen Stand wie die westliche, wäre verheerend. So aber wie sie ist, bleibt sie aus den in dem Artikel bereits angerissenen Problemstellungen weit unter ihren Möglichkeiten. Und so pflanzt sich das eigentlich durch alle Bereiche der russischen Streitkräfte fort.

Was für eine Streitkraft ersten Ranges man doch in Russland aufbauen könnte! Wenn man es könnte, aber es sind vor allem anderen die Umstände in der Zivilgesellschaft die dies verhindern. Und so vergeudet man ein herausragend gutes Soldatenmaterial welches im modernen Krieg trotz aller Opfer und aller eigenen extremen Härte scheitern muss, weil diese für sich allein eben nicht mehr ausreichend sind.

Man spricht ja seit Monaten über das Heldentum der Ukrainer. Und zweifelsohne, die Leistung der ukrainischen Soldaten ist eine militärische Heldentat, mit so vielen Beispielen für außergewöhnliches Heroentum, dass dies einen hervorgehobenen Platz in der Kriegsgeschichte verdient. Aber: die Umstände unter denen die russischen Soldaten kämpfen und sterben sind derart schlecht, dass allein dies aufzeigt, was für eine Leistung man aus diesen Soldaten heraus holen könnte, würde man sie nur gut führen und gut ausrüsten. Am einfachen russischen Soldaten liegt es nicht, dass Russland zunehmend verliert. Ganz im Gegenteil, wäre keine westliche Streitmacht und wären auch die Ukrainer unter derart extremen Umständen meiner Meinung nach nicht mehr in der Lage überhaupt weiter zu kämpfen.

Was für eine Verschwendung, was für eine Vergeudung von in Wirklichkeit herausragend guten Soldaten die weltweit ihresgleichen suchen. Sinnlos ums Leben gebracht durch eine Mafiabande welches sich des Staates bemächtigte. Dieser Verlust wird ebenfalls die russischen Streitkräfte auf mindestens eine Dekade hinaus oder noch länger hart treffen. Denn dieser Verlust an Soldaten lässt sich nicht mehr so einfach kompensieren, dafür ist zu viel an Kenntnissen und Erfahrung gestorben, sind zu viele Ausbilder gestorben und sind zu viele der Besten und der Idealisten gestorben.

Zwar ist das russische militärische System spezifisch darauf ausgerichtet, trotzdem weiter zu funktioineren, und auch ohne jede Qualität und ohne jede Motivation immer noch weiter zu laufen, aber trotzdem wird dies die russische Armee auf eine Generation von Soldaten aufwärts erheblich schwächen. Sehr zu unserem Vorteil.
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(07.07.2023, 23:11)lime schrieb: https://taz.de/Das-Bildungssystem-Russlands/!5120301/
(08.07.2023, 00:02)Quintus Fabius schrieb: Vielen Dank für diesen Artikel. Der beschreibt vieles perfekt, ...

Dass ich das nochmal erleben darf: lime verlinkt die taz, Quintus dankt dafür, und lobt den Artikel! In was für verrückten Zeiten wir doch leben.... Big Grin
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(08.07.2023, 01:04)Broensen schrieb: Dass ich das nochmal erleben darf: lime verlinkt die taz, Quintus dankt dafür, und lobt den Artikel! In was für verrückten Zeiten wir doch leben.... Big Grin

Auch die TAZ hat ab und an mal einen lesenswerten Artikel Big Grin Ich lese die Zeitung übrigens schon seit vielen Jahren, immer wenn ich bei meinem Lieblingsbäcker bin, weil sie dort im Zeitungspool ausliegt und ich zu den Dinos gehöre die oft noch in Ruhe beim Bäcker frühstücken und dabei Zeitung lesen.
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Broensen:

Also bitte: als Rechtsradikal*innen sind wir die letzte verbliebene Gruppe in dieser Bundesrepublik, die wahrhaft für Meinungsvielfalt und Toleranz gegenüber anderen politischen Ansichten eintritt ! Aber mal ernsthaft: ich lese überwiegend die Süddeutsche und die Taz, wenn ich mal Zeitung lese. Denn wozu soll ich in irgendwelchen rechten Meinungsblasen das lesen was ich ohnehin schon weiß ?

Allgemein:

Das russische Verteidigungsministerium hat ja seine eigene Seite auch auf Englisch:

https://eng.mil.ru/

Abgesehen von jeder Menge rührender Propaganda findet man da auch alles mögliche sonstige, und manchmal auch recht ansehliche Filme und Bilder.

https://eng.mil.ru/en/mission/practice/all.htm

https://eng.mil.ru/en/special_operation/news.htm

Und die Propaganda kann man sich ja selber wegdenken.
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(09.07.2023, 00:51)Quintus Fabius schrieb: ich lese überwiegend die Süddeutsche und die Taz, wenn ich mal Zeitung lese. Denn wozu soll ich in irgendwelchen rechten Meinungsblasen das lesen was ich ohnehin schon weiß ?

Da hast du mir was voraus. Wenn ich mal über meinen ZEIT-Horizont hinaus blicken möchte, schaffe ich es maximal bis zum Merkur. Big Grin
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Eine neue russische 8 x 8-Radhaubitze, die "2S43 Malva" (152 mm). In gewisser Weise ein Novum, da die Russen bislang ihre Artillerie entweder gezogen oder auf Kette bewegten. Offenkundig hat sich der "Hype" um Radhaubitzen im Westen so langsam auch gen Osten ausgebreitet...
Zitat:Russia enhances military capabilities with 152mm self-propelled howitzer 2S43 Malva successful trials [...]

The Russian state-owned conglomerate Rostec made an announcement about the successful completion of state trials for the 8x8 wheeled 152mm self-propelled howitzer known as 2S43 Malva. This news is particularly significant as the Russian Army had previously lacked such wheeled self-propelled artillery units (SPAs), which are crucial for various tactical situations. [...]

By utilizing the same 2A64 152-mm gun as the 2S19 Msta-S tracked self-propelled howitzer, the 2S43 Malva inherits all the advantages and firing capabilities of the 2S19 system. [...] The 152mm gun on the 2S43 Malva can fire projectiles weighing approximately 43 kilograms at a maximum firing range of 24,500 meters, with a rate of fire estimated to be around 7-8 rounds per minute, significantly higher than other artillery systems of its type. This high rate of fire is achieved through a specially designed gun-loading mechanism. With an ammunition load of 30 rounds, the 2S43 Malva weighs 32,000 kg, making it notably lighter than the tracked 2S19 Msta-S. It has an elevation range of -3 to +70 degrees and a traverse range of 60 degrees. [...]

Operated by a crew of five, the 2S43 Malva measures 13 meters in length, 2.75 meters in width, and 3.1 meters in height. Under the hood, the 2S43 Malva is powered by a YaMZ-8424.10 diesel engine, generating 470 horsepower. This enables it to achieve a maximum road speed of 80 km/h and offers an operational range of 1000 km without refueling. Additionally, the howitzer can be transported by the Il-76 transport aircraft, allowing for swift deployment to distant locations.
https://www.armyrecognition.com/defense_...rials.html

Schneemann
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