Russland vs. Ukraine
Ich muss dazu sagen, dass ich nicht mit einem Krieg gerechnet habe bzw. zumindest nicht mit einer full scale invasion. Dass es die Aktivitäten in der Ostukraine gibt, dass überaus skrupellos vorgegangen wird (man denke an die Vertuschungen nach dem Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges 17), dass es einen Propagandakrieg gegen den Westen gibt, dass man der Ukraine alles mögliche abstellt - dies war alles klar und auch besorgniserregend.

Aber ich hatte nur grob den Irak von 2003 und die Ukraine verglichen, und da war die Gleichung nach meinem Empfinden im Grunde recht einfach.

a) Die Ukraine ist flächenmäßig ca. 50% größer als der Irak und topographisch deutlich herausfordernder mit Sümpfen, Wäldern etc. als ein oftmals wüstenhaftes, topfebenes Gelände (vom Nordirak mal abgesehen).
b) Die Ukrainer sind nicht wie die Iraker durch jahrelange Sanktionen geschwächt, sondern erhalten Unterstützung aus dem Westen.
c) Die Amerikaner hatten 2003 deutlich mehr Truppen als die Russen 2022 vor der Ukraine-Invasion. Und trotzdem haben sie das Land nach einem Blitzerfolg und Saddams Sturz kaum unter Kontrolle bekommen.
d) Die US-Luftwaffe, deren ELINT und die US-Logistik ist denen der Russen massiv überlegen - diese Annahme hatte ich schon 2022, als ich die Russen noch deutlich stärker eingeschätzt hatte als sie es dann tatsächlich waren.
e) Die Ukrainer würden sich sicher heftiger wehren als die Iraker, einerseits aus historischen Gründen, andererseits auch deswegen, weil sie wissen, dass sie, wenn sie verlieren, ein massives Problem und flächendeckende Unterdrückung bekommen würden. Die Iraker waren im Gegenzug kaum mehr bereit, für "ihren" Saddam zu kämpfen und zu sterben...
f) Ein Angriff im Frühjahr, wo die Schlammperiode sich abzeichnet, macht keinen Sinn. Und das wissen die Russen auch.

Meine conclusio war also: Die russischen Kräfte reichen von hinten bis vorne nicht aus (und hierbei ging ich noch von aus, dass die russischen Truppen zumindest weitgehend in gut ausgestattetem und ausgebildetem Zustand sich befinden würden; dass es dann so eine desolate und unterversorgte Räuberbande war, hatte ich nicht angenommen), der Zeitpunkt ist boden- und wetterspezifisch ungünstig, der Gegner würde sich zäh wehren und die russische Logistik müsste zumindest auch als fraglich angesehen werden.

Folglich musste es also ein anderes Ziel geben. Und dieses, so nahm ich 2021/22 an, ist es, massivsten psychologischen Druck im Rahmen einer "Maskirowka" aufzubauen, um den Westen zu verunsichern und um Zugeständnisse zu erpressen, egal ob nun bzgl. der Ukraine, von der EU oder/und von der NATO.

Dass diese Hasardeure im Kreml aber dann tatsächlich zur Großoffensive antraten, hatte ich nicht erwartet (und in den ersten Tagen war ich durchaus etwas sprachlos). Sie hätten es eigentlich besser wissen müssen.

Schneemann
Zitieren
Da der Angriff mit "unzureichenden" Kräften und zu einem für eine Invasion ungünstigen Zeitpunkt began, hat ja sogar die Ukrainer darüber hinweg getäuscht dass er unmittelbar bevorsteht. Schlussendlich gelang so die strategische Überraschung. Dazu die extreme Geheimhaltung auf russischer Seite, wo ja selbst die Soldaten in höheren Ebenen großteils nicht eingeweiht waren und die Soldaten auf den unteren Ebenen erst erfuhren dass sie jetzt in der Ukraine sind und Krieg herrscht, als sie zu ihrer Überrasschung ukrainische Zivilisten trafen.

Man hätte dies strategische Überraschung durchaus gut nutzen können und man hätte auch mit dieser "unzureichenden" Truppenzahl dadurch der Ukraine eine verheerende Niederlage beibringen können, gleich und direkt in der Auftaktschlacht, hätte man auf russischer Seite andere Angriffsachsen gewählt und hätte die Sache von Beginn an als ernsthaften Krieg aufgezogen, statt einer Art militärischen Machtdemonstration mit dem Ziel die Regierung auszutauschen. Gerade wegen letztgenanntem der (falsche) Schwerpunkt auf Kiew und die zu starke Vernachlässigung der strategischen Chancen welche sich gegen die ukrainischen Streitkräfte hier ergeben hätten.
Zitieren
Die Russen hätten die Nummer auch einfach mal bleiben lassen können. Sie sind in allen erdenklichen strategischen und taktischen Punkten an ihrer eigenen Mentalität gescheitert.
Zivilisiertheit, Besonnenheit und Weitsicht hätte der russischen Armee und Regierung gut getan, denn sie hat erheblichen Einfluss auf das Geschehen, auch und insbesondere in Gewaltsituationen. Wird unterschätzt und ist viel entscheidender als Reichweiten und Kaliber. Vor allem da sie ja gar nicht genug davon hatten und zudem taugt der Kram ja auch oft nichts.
Zitieren
Hatte heute Nachmittag eine Diskussion mit einem Russen die recht interessant war. Der war früher Offizier im Fernen Osten bei der Marineinfanterie. Große Teile seiner früheren Einheit kämpfen seit Mai 2022 in der Ukraine, er hat nach eigenen Angaben noch Kontakte in seine Einheit. Seine Aussagen waren meiner Meinung nach höchst aufschlußreich:

1. Als primären Grund für den Krieg benannte er aus russischer Sicht das Vordringen der Zitat westlichen Welt in die russische Welt. Die Ukrainer seien zum Westen übergelaufen und das Einfallstor, über welches die westliche Welt ihre Meme in Russland verbreiten würde, wenn dies nicht gestoppt wird. Die russische Welt könne aber nicht weiter existieren wenn sich in ihr westliche Werte verbreiten würden. Das wäre der Anfang vom Ende der Russen als Nation. Alles russische könne nur existieren in Feindschaft zum Westen, in Opposition zum Westen, als dialektische Verneinung von allem was westlich sei. Da der Westen nicht aufgehört hätte die westliche Kultur in der russischen Welt zu verbreiten und die Ukraine klar zeigte wohin dies führt, war der Krieg unvermeidlich. Hätte Putin ihn nicht geführt, hätte er sich in den folgenden Jahren nicht an der Macht halten können und wäre gestürzt worden, entweder durch die Ausbreitung der westlichen Welt in Russland, oder umgekehrt durch die Abwehrreaktion der Russen gegen dieses Vordringen zutiefst fremder antirussischer Kulturinhalte. Putin hätte daher keine Wahl gehabt als Krieg zu führen, da dies sonst das Ende seiner Regierung und höchstwahrscheinlich sein Tod gewesen wäre.

2. Man werde es nicht tolerieren, dass die Ukraine oder eine Restukraine oder überhaupt irgend etwas dort sich dem Westen anschließt. Selbst wenn jetzt Frieden geschlossen werde, wäre man trotzdem gezwungen sobald wie möglich erneut anzugreifen, koste es was es wolle. Es sei besser wenn ganz Russland in diesem Kampf untergehe und dann am Ende alle mitreißt als dass man die Ukraine weiterhin als Einfallstor für die westliche Welt existieren lässt. Der Kampf sei deshalb so verbissen, weil viele Russen ihn als Kampf um die Existenz der russischen Welt begreifen würden. Natürlich gäbe es bereits Russen die "verseucht" seien und praktisch gesehen dadurch keine Russen mehr, aber das ändere nichts an der grundsätzlichen Haltung einer ausreichend großen Anzahl von Russen.

3. Jeder Gedanke an Frieden und Koexistenz mit Europa sei eine lächerliche Illusion. Der Krieg mit Europa sei unvermeidbar, der einzige Grund warum man ihn bisher nicht geführt habe allein der, dass die USA zu viele Atomwaffen haben und ein zu starker Gegner seien. Trotzdem steuere alles so oder so auf einen Krieg mit Europa zu, dass sei so sicher wie das Amen in der Kirche. Man habe einfach gar keine andere Wahl, dass seien alles determistische Prozesse, man müsse einfach Europa angreifen, oder man werde selbst untergehen. Da Russland in vielem immer mehr hinterher hinke / zurückfalle, vor allem was die Technologie und die Wirtschaft angeht, wäre es besser wenn der Krieg so schnell wie möglich kommt. Ginge es nach ihm, hätte man gar nicht die Ukraine angegriffen sondern sofort Europa angegriffen. Die Europäer / Westeuropäer müssten einfach vernichtet werden, weil man mit ihnen nicht koexistieren kann.

4. Die Sache sei absolut nicht persönlich und er hasse die Europäer nicht. Die hätten genau so wenig eine Wahl wie Russland, dass seien einfach vollautomatisch ablaufende Prozesse, deterministisches Geschehen, niemand habe hier eine Wahl außer den USA, die entweder auf der Seite Europas kämpfen könnten, dann würde das ganze nuklear eskalieren oder sich raushalten, dann wären sie die lachenden Dritten und würden von der gegenseitigen Vernichtung von Russland und Europa profitieren. Man wolle in Russland diesen Krieg nicht, aber man habe ja gar keine Wahl. Die Geschichte würde das wie von selbst so lenken. Vieleicht aber sei es auch von den USA so von langer Hand geplant worden, dafür spräche das was Trump jetzt macht. Dann wäre der Krieg zwischen Europa und Russland eine Intrige der USA, aber man müsse ihn halt trotzdem führen. Insbesondere Deutschland müsse als das Herz Europas, dessen wirtschaftliche und geistige Führungsnation auf jeden Fall vernichtet werden, koste es was es wolle.


Den Halbsatz: Koste es was es wolle brachte er sehr oft. Finster finster. Wenn auch nur eine Minderheit in Russland so denkt, und es sieht für mich so aus, dann werden diese völlig verblödeten Vollidioten uns zur höheren Wahrscheinlichkeit tatsächlich zeitnah angreifen.
Zitieren
Was mich an dieser Sache so irritiert, ist, dass manche Aspekte völlig ausgeblendet werden. Der Westen oder die Europäer sind irgendwie die Bösewichte, sie gefährden die russische Welt, so die Kernaussage. Aber Europa ist einfach "nur da", man kann sich anschließen oder eben auch nicht. Es steht jedem frei sich für oder gegen Europa zu entscheiden.

Von Angriffen auf Russland, wenn man mal historische Ereignisse außen vor lässt (etwa Napoleon oder Hitler), wird, so verstehe ich es, gar nicht mal gesprochen, sondern es ist in gewisser Weise die "Strahlkraft" des europäischen Geistes oder der Lebensphilosophie, die irgendwie und dubios eine Gefahr wäre, die den russischen Geist zersetzen oder gefährden könn(t)e. Das erinnert beinahe an Kennans Einschätzung der Sowjetführung aus den späten 1940er Jahren, wonach die russische Führung geradezu krampfhaft eine Furcht vor dem Fremden bzw. westlichen Gedanken hat, da diese eine Gefahr für ihren Machtapparat darstellen würden. Und ähnliches lese ich auch hier aus deiner Ausführung über die Aussagen dieses Offiziers heraus.

Was aber völlig außen vor gelassen wird, ist die asiatische Gefahr bzw. die Bedrohung, die Russland aus dem Osten droht. In gewisser Weise denke ich da an das Bonmot des Comte de Maistre (Grattez le Russe et vous trouverez le Tartare), wonach man den Russen an der Oberfläche nur ankratzen müsse, um dann darunter den Tartaren (besser: Mongolen) zu finden. Denn es waren nicht Europäer, die Russland jahrhundertelang besetzt hielten und die russische Kultur gefährdeten, sondern es waren die Mongolen ab dem 13. Jahrhundert. Aber irrsinniger- und unsinnigerweise paktieren die Russen heutzutage gerade mit diesen asiatischen Völkern gegen die westliche Welt, obgleich sie selbst es waren, die sich mal als - in gewisser Weise - westlich definierten, als sie von Moskau vom "Dritten Rom" sprachen und damit die Verbundenheit zum christlichen Abendland und zu den "weißen Völkern" klar umrissen.

Und ich vermute, dass es der unsägliche Geist des Sowjetbolschewismus und dessen propagandistische Verteufelung alles westlich-demokratischen und auch christlichen (man denke an die Verwüstung der Klöster in Sowjetrussland und den staatlich verordneten Atheismus) war und ist, und hier sind wir wieder bei Kennan, der hier noch nachwirkt und der alle westlichen, demokratischen und liberalen Ideen geradezu panisch beäugt wie der Hamster die Kobra.

Und diese Angst (die ja durchaus einen wahren Kern hat, denn demokratische Systeme wirkten vor den Leichenhaufen und dem Terror Stalins und somit der Herrschaft der Bolschewisten durchaus anziehend und diese waren somit eine reale Gefahr für die verklärte "Diktatur des Proletariats" und deren "Führer") wiederum färbt auch heute noch ab bzw. schlägt unbewusst durch und führt dazu, dass man - da man derzeit aufgrund einer ebenso unfähigen wie skrupellosen Führung im internationalen Vergleich auf allen Ebenen mehr und mehr ins Hintertreffen gerät - nach radikalen "Endlösungen" strebt und annimmt, man müsse das Gegenüber vernichten, um überhaupt irgendwie eine Chance zu haben.

Aber es geht nicht um das Haben einer Chance, es geht darum, dass finstere, uralte Reflexe aus Sowjetzeiten noch am Leben sind und krampfhaft um sich schlagen - und die deswegen sogar die alten Gegner aus Asien lieber heranziehen und bemühen als zuzugeben, dass auch die Russen zu den "weißen Völkern" zählen. Denn wenn sie dies tun würden, dann wäre dies zwar nicht das Ende der russischen Kultur (entgegen allen Behauptungen), wohl aber würden die noch zuckenden, dunklen Geister des Sowjetbolschewismus endgültig zu Grabe getragen werden. Und da dies die herrschende Kamarilla in Moskau, die mit dieser Schattenwelt noch engstens verwoben ist, keineswegs riskieren kann, es wäre faktisch ja auch ihr Ende, stilisiert sie den gegenwärtigen Kampf, der im Grunde nur alleine ihr Endkampf ist, zu einem Schicksalskampf des gesamten russischen Volkes hoch.

Es ist nur die Frage, ob die Russen dies erkennen oder nicht...

Schneemann
Zitieren
Naja aber welche tieferen Beweggründe auch immer dahinter stecken mögen, selbst ich als Laie und ich denke auch viele andere, erkennen doch die Grundangst dahinter. Ich verstehe bis heute nicht, inwieweit die europäischen Politiker, mit all ihren viel tieferen Einblicken in die Russen, im Angesicht dessen immer noch gerade von Friedenstruppen in der Ukraine sprechen können.
Zitieren
(Vor 7 Stunden)Schneemann schrieb: Was mich an dieser Sache so irritiert, ist, dass manche Aspekte völlig ausgeblendet werden. Der Westen oder die Europäer sind irgendwie die Bösewichte, sie gefährden die russische Welt, so die Kernaussage. Aber Europa ist einfach "nur da", man kann sich anschließen oder eben auch nicht. Es steht jedem frei sich für oder gegen Europa zu entscheiden.

Fakt ist zum Beispiel dass sich der Islamismus weltweit nur so stark ausbreiten konnte weil die politischen Entscheidungen des sogenannte Westens dies massiv begünstigt haben. Und am Ende wird er durch diese Kräfte auch untergehen. Nur die USA könnte sich noch abkoppeln wenn Trump bzw. seine Nachfolger lange genug an der Macht bleiben. Weder Rußland noch China werden den Westen angreifen, weil sie genau wissen dass sie dies gar nicht müssen. Es reicht schlicht zu warten.
Zitieren
@lime
Zitat:Fakt ist zum Beispiel dass sich der Islamismus weltweit nur so stark ausbreiten konnte weil die politischen Entscheidungen des sogenannte Westens dies massiv begünstigt haben. Und am Ende wird er durch diese Kräfte auch untergehen.
1.) Der Aufstieg des Islamismus bzw. des politisierten Islams oder das Revival eines Radikalislamismus lässt sich schon seit den späten 1970ern beobachten. Das war ein Prozess, der extrem wenig mit Entscheidungen in Europa oder im Westen generell zu tun hatte. Grob war das "Schicksalsjahr" wohl 1979, als einerseits Khomeini in Persien auftrat und den Schah stürzte und als andererseits die Sowjets in Afghanistan einfielen und dort eine Kausalkette anstießen, die uns heute noch nach vier Jahrzehnten zu schaffen macht.

2.) Irrigerweise hat gerade Russland den Aufstieg des radikalen Islam an seiner Südgrenze durch eine verblendete und falsche Politik, die eben auf den Westen zielte, mit massiv begünstigt. Diese Erosion des Einflusses Russlands auf den "grünen Unterleib" der ehem. Sowjetunion, dieser Totalausfall der alten Ordnungsmacht, hat in den letzten Jahren mehr Schaden für unsere Sicherheit angerichtet als alle kolportierten (und realen) Irrläufer einer "linken Einwanderungspolitik" in Europa.

Einfach gesagt: Dass sich der Islamismus im Sinne von ISIS und Co. in den letzten Jahren nach Westen ausbreiten konnte und Fanatiker z. B. Konzerthallen in Russland abfackeln können, hat nichts mit der Handraute von Fr. Merkel zu tun, sondern mit der kurzsichtigen und falsch ausgerichteten Politik von Hr. Putin - was aber von den Proponenten des starken Staates und den Gegnern der liberalen Demokratie gar nicht gerne gehört wird...

Schneemann
Zitieren
Die Russen habe genauso ein Islamismusproblem und eine noch schlechtere Demographie, wenn es so kommt gehen die mit uns gemeinsam unter.

----
Anlässlich der mittlerweile doch eher bescheidenen militärischen Lage im Kursker Frontbogen eine etwas spitze Frage - was war nun der tiefere Sinn der Aktion dort wenn die Ukrainer nicht verhandeln wollen?
Ist ja gut, dass man jetzt mit Trump einen Sündenbock hat, nachdem die aufgebotenen Verbände erschöpft und nicht mehr in der Lage sind den fortwährenden russischen/nordkoreanischen Angriffen standzuhalten. Aber was hat man bitteschön längerfristig erwartet?!
Die strategische Ausrichtung der Ukrainischen Führung macht gerade nicht allzu viel Sinn in meinen Augen.
Zitieren


Gehe zu: