Es wird noch mehr Tote geben, weil es bereits Tote gegeben hat.
#2
Zitat:Die Armee kann sich auflösen, wie die russische Armee 1917, oder an einer schweren Depression leiden, wie die US-Armee in Vietnam nach 1968, und die Hintermänner können Rechenschaft ablegen und zumindest lautstark die Beendigung des Krieges fordern. Man beachte, dass sich beide Gegner in derselben Situation starker innerer Anspannung befinden können, wie die Nationen des Ersten Weltkriegs, und dann geht es darum, an der Front wie im Hinterland "eine Viertelstunde länger" als der andere durchzuhalten.
In gewisser Weise zutreffend, aber in gewisser Weise auch wieder nicht. Man muss bedenken, dass der Krieg in der Ukraine gerade einmal fünf Wochen alt ist. Bis es zu den ersten gesellschaftlichen Erosionserscheinungen bei den in den Ersten Weltkrieg verwickelten Nationen kam, gingen zwei Jahre ins Land, obgleich die Verluste um ein Vielfaches höher waren. Ab 1916 erodierte die Moral bei Engländern (so arg, dass Lloyd George dem auf dem Kontinent stehenden General Haig keine Verstärkungen mehr senden wollte) und Deutschen (Ablösung Falkenhayns durch Hindenburg/Ludendorff), ab 1917 bei Franzosen (Ablösung Nivelles durch Pétain nach offenen Meutereien) und Italienern (Sturz es überaus arroganten und zugleich unfähigen Cadornas nach dem Caporetto-Desaster). Und in Russland rumorte es schon viel länger, die "Explosion" 1917 war nur das Finale...

Dabei muss man aber berücksichtigen, dass das Narrativ, dass wir heutzutage ja "kriegsentwöhnter" wären und damals das Führen eines Krieges gesellschaftlich "akzeptierter" gewesen wäre, nicht immer angewendet werden kann.

Die Sorgen vor einem Krieg, ja das Warnen vor den Folgen, war auch schon vor über 100 Jahren durchaus stark verbreitet. Und auch damals schon gab es heftige Flügelkämpfe zwischen Konservativen und Linken. Nur waren die Medien noch nicht so massiv ausgeprägt wie bei uns derzeit. Aber wenn man sich zeitgenössische Berichte etwas genauer anschaut, so wird ersichtlich, dass in den Gesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts die Sorgen vor einem Krieg immer groß waren. (Das einzige was viele nicht wussten - übrigens gilt das auch für die Militärs auf allen Seiten - bzw. abschätzen konnten, war die Wirkung der damals modernen Waffen [Maschinengewehre, Artillerie], gegen die man anfangs mit den Taktiken des frühen 19. Jahrhunderts zu bestehen versuchte, mit bekannten, verheerenden Folgen.)

Bspw. haben kürzlich in Berlin weit über 100.000 Menschen gegen den Ukraine-Krieg demonstriert, auch gegen die Nachrüstung mit Pershing II in den 1980ern gingen hunderttausende in Deutschland auf die Straßen. Aber wer weiß z. B., dass 1911, mitten in der Kaiserzeit und im Rahmen der sog. zweiten Marokko-Krise, im kaiserlichen Berlin geschätzt rund 200.000 Menschen gegen einen drohenden Krieg und die deutsche Kanonenbootpolitik ("Panthersprung nach Agadir") demonstriert haben? Das ist leider relativ unbekannt, obgleich Wilhelm II. nicht amüsiert gewesen sein soll...

Insofern: Die Sorgen vor einem Krieg waren in Gesellschaften damals wie heute sehr stark verbreitet, nur ist von "damals" weniger bekannt geblieben. Was allerdings der Fall sein dürfte, um wieder den Bogen zu obigem Satz zu schlagen, ist, dass Gesellschaften heutzutage bedingt durch die mediale Vernetzung schneller, sensibler und geschockter auf Todesopfer-Zahlen reagieren, auch wenn diese um ein Vielfaches niedriger liegen als noch bspw. im Ersten Weltkrieg. Aber das muss auch nicht schlecht sein...

Schneemann
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
RE: Es wird noch mehr Tote geben, weil es bereits Tote gegeben hat. - von Schneemann - 31.03.2022, 08:51

Gehe zu: