Nationbuilding und die Alternativen
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(12.09.2021, 12:14)lime schrieb: Man könnte auch mal darüber nachdenken ob es sinnvoll ist Fehler in der Vergangenheit mit Fehlern in der Gegenwart wieder gut machen zu wollen. Das würde vermutlich aber erst einmal voraussetzen dass die Selbstbeschuldigung in den westlichen Staaten aufhört.

Als Fehler der Kolonialzeit bewerte ich hier in erster Linie die Dekolonialisierung, bei der nicht nachhaltig funktionsfähige Staaten alleine gelassen wurden. Und das ist nicht das, was in Europa zur Selbstbeschuldigung führt. Hier kritisiert man die Kolonialisierung, ich kritisiere deren Ende.

Zum Neokolonialismus stellt sich wirklich die Frage, was man darunter versteht. Das im mittleren Osten betriebene Nation-/State Building kann genauso als solche bezeichnet werden, wie wirtschaftliche Unternehmungen, die Missstände vor Ort ausnutzen oder die diplomatische Beeinflussung der Regierungen von ehem. Kolonien.

Ich interpretiere Quintus jetzt mal so, dass es ihm darum geht, den Zustand der Kolonialzeit wieder herzustellen, indem westliche Institutionen mit Gewalt oder List die Herrschaft übernehmen und selbst ausüben, also sämtliche entscheidenden Positionen im Regierungs- und Verwaltungsapparat mit eigenen Leuten besetzen. Tatsächlich würde ich das auch als den erfolgversprechenderen Ansatz des State Building ansehen als das, was wir die letzten Jahrzehnte so gemacht haben. Und vermutlich wäre es sogar einfacher gewesen, z.B. in Afg eine funktionierende Militärregierung aufzubauen und zu unterhalten, als die ganze Ausbildungs- und Unterstützungsmission zu betreiben. Brenzlich wird es an dem Punkt, an dem man diese Fremdherrschaft aufgibt. Daher müssen mMn State Building und Demokratisierung nacheinander erfolgen. Erst wenn funktionierende, in sich gefestigte Strukturen bestehen, kann man über Demokratie und Selbstbestimmung nachdenken. So gesehen wäre Neo-Kolonialismus die bessere Lösung als Nation-Building, bzw. dessen erfolgversprechendste Variante.

An dieser Stelle möchte ich auch mal kurz ansprechen, dass ich kein Verständnis dafür habe, wenn frisch besiegte Staaten sofort wieder eigene Streitkräfte erhalten, die hinterher besser ausgebildet und -gerüstet sind als vorher. Ich denke die Zurückhaltung bei der Wiederbewaffnung Deutschlands nach dem Krieg wäre bei Gesellschaften mit voraufklärerischem Entwicklungsgrad mindestens erforderlich. Eigentlich dürften hier mMn einheimisch ausschließlich Polizeikräfte bestehen. Den Schutz nach außen muss die Besatzungsmacht übernehmen.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Unter den gegebenen Umständen würden wir ... ein weiteres 2015 eben nicht verhindern können

Off-Topic: Ich halte dieses "2015 verhindern", so wie es in der Debatte in Deutschland verwendet wird, für ein ganz bescheuertes populistisches Konzept. Der Begriff müsste eigentlich für die fluchtbedingte, unkontrollierte Massenzuwanderung in die EU mit all ihren Aspekten stehen, wird aber in der öffentlichen Diskussion immer populistisch darauf beschränkt, wie viele Flüchtlinge bei uns ankommen. Die Fehler von "2015" sind aber ganz anderer Natur und basieren auf der Polarisierung der Zuwanderungspolitik in Europa. Die Einen wollen Zuwanderung mit harter Ordnungs- und Sicherheitspolitik verhindern, die Anderen wollen sie maximalliberal-humanistisch ermöglichen. Der Fehler liegt aber genau in dieser Paarung der Ansätze. Zuwanderung lässt sich nicht vermeiden, sie nachhaltig ermöglichen kann man jedoch am besten durch eine sehr harte Ordnungspolitik. Aber in unserer Gesellschaft wollen die Verfechter des Einen das Andere nicht. Also gönnen wir uns mal wieder das schlechteste beider Seiten.
Ich will jetzt keine Flüchtlings- und Integrationsdebatte anfangen, aber mich triggert der Begriff "2015 verhindern" inzwischen einfach enorm. Womit ich explizit nicht dich meine, Quintus, sondern eher die politisch-mediale Kommunikation.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Über die Frage was praktisch real möglich ist brauchen wir nicht diskutieren, dass wäre eine äußerst kurze Debatte. Wir wären ja nicht mal in der Lage gegen drittklassige Zwergnationen in einem Krieg zu bestehen, wie sollten wir da in der Lage sein Nationbuilding zu betreiben, als die de facto anspruchsvollste politisch/militärische Kunst die man sich denken kann?!

Naja, wenn man "den Westen" als ganzes betrachtet und Afg als Beispiel nimmt, dann hätte man dort durchaus durch eine andere Weichenstellung ein anderes Ergebnis mit ähnlich großem Mitteleinsatz erlangen können. Ein Verzicht auf die demokratische Perspektive zugunsten einer auf Dauer angelegten direkten Militärverwaltung in den ISAF-Zonen wäre durchaus auch real möglich gewesen. Damit sich das für die Besatzer auch lohnt und perspektivisch funktionieren kann, hätte z.B. Bagram dann sowas wie ein zweites Rammstein werden müssen als zentralasiatische strategische Basis mit Blick auf China und den Iran.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Da meiner Einschätzung nach die vor Ort vorhandenen Machtgruppen im größten Teil der Welt grundsätzlich gegen jede solche Struktur sein werden, und sie aktiv bekämpfen würden, kann sie meiner Meinung nach nicht installiert werden, es sei denn durch einen Gros der von mir unter meinen 10 Punkten beschriebenen Voraussetzungen, beispielsweise indem wir dort die tatsächliche Macht vorübergehend selbst ausüben.

Existierende Macht ist das zentrale Problem, das stimmt. Allerdings werden seit jeher lokale Machtgruppen von außen beeinflusst und im Extremfall dann auch tlw. ausgeschaltet.
Mir geht es ja auch nicht um die konkrete Lösung des individuellen Problems einer Region, sondern um einen Rahmen, der die Lösung dieser Einzelprobleme besser ermöglicht, als dies die Nationalstaaten leisten können. Eine große Föderation hat z.B. einfach mehr Mittel zur Verfügung und gleichzeitig weniger Eigeninteresse über die innere Stabilität hinaus.
Theoretisch könnte so eine Föderation innerhalb einiger ihrer Teile gerade eben fremdverwaltend agieren, wie du es als Lösung beschreibst.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Zum einen sind es Welten zwischen Ex-Jugoslawien und den Zuständen in Afrika oder Zentralasien. Zum anderen setzt deine Theorie das Vorhandensein einer übergeordneten Institution voraus die nicht vollständig von Korruption, Nepotismus, Kleptokratie und Unrechtsherrschaft dominiert wird. Es gibt weder in Afrika noch in Zentralasien ansatzweise eine Übergeordnete Ebene wie die EU

Jeden Vergleich in so einer Diskussion kann man immer aushebeln. Es gibt immer Aspekte, warum etwas in dem einen Fall so funktioniert und in dem anderen eben nicht.
Die AU hat bei weitem nicht die Dimension der EU, natürlich nicht. Und auf Afrika übertragen wäre auch eher eine Mischung aus EU und UdSSR anzudenken. Denn das kann natürlich nicht funktionieren, wenn jeder Warlord die Möglichkeit hat, einfach auszuscheiden, sondern nur dadurch, dass die gemeinsame Macht aller Beteiligten einzelne daran hindert, gegen das Wohl aller zu handeln. Daher muss hier zuerst ein Zwang ausgeübt werden, sich diesem System anzuschließen. Die Frage wäre jetzt, wie man es durch äußeren Druck schafft, dass sich möglichst viele lokale Kräfte einer größeren Gemeinschaft anschließen, so dass diese stark genug wird, um die verbleibenden Einzelkräfte in die Gemeinschaft zwingen zu können.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Die einzige Möglichkeit wäre ein echter Neo-Kolonialismus in welchem sich diese kleineren homogeneren Gebiete de facto unter unsere Herrschaft stellen... Der größere heterogene Rahmen funktioniert dort nicht mit Einheimischen, er müsste also durch uns zur Verfügung gestellt werden. Das läuft im Prinzip auf astreinen Neokolonialismus hinaus.

Und da wäre dann der Ansatzpunkt, in dem man diese Konzepte mMn kombinieren müsste, dadurch dass man die übergeordnete Struktur beeinflusst, unterstützt und nutzt, um diese neokolonialistische Besatzung durchzuführen. Der Neokolonialismus wäre dann in diesem Konstrukt ein erforderlicher Zwischenzustand, der im Prinzip die Fehler der verfrühten Demokratisierung im Rahmen der falsch betriebenen Dekolonialisierung revidiert. Der entscheidende Unterschied gegenüber dem gescheiterten ersten Versuch wäre dann, dass die Bevölkerung die Chance bekommen würde, selbst Nationen oder etwas ähnliches zu entwickeln, anstelle dass ihnen diese zwangsweise vorgegeben werden.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Bewusst habe ich jetzt geschrieben, dass wir vor allem damit ein Problem hätten, die Völker dort hätten das so gar nicht. Tatsächlich lehnen primär die korrupten kleptokratischen Eliten in diesen Ländern einen Kolonialismus ab. Die einfache Bevölkerung würde einer europäischen Herrschaft in weiten Teilen sogar positiv gegenüber stehen, dass habe ich immer wieder in direkten Gesprächen ausmachen können.

Das sehe ich nicht anders, weswegen ich ja auch explizit ein Verfechter europäischer Hinterhofpolitik bin und auch Neo-Kolonialismus nicht grundsätzlich negativ beurteile. Wichtig ist für mich nur, dass solch eine Politik nachhaltig betrieben wird und nicht rein einseitige Ziele verfolgt.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Und das führt zu einer interessanten Fragestellung in Bezug auf das Nationbuilding: der Brain-Drain (wie es so schön Neu-Deutsch heißt) aus Dritte Welt Ländern in Richtung Europa stellt ein Problem für das Nation Building dar. Die Leute welche tatsächlich ihre Länder voran bringen wollen würden, welche tatsächlich die Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Nation Building wären, genau diejenigen welche man vor Ort für das Nation Building bräuchte fliehen in viel zu großer Zahl hierher nach Europa um hier zu leben. Das ist ein Problem aber auch eine Chance. Wir könnten sie hierzulande ausbilden, qualifizieren und ihnen Hilfen in die Heimat mitgeben - unter der Voraussetzung dass sie dann auch dorthin zurück kehren um dort ihre Heimat in die richtige Richtung weiter zu entwicklen.

Auch wenn ich dort überall von State und nicht von Nation Building sprechen würde, ja: Das ist eine Form von nachhaltigem State Building, das sich besonders gut im Rahmen eines kolonialistischen Systems umsetzen lässt. Einheimische, die aufgrund ihrer Überzeugung in die EU gehen, dort ausgebildet werden und dann in ihrer Heimat die Gesellschaft aufbauen, sind um ein vielfaches nachhaltiger als gekaufte lokale Eliten.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Der Grund warum Afghanistan gescheitert ist, ist vor allem auch in diesem einen Satz zu suchen. Warum hätte irgendein Afghanen für diesen Drecksversagerstaat kämpfen sollen? Für diese Diebe, Betrüger, Lügner, und korrupten Schwerkriminellen welche man den Afghanen wie zum Hohn vom Westen noch mit der Behauptung aufs Auge gedrückt hat, dass wäre Demokratie und Freiheit.

Es kann aber vor Ort keine anständige Regierung geben, wenn wir diese nicht tatsächlich selbst uneingeschränkt aufbauen. Um das überhaupt tun zu können dürfen die bisherigen Machteliten dieser Länder an diesem Aufbauprozess nicht beteiligt sein und schon fängt der Widerstand gegen uns dort an. Der aber überwindbar ist. Nicht nur theoretisch, auch praktisch wäre das möglich. Es handelt sich hier um den einzigen gangbaren Weg, völlig gleich wohin, auch wenn man deine Föderation homogenerer Gebiete anstrebt, die Grundvoraussetzung ist vor allem anderen, dass wir selbst zunächst mal die Herrschaft dort ausüben. Nur so kann man selbst ausreichend Macht ausüben um das zu tun was notwendig ist.

Ich gebe dir Recht, wobei ich in diesem Zusammenhang "Machteliten" nicht gleichgesetzt betrachten möchte mit vorhandenen Strukturen. Diese können durchaus eine wichtige Funktion behalten. Ein Dorf- oder Stammesverbund ist nicht gleichbedeutend mit dem Warlord, der diesen beherrscht.

(12.09.2021, 21:27)Quintus Fabius schrieb: Daher muss man immer davon ausgehen, dass Anrainer Staaten ganz grundsätzlich absolut jeden Versuch von uns Nation-Building zu betreiben aktiv sabotieren werden, wie dies auch schon geschehen ist und auch in Zukunft weiter geschehen wird. Diese Dialektik haben viele die Nation Building betreiben wollen auch nicht auf dem Schirm: das Dritte sich durch erfolgreiches Nation Building zwingend in ihren eigenen Interessen bedroht fühlen und daher uns immer aktiv sabotieren werden.

Für mich ist dann die Konsequenz, dass man diese Nachbarn entweder einbeziehen, oder sogar einfach strategisch "überplanen" muss, so wie z.B. den Iran und Pakistan in der Afghanistan-Thematik.

Hierzu nochmal ein Gedanken-Spiel:
Es gab während der Besatzungszeit in Afghanistan eigentlich ständig ein gewisses Risiko, dass es zum Krieg der USA mit dem Iran kommen könnte. Wäre dies eingetreten, hätte man eventuell eine Situation gehabt, in der Irak, Iran und Afghanistan alle unter einer US-/NATO-Herrschaft gestanden hätten. (Den Iran hätten die USA vermutlich alleine mit arabischen Verbündeten bekämpft, so dass die anderen NATO-Mitglieder dann gezwungen gewesen wären, Afghanistan und den Irak zu sichern) Aus einer solchen Lage heraus, wäre eine Auflösung des Irans und die Bildung einer gemeinsamen Föderation einiger Teile mit einem ebenfalls geteilten Afghanistan eine real mögliche Option gewesen. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass man bereit gewesen wäre, in dieser Föderation weiterhin als Besatzungsmacht zu fungieren. Wenn eine solche Föderation dann tatsächlich nachhaltig funktionieren sollte, käme ihr eine entscheidende Rolle zu, für den dann wahrscheinlichen Fall von erfolgreichen Unabhängigkeitsbewegungen in Teilen Pakistans, insbesondere Belutschistans und den paschtunischen Stammesgebieten.

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Es gibt natürlich nie eine Universallösung und höchstwahrscheinlich werden wir gesellschaftlich-politisch nicht bereit sein, auch nur annähernd das zu tun, was im Interesse aller zu tun wäre. Aber ich halte es trotzdem für ein Problem, dass wir keine nachhaltige Strategie haben, wie eine funktionierende Welt aussehen könnte. Wir behalten gescheiterte Systeme, die von Anfang an keine Chance hatten, konsequent bei, anstatt mal zu überlegen, wie man es denn hätte von vornherein besser machen können, um daraus zu lernen.

Insofern gebe ich dir, Quintus, Recht, dass in vielen Bereichen eine unmittelbare Machtausübung von außen der einzige Weg sein dürfte. Nur sehe ich das halt nicht zwingend im Rahmen aktueller Nationalstaatsgebilde mit dem Ziel, diese zu festigen, sondern halte es im Sinne der Nachhaltigkeit für notwendig, diese zu überdenken und erforderlichenfalls auch zu revidieren.
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RE: Nationbuilding und die Alternativen - von Broensen - 13.09.2021, 15:16

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