Nationbuilding und die Alternativen
#11
lime:

Wollte im Prinzip das gleiche schreiben, aber ich kriege das nie so prägnant und kurz hin wie du. Man könnte es meiner Meinung nach nicht besser ausdrücken. Würdest du tatsächlichen Neo-Kolonialismus, also die Übernahme der direkten Herrschaft über bestimmte Gebiete durch die EU bzw. Europäische Staaten auch als Fehler betrachten, und wenn ja, warum?

Broensen:

Zitat:Zumindest sind wir uns einig, dass es unter den gegebenen Umständen nicht passieren kann.

Unter den gegebenen Umständen würden wir jeden Konflikt mit Russland verlieren, würden wir ein weiteres 2015 eben nicht verhindern können, werden wir in Mali scheitern, sind wir nicht einmal in der Lage die Innere Sicherheit in dieser Bundesrepublik weiter zu gewährleisten wenn der soziale Friede den man zur Zeit noch Krediten erkauft nicht mehr bezahlt werden kann usw usf. Über die Frage was praktisch real möglich ist brauchen wir nicht diskutieren, dass wäre eine äußerst kurze Debatte. Wir wären ja nicht mal in der Lage gegen drittklassige Zwergnationen in einem Krieg zu bestehen, wie sollten wir da in der Lage sein Nationbuilding zu betreiben, als die de facto anspruchsvollste politisch/militärische Kunst die man sich denken kann?!

Zitat:Es geht nicht um kleinere Nationalstaaten, sondern um größere Föderationen kleinerer Autonomien. Ich bin dafür, in den Teilen der Welt, in denen es keine funktionierenden Nationalstaaten gibt, das Prinzip des Nationalstaates vollständig aufzugeben und durch ein anderes, stark föderales System zu ersetzen. Hierzu bilden die ethnolinguistischen Gruppen Autonomiegebiete, während oberhalb dieser Ebene dann kein Nationalstaat sondern eine deutlich größere Union autonomer Gebilde steht.

Da meiner Einschätzung nach die vor Ort vorhandenen Machtgruppen im größten Teil der Welt grundsätzlich gegen jede solche Struktur sein werden, und sie aktiv bekämpfen würden, kann sie meiner Meinung nach nicht installiert werden, es sei denn durch einen Gros der von mir unter meinen 10 Punkten beschriebenen Voraussetzungen, beispielsweise indem wir dort die tatsächliche Macht vorübergehend selbst ausüben. Dein Plan setzt meiner Meinung nach genau solche Maßnahmen voraus, welche du unter meinen 10 Punkten als unrealistisch und praktisch nicht umsetzbar gewertet hast.

Zitat:Als positiv-Beispiel nehm' ich dann jetzt mal Jugoslawien. Das hat als Vielvölker-Staat nicht mehr funktioniert. Nach dem großen Knall haben sich hier jetzt mehrere unabhängige Staaten gebildet, die in sich funktionieren, aber eine gemeinsame Mitgliedschaft in der EU anstreben. Hier hat der Nationalstaat nicht funktioniert, obwohl die historischen wie auch ethnolinguistischen Gemeinsamkeiten vergleichsweise groß waren. An seine Stelle treten nun kleinere homogenere Einheiten, die sich in einem noch größeren, heterogeneren Rahmen zusammenschließen. Und darum geht es in meiner Theorie.

Zum einen sind es Welten zwischen Ex-Jugoslawien und den Zuständen in Afrika oder Zentralasien. Zum anderen setzt deine Theorie das Vorhandensein einer übergeordneten Institution voraus die nicht vollständig von Korruption, Nepotismus, Kleptokratie und Unrechtsherrschaft dominiert wird. Es gibt weder in Afrika noch in Zentralasien ansatzweise eine Übergeordnete Ebene wie die EU deren immenser von Deutschland finanzierter Wohlstand und deren vergleichsweise positives Wesen ein immens hoher Anreiz sind sich diesem Staatenbund anzuschließen.

Kleine homogenere Einheiten in Afrika in einer Föderation führen nur dazu, dass diese Föderation funktionsunfähig wird (schon die EU hat damit ihre Probleme), und dass die ganzen kleineren homogenen Einheiten noch mehr in Konflikte und Kriege untereinander geraten. Die einzige Möglichkeit wäre ein echter Neo-Kolonialismus in welchem sich diese kleineren homogeneren Gebiete de facto unter unsere Herrschaft stellen, aber auch das wird nicht gehen, vor allem weil es von uns nicht gewollt werden würde. Noch darüber hinaus würde die Bürde welche wir hier zu tragen hätten immense Kosten verursachen ohne uns etwas einzubringen.

Der größere heterogene Rahmen funktioniert dort nicht mit Einheimischen, er müsste also durch uns zur Verfügung gestellt werden. Das läuft im Prinzip auf astreinen Neokolonialismus hinaus. Bewusst habe ich jetzt geschrieben, dass wir vor allem damit ein Problem hätten, die Völker dort hätten das so gar nicht. Tatsächlich lehnen primär die korrupten kleptokratischen Eliten in diesen Ländern einen Kolonialismus ab. Die einfache Bevölkerung würde einer europäischen Herrschaft in weiten Teilen sogar positiv gegenüber stehen, dass habe ich immer wieder in direkten Gesprächen ausmachen können. Deshalb gibt es auch in Wahrheit so viele Flüchtlinge in Richtung EU, das Hauptmotiv ist dabei oft gar nicht das Geld, sondern dass man davon ausgeht, dass die eigenen Länder Shithole Countries sind und man die Korruption und Kleptokratie darin leid ist und man in einem geordneten Rechtsstaat leben will in dem die Missstände der Heimat so nicht sind. Man will die Sicherheit, die Ordnung, die Menschenrechte, man bewundert Europa und will hier leben weil man davon ausgeht, dass Europa das am höchsten entwickelte Gebiet der Erde, und das es das beste ist was die Menschheit hervor gebracht hat. Man will sich und seine Familie regelrecht hierher retten um Teil von UNS zu werden, wird dann aber abgestoßen, ausgestoßen, im Ankerzentrum interniert und vernachlässigt. Ein völliger Irrsinn wenn man überlegt was eigentlich mal die Hauptidee der meisten illegalen Einwanderer war, warum sie also überhaupt hierher gekommen sind.

Und das führt zu einer interessanten Fragestellung in Bezug auf das Nationbuilding: der Brain-Drain (wie es so schön Neu-Deutsch heißt) aus Dritte Welt Ländern in Richtung Europa stellt ein Problem für das Nation Building dar. Die Leute welche tatsächlich ihre Länder voran bringen wollen würden, welche tatsächlich die Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Nation Building wären, genau diejenigen welche man vor Ort für das Nation Building bräuchte fliehen in viel zu großer Zahl hierher nach Europa um hier zu leben. Das ist ein Problem aber auch eine Chance. Wir könnten sie hierzulande ausbilden, qualifizieren und ihnen Hilfen in die Heimat mitgeben - unter der Voraussetzung dass sie dann auch dorthin zurück kehren um dort ihre Heimat in die richtige Richtung weiter zu entwicklen.

Diese Idee habe ich schon oft Flüchtlingen vorgetragen, und die Antwort war immer: alles schön und gut, wir wären sofort dabei und würden heimkehren, wenn daheim irgendeine auch nur halbwegs anständige Regierung wäre. So aber wäre es ja sinnlos. Die Frage in Bezug auf erfolgreiches Nation-Building ist also vor allem anderen:

Wie kann man vor Ort eine halbwegs anständige Regierung aufbauen?

Der Grund warum Afghanistan gescheitert ist, ist vor allem auch in diesem einen Satz zu suchen. Warum hätte irgendein Afghanen für diesen Drecksversagerstaat kämpfen sollen? Für diese Diebe, Betrüger, Lügner, und korrupten Schwerkriminellen welche man den Afghanen wie zum Hohn vom Westen noch mit der Behauptung aufs Auge gedrückt hat, dass wäre Demokratie und Freiheit.

Es kann aber vor Ort keine anständige Regierung geben, wenn wir diese nicht tatsächlich selbst uneingeschränkt aufbauen. Um das überhaupt tun zu können dürfen die bisherigen Machteliten dieser Länder an diesem Aufbauprozess nicht beteiligt sein und schon fängt der Widerstand gegen uns dort an. Der aber überwindbar ist. Nicht nur theoretisch, auch praktisch wäre das möglich. Es handelt sich hier um den einzigen gangbaren Weg, völlig gleich wohin, auch wenn man deine Föderation homogenerer Gebiete anstrebt, die Grundvoraussetzung ist vor allem anderen, dass wir selbst zunächst mal die Herrschaft dort ausüben. Nur so kann man selbst ausreichend Macht ausüben um das zu tun was notwendig ist.

Verbleibt die Frage was all diese Mühe uns dann überhaupt bringen soll. Eine Kosten-Nutzen Rechnung wird hier selbst mittelfristig immer negativ aussehen. Man muss daher solche Anstrengungen auf wenige ausgewählte und ganz bestimmte Gebiete beschränken. Wenn man damit dort einmal erfolgreich ist, würde dieses erfolgreiche Beispiel aber dann Schule machen und die Bereitschaft sich vorübergehend unserer Herrschaft zu beugen erheblich erhöhen. Entsprechend massiv wäre der Widerstand der bisherigen Eliten anderer Länder welche sich dann alle zusammen tun würden um genau dies zu verhindern.

Daher muss man immer davon ausgehen, dass Anrainer Staaten ganz grundsätzlich absolut jeden Versuch von uns Nation-Building zu betreiben aktiv sabotieren werden, wie dies auch schon geschehen ist und auch in Zukunft weiter geschehen wird. Diese Dialektik haben viele die Nation Building betreiben wollen auch nicht auf dem Schirm: das Dritte sich durch erfolgreiches Nation Building zwingend in ihren eigenen Interessen bedroht fühlen und daher uns immer aktiv sabotieren werden.
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RE: Nationbuilding und die Alternativen - von Quintus Fabius - 12.09.2021, 21:27

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