Nationbuilding und die Alternativen
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(12.09.2021, 09:14)Quintus Fabius schrieb: Ich hoffe aber belegt zu haben, dass Nation Building auch innerhalb deiner verengten Definition durchaus praktisch real machbar wäre, wenn man nur die dafür notwendigen Handlungen durchführen könnte.

praktisch real machbar, wenn man nur könnte. Zumindest sind wir uns einig, dass es unter den gegebenen Umständen nicht passieren kann.

(12.09.2021, 09:14)Quintus Fabius schrieb: Eine Nation in deinem Sinne und innerhalb deiner Definition kann nur über längere Zeiträume aus so einem Gebilde heraus organisch wachsen. Deswegen fängt man ja auch zunehmend an zwischen Nation Buildung und State Building zu unterscheiden und sieht letztgenanntes als Vorbedingung für erstgenanntes.

Genau darauf will ich hinaus, ja. Wobei ich Nation Building auch nach erfolgreichem State Building nicht als von außen umsetzbar ansehe. Es kann allerdings die Nationsfindung von innen heraus stark begünstigen, so wie das aber auch eine brutale Fremdherrschaft könnte. So oder so kann der bisherige westliche Ansatz nicht funktionieren.

(12.09.2021, 09:14)Quintus Fabius schrieb: Dessen ungeachtet: in sehr vielen Ländern der Welt gibt es keine Nation im Sinne deiner Definition. Die Nation ist dort die eigene Bevölkerungsgruppe, die anderen Bevölkerungsgruppen in dem Staat gehören nicht dazu. Das hattest du ja selbst schon angerissen. Wenn ich mich recht entsinne ist deine Schlußfolgerung daraus, entsprechend mehr Staaten entlang der Bevölkerungsgruppen zu schaffen und damit die "kolonialen" Grenzen aufzuheben.
In Wahrheit aber wäre das eine Katastrophe: sehr viele der dann neu entstandenen Nationen wären nicht ansatzweise überlebensfähig. Es würden sofort unzählige Kriege zwischen diesen neuen Nationen ausbrechen, es käme zu mehr Völkermord und mehr ethnischen Säuberungen und alles würde sich destabilisieren. Zudem haben viele Nationen gar kein Interesse daran dass andere Ethnien zu eigenen Staaten kommen, ganz im Gegenteil werden die alles dafür tun dass dies nicht geschieht.

Nicht ganz. Es geht nicht um kleinere Nationalstaaten, sondern um größere Föderationen kleinerer Autonomien. Ich bin dafür, in den Teilen der Welt, in denen es keine funktionierenden Nationalstaaten gibt, das Prinzip des Nationalstaates vollständig aufzugeben und durch ein anderes, stark föderales System zu ersetzen. Hierzu bilden die ethnolinguistischen Gruppen Autonomiegebiete, während oberhalb dieser Ebene dann kein Nationalstaat sondern eine deutlich größere Union autonomer Gebilde steht. Dabei können diese Autonomien auch teilweise nicht klar definierte Grenzen untereinander haben und es kann auch Autonomien geben, die ethnolinguistisch explizit gemischt sind, dort wo das funktioniert oder sich schlicht nicht vermeiden lässt, wie z.B. in Großstädten. Demokratie bestünde in diesem Gebilde nur sehr indirekt dadurch, dass die Herrscher der Autonomien untereinander die Regierung der Union ausmachen. Wie diese Autonomien sich intern organisieren, bleibt ihnen selbst überlassen, wobei die Union eine Kontrollfunktion hat, die aber insbesondere Konflikte zwischen den Autonomien unterbinden und den Schutz der verbleibenden Minderheiten sicherstellen muss.
Natürlich führt das nicht automatisch zu Frieden, die Konflikte würden bleiben. Aber es hätte mMn bessere Chancen, diese zu begrenzen, weil es die Probleme willkürlicher Grenzziehungen und der sich daraus ergebenden zusätzlichen Machtebene aus dem Spiel nimmt. Auf bspw. Afrika bezogen hieße es ja (extrem vereinfacht dargestellt), dass man die vielen regionalen defacto-Herrschaften legitimiert und direkt der AU unterstellt, der dann wiederum die Mittel der bisherigen Nationalstaaten zur Verfügung stehen, um die Sicherheit dieser Autonomien voreinander und vor äußeren Bedrohungen zu gewährleisten.

Als positiv-Beispiel nehm' ich dann jetzt mal Jugoslawien. Das hat als Vielvölker-Staat nicht mehr funktioniert. Nach dem großen Knall haben sich hier jetzt mehrere unabhängige Staaten gebildet, die in sich funktionieren, aber eine gemeinsame Mitgliedschaft in der EU anstreben. Hier hat der Nationalstaat nicht funktioniert, obwohl die historischen wie auch ethnolinguistischen Gemeinsamkeiten vergleichsweise groß waren. An seine Stelle treten nun kleinere homogenere Einheiten, die sich in einem noch größeren, heterogeneren Rahmen zusammenschließen. Und darum geht es in meiner Theorie.

(12.09.2021, 09:14)Quintus Fabius schrieb: Nehmen wir einmal Nord-Mali als Beispiel: dort wollen die Tuareg und einige andere Gruppen einen Staat Azawad und rein ethnisch, kulturell, auch von der Geographie und Geschichte her ist Mali ein Konstrukt in dem zwei Landesteile zu einem Staat zusammen geflanscht wurden, die absolut nicht zueinander passen. Dessen ungeachtet will niemand dort einen Tuareg-Staat von den Anrainern und würde dieser extrem destabilisierend auf die Sicherheitslage in allen Nachbarländern wirken. Weshalb man einen Tuaregstaat dort mit allen Mitteln verhindern will und verhindern wird. Oder nimm die Kurden und ihr Bestreben nach einem eigenen Staat und wie dies sofort weitere Mächte aufruft das zu verhindern.

Ein "Touareg-Staat" wäre auch nicht Teil meines Ansatzes.
Der gesamte Streifen des südlichen Sahara-Randes bis nach Ostafrika stellt natürlich eine besondere Herausforderung dar, dadurch dass hier nicht nur der Übergang zwischen semitischen und schwarzafrikanischen Ethnien, sondern zudem noch der von islamischen zu anderen Religionen zu berücksichtigen sind. In meiner zuvor beschriebenen Theorie müsste hier ein Grenzziehung zwischen dem schwarzafrikanischen Süden und dem arabisch-berberischen Norden stattfinden, in dem die Bevölkerung der Sahara idealerweise Teil einer nordafrikanischen Union wäre. Da die Berberstämme sich geografisch in vielen Gegenden nicht von den arabischen Gebieten abgrenzen lassen, müssen diese zwangsläufig in einer Gemeinschaft leben. Gegenüber Schwarzafrika scheint eine Abgrenzung da realistischer, so schwierig sie in der Realität auch sein mag. Die Problematik der islamistischen Radikalisierung kann man eh nicht durch Grenzziehung lösen. Allerdings wird diese auch ja häufig gerade dadurch vorangetrieben, dass einzelne Bevölkerungsgruppen innerhalb eines künstlichen Staatsgebildes keine ausreichende Autonomie besitzen.

(12.09.2021, 09:14)Quintus Fabius schrieb: Du überschätzt meiner Einschätzung nach einerseits die Möglichkeiten des Westens hier drastisch und unterschätzt noch extremer die Fernwirkungen einer solchen Neuziehung von Grenzen. Das erzeugt nicht mehr Frieden, sondern mehr Krieg. ... Ganz allgemein gibt es für viele Weltgegenden überhaupt gar keine Lösung. Die Menschen dort sind dazu verdammt noch für lange Zeit in permanenter Instabilität und Gewalt vor sich hin zu vegetieren ohne dass sich die Situation vor Ort überhaupt irgendwie verbessern lässt. In vielen Fällen wird man einfach nur zusehen können wie sie sich alle gegenseitig immer weiter umbringen. Es ist aber auch gar nicht unsere Verantwortung und es ist eben diese sich auf die ganze Welt erstreckende aktuelle deutsche Hybris welche ich so entschieden ablehne. Der Größenwahn der Gutmenschen in dieser Bundesrepublik kennt aktuell keine Grenzen mehr, die Selbstüberschätzung in Bezug auf diese Problemstellung ist unfassbar. Die realen Möglichkeiten in diesem Bereich sind aber in sehr vielen Fällen wesentlich geringer als es die naiven Narren hierzulande glauben.

Der Westen hat ein eigenes Interesse an einer möglichst stabilen Weltordnung und durchaus eine kolonialzeitlich bedingte Verantwortung, denn schließlich gibt es kaum eine Grenze in den instabilen Regionen der Welt, die nicht in irgendeiner Form auf kolonialzeitliche Entwicklungen zurückgeht.
Und er hat viele Möglichkeiten zur Einflussnahme, nicht nur aber auch militärisch. Natürlich kann er nicht mehr wie in Kolonialzeiten einfach der Welt ihr System vorgeben. Und er kann auch nicht die Konflikte anderer Völker untereinander lösen. Aber er könnte sich zumindest mal eine nachhaltig tragfähige Strategie geben, welche Systeme und Lösungen er im eigenen Interesse unterstützt. Diese Strategie ist mit dem Ende des Kalten Krieges verloren gegangen.
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RE: Nationbuilding und die Alternativen - von Broensen - 12.09.2021, 11:45

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