Nationbuilding und die Alternativen
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(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Wir müssten vielleicht erstmal über den Begriff an sich sprechen und was dieser bedeuten soll. In vielen Gesellschaften weltweit haben wir vormoderne Systeme welche ohnehin keinen Nationalgedanken an sich haben. Es gibt dort gar keine Nation und kann diese auch gar nicht geben weil die Menschen dort gar nicht die Idee der Nation an sich sozialkulturell aufnehmen können.

Was verstehst du also unter Nation Building? Die Errichtung eines Nationalstaates nach europäischem Vorbild? Eine funktionierende Gesellschaft (gleich wie diese dann aufgebaut ist)? Eine Entwicklung von Gesellschaften in unsere Richtung, also in Richtung unserer Sozialkultur? Frieden und Stabilität unabhängig von allen bisher gennannten Möglichkeiten?

Es ist natürlich etwas schwierig, einen solchen Begriff ganz genau aus zu definieren, wenn man das Konzept an sich für nicht durchführbar hält.
Ich persönlich benutze den Begriff "Nationbuilding" für den vor allem seitens westlicher Regierungen und Organisationen durchgeführten Versuch, einen Nationalstaat nach westlichem Vorbild innerhalb vorhandener Landesgrenzen außerhalb des europäisch-westlich geprägten Kulturraumes im Zusammenhang mit militärischer Präsenz durchzusetzen. Welche konkreten Eigenschaften (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Säkularität etc.) in welchem Ausmaß diese zu schaffende Nation und das sie bildende Gesellschafts- und Politiksystem dann perspektivisch haben soll, kann dabei natürlich stark variieren.
Im Prinzip ist es ein Sammelbegriff für alle Bemühungen, die auf dieses Ziel eines solchen Nationalstaates hinwirken, der mMn allerdings eine unerreichbare Utopie darstellt.

Davon zu unterscheiden sind andere außen- und sicherheitspolitische Maßnahmen, die mit diplomatischen, humanitären und militärischen Mitteln ein Sicherheitsinteresse durchsetzen, das sich neben der eigenen westlichen Interessen auch auf die persönliche Sicherheit und Freiheit der Menschen in der betroffenen Region beziehen kann, jedoch eben nicht den beschriebenen Nationalstaat zum Ziel haben.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Das kann ich rein persönlich durchaus so teilen, setzt aber voraus, dass man das sich daraus zwingend ergebende Blutvergießen hinnimmt und sich gegen die Folgen des daraus entstehenden allgemeinen Massenmordens einfach gleichgültig abschottet. Was beides möglich ist. Das führt zudem in vielen vormodernen Gesellschaften zum Ende von Staaten an sich und zu bloßen geographischen Gebieten ohne jede staatliche Struktur. In einer globalisierten Welt ist das für uns von Nachteil wenn wir nicht in der Lage sind uns die Folgen dieser Strukturlosigkeit mit Gewalt vom Leibe zu halten. Wozu wir in unserer aktuellen Verfasstheit wohl nicht in der Lage sind.

Für das Beispiel Afghanistan laufen deine Ausführungen bzgl. des strategischen Luftkriegs ja genau darauf hinaus.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Deshalb betone ich ja hin und wieder beispielsweise, dass wir trotz meiner grundsätzlich eher zu Isolationismus neigenden Grundhaltung Nordafrika unter Kontrolle kriegen müssen, insbesondere die Sahel-Zone.

Da sind wir einer Meinung. "Hinterhof-Politik" ist etwas, dass die Europäer infolge der Dekolonialisierung und dem Verlauf des Ost-West-Konflikts sträflich vernachlässigt haben.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Meiner Einschätzung nach ist das eben unmöglich, weil die Beteiligten vor Ort kein solches Föderales Gebilde wollen, und zwar ausdrücklich nicht. Das ihr Wunsch nach einem eigenen Imperium real nicht funktionieren kann spielt dafür keine Rolle. Ein solcher "Rat" kann daher nicht etabliert werden, mit keinem Mittel der Welt, da alle die daran teilnehmen müssten völlig konträr zu dieser Idee stehen und etwas völlig anderes wollen.

Dafür setzt setzt du voraus, dass die, zugestanden: durchaus existierenden, Tendenzen zur Maximierung des eigenen Machtbereichs immer das ausschlaggebende Handlungsmotiv darstellen. Wenn das so ist, dann hast du recht. In meiner Theorie gilt es daher, dafür zu sorgen, dass andere Motive und Notwendigkeiten diesen Expansionsdrang in Grenzen halten. Wenn, nur als kleines Beispiel, ein Regime aufgrund von effektiv geschlossenen Grenzen keinerlei Chancen auf Kraftstoffimporte hat, außer von einem bestimmten Nachbar-Regime, dann dürfte es ihm schwer fallen, dieses aus reinem Expansionsdrang zu bekämpfen. Also werden sich die Nachbarn im eigenen Interesse irgendwie arrangieren müssen. Das werden sie aber nicht tun, wenn ihnen alternativ internationale Handelswege offen stehen.
Und es ist ja durchaus so, dass sich die unterschiedlichen Regime des arabisch-iranischen Raumes zusammensetzen und das teilweise auch in Form von offiziellen Institutionen. Der Ansatzpunkt für meine Überlegung ist es nun, dass man internationale Beziehungen der einzelnen Regime unterbindet, indem man ihnen die internationale Anerkennung verweigert, während man diese Kooperationsräte diplomatisch aufwertet und so einen föderativen Einigungsprozess von außen her beeinflusst, ohne direkt in die inneren Angelegenheiten einzugreifen.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Da du ja selbst einräumst dass dies aufgrund gewisser Umstände (Atomwaffen, andere Großmächte spielen nicht mit, im Gemetzel untereinander setzt sich ein Imperium durch etc) nicht wirklich möglich ist, möchte ich dich dennoch in Bezug auf deine Theorie als Denkansatz fragen, ob der Tot von Millionen und Abermillionen Zivilisten der sich aus einer solchen Strategie ergeben würde ernsthaft von dir so mitgetragen wird, nur damit aus all der Zerstörung heraus dann etwas erwächst was genau so dysfunktional wäre wie das was ist? Wir verursachen also mal im zweistelligen Millionen Bereich Tote Zivilisten für was? Damit wir ebenso instabile und dysfunktionale Strukturen haben die keineswegs stabil sind?

"Wir" haben in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel Gemetzel in diesem Teil der Erde hingenommen und selbst aktiv verursacht. Natürlich entspricht es nicht meinen ethischen Vorstellungen, hier noch mehr Tod und Leid gezielt zu verursachen. Die Frage stellt sich für mich jedoch rein pragmatisch: Welche Lösung wird langfristig betrachtet in der Summe das geringste Leid verursachen. Und damit kommen wir zu folgendem:

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Der Iran ist ein dauerhaft tragfähiges Regierungskonstrukt. Pakistan ist aktuell (noch) ein dauerhaft tragfähiges Regierungskonstrukt.

Und da unterscheiden sich einfach unsere Einschätzungen. Ich halte beides nicht für langfristig stabil zu haltende Staaten. Ich gehe davon aus, dass diese in ihrer jetzigen Form das Jahrhundert nicht überstehen werden. Dementsprechend sollte sich eine nachhaltige diesbezügliche Politik nicht an diese Staatsgebilde klammern, sondern Alternativen dazu im Blick behalten.
Bei Pakistan sehe ich, wie bereits geäußert, die paschtunischen Gebiete als massives Stabilitätsrisiko für die gesamtstaatliche Einheit. Dem Iran können neben dem Dauerkonflikt mit den USA auch die unabsehbaren Entwicklungen an seiner Nordwestgrenze zum Verhängnis werden. Zudem würde der Kollaps einer dieser beiden Staaten massive Auswirkungen auf den jeweils anderen haben und diesen entweder mitreißen oder zum Alleinherrscher werden lassen.
So oder so glaube ich nicht daran, dass der Status Quo hier eine langfristige Lösung darstellen kann, die den Menschen der Region in der Summe eine besser Perspektive liefert als ein offener Konflikt in absehbarer Zeit, der die Machtverhältnisse auf eine deutlich tragfähigere Basis stellen könnte.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Die ganze Region vollständig in die Luft zu blasen nur damit diese Feinde des Westens so nicht mehr sind und dort gefälligere Strukturen entstehen ist gelinde gesagt abstrus.

Das ist auch nicht mein Vorschlag. Ich rede nur davon, die bisherige Doktrin des oben beschriebenen Verständnisses von Nationbuilding aufzugeben zugunsten einer anderen Vorstellung von Staatlichkeit, die in diesem Kulturraum bessere Perspektiven aufweist als die westliche Utopie. Die dafür in Kauf zu nehmenden Opfer sind immer abzuwägen gegen die Opfer, die ein alternativer Ansatz mit sich bringt. Dementsprechend muss man ggf. kurzfristige Konflikte hinnehmen, um langfristige zu vermeiden, was man aber bisher ja auch schon versucht hat. Ich wähle nur einen anderen Ansatz.

Das aufgezeichnete Szenario der vollständige Isolation war natürlich eine vereinfachte Darstellung und kein konkreter Angriffsplan. Ich möchte ja gerade eben nicht militärisch eingreifen, sondern Impulse in die gewünschte Richtung geben. Die Frage ist nur, ob es überhaupt möglich ist, einen größeren Konflikt zu vermeiden. Denn wenn dieser unvermeidbar wird, sollte man dafür sorgen, dass sein Ergebnis eine Perspektive eröffnet.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Es wäre sinnvoller den Iran nicht mehr fortwährend ständig fertig zu machen und ansonsten sich darauf zu konzentrieren dass Pakistan nicht zerfällt.

Das ist ein realpolitischer Ansatz, der für mich auch durchaus eine Option darstellt, nur befürchte ich, dass dieser eben nicht dauerhaft funktionieren wird und sehe das daher höchstens als Übergangskonzept, nicht als strategische Perspektive.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Zu verhindern das Pakistan abgleitet muss jetzt nach dem Umsturz in Afghanistan oberste Priorität haben. ... Ein Failed State mit Atombomben und Interkontinentalraketen ist inakzeptabel.

Das stimmt alleine schon aufgrund der unmittelbaren Sicherheitsgefahr, die sich aus einem unkontrollierten Zerfall Pakistans für die gesamte Welt ergeben würde. Nur ist das keine Strategie, sondern ein notwendiges Mittel zum Zweck.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Nation Building sollte man daher auch als präventiven Ansatz verstehen und nicht erst dann betreiben wenn ein Staat scheitert. ... Nation Building sollte nicht bedeuten Strukturen zu zerschlagen, zu zerstören damit dann aus dem Chaos sich von selbst etwas neues formt, sondern es sollte primär auf Stabilisierung hin ausgerichtet sein. Wenn alles kaputt ist, dann ist das natürlich wesentlich schwieriger. National Building als Präventive Maßnahme zum Erhalt von Strukturen (so schlecht diese auch sein mögen) macht daher oft mehr Sinn.

Da sind wir wieder bei der Begrifflichkeit: Ich gebe dir recht, solange damit gemeint ist, dass man eine vorhandene Tendenz zur nationalen Einigung unterstützen sollte. Nationalstaaten sind ja nichts falsches, im Gegenteil. Man kann sie halt nur nicht von außen erzwingen.
Und in den Begriff werden teilweise auch Infrastrukturmaßnahmen mit einbezogen, das ist für mich ebenfalls etwas ganz anderes und separat zu bewerten. Solche können natürlich zur Stabilisierung der Sicherheitslage entscheidend beitragen.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Nehmen wir mal den sogenannten Arabischen Frühling und was uns dieser gebracht hat. Wie hat man ihn in der Westpresse und Politik bejubelt, sogar Kriege geführt damit der Arabische Frühling sich ausbreitet und was hat es erzeugt?! Keineswegs entstand aus dem Chaos auch nur irgend etwas sinnvolles. So wäre es auch hier im Indo-Iranischen Raum.

Der Arabische Frühling ist ein Beispiel für den Übergang von einer falschen Strategie des Westens zu einer falschen Strategie des Westens und für die Vielschichtigkeit des Begriffes "der Westen".
Der Westen feiert, dass die von ihm zuvor unterstützen Machthaber durch das Volk gestürzt werden, das sie vorher im Interesse des Westens unter Kontrolle halten sollten.

Im Prinzip markiert der Arabische Frühling das endgültige Scheitern der "ersten Welle" des Nationbuildings, in der starke Diktatoren mit ausländischer Unterstützung versucht haben, von oben nach unten "Nationen" aus ihren geografischen Herrschaftsbereichen zu formen.

(09.09.2021, 13:14)Quintus Fabius schrieb: Beschließend sollten wir vielleicht mal über erfolgreiche Beispiele von Nation Building sprechen, weil aus diesen eher hervor geht was dafür notwendig ist/wäre.

Gerne. Kennst du welche?
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RE: Nationbuilding und die Alternativen - von Broensen - 09.09.2021, 18:00

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