Deutschlands außenpolitische Zukunft
Ich denke, dieser Artikel passt hier recht gut hinein.
Zitat:UKRAINEKRIEG VERÄNDERT WELTORDNUNG

Die erste Schlacht der neuen Zeit

Wir leben jetzt in einer mutipolaren Welt. Putin versucht, die Spielregeln mit Gewalt zu ändern. Höchste Zeit für Deutschland und Europa, sich um neue Verbündete zu kümmern. [...]

Es ist noch gar nicht so lange her, etwa zwanzig Jahre, dass sich viele deutsche, vor allem linke Politiker eine multipolare Welt wünschten. In der leben wir jetzt. Man wird nicht sagen können, dass es ein besseres Leben ist als in der Welt, in der die Vereinigten Staaten (und der Westen insgesamt) die Vorherrschaft hatten. Das gilt zumindest für Europa. [...] Die Stabilität, die Europa in den vergangenen Jahrzehnten auszeichnete, ist insgesamt gefährdet, eine alte Geißel des Kontinents kehrt zurück: die Machtpolitik. [...]

Russland mag heute stärker sein als zu Amtsantritt des Präsidenten. Eine Armee allein reicht aber nicht zur Großmacht. Russland hat die Volkswirtschaft eines Schwellenlandes. Ökonomisch gesehen, legt sich gerade ein Land von der Stärke Brasiliens oder Südkoreas mit dem gesammelten Westen an. Der ist ihm vielfach überlegen. [...] Dass Putin diese Kraftprobe sucht, hat trotzdem mit der Machtverschiebung zu tun, die von der Globalisierung hervorgerufen wurde. Die Gruppe der G7, die bei den Russlandsanktionen den Takt vorgibt, steht aktuell für etwa 43 Prozent der Weltwirtschaft. Das ist eine beeindruckende Zahl für nur sieben Länder. Aber vor drei Jahrzehnten waren es fast noch siebzig Prozent.

Der schleichende Machtverlust des Westens macht sich längst auch politisch bemerkbar. Viele westliche Ziele lassen sich heute nicht mehr gegen Schwellen- und Entwicklungsländer durchsetzen, das war schon vor dem Ukrainekrieg so. Die gescheiterten Interventionen im Irak, in Afghanistan, in Libyen oder in Mali sind Belege für eine massive Überdehnung Amerikas und Europas, auch für Selbstüberschätzung. Die daraus resultierenden innenpolitischen Konflikte haben das westliche Lager weiter geschwächt. [...]

Sein Vorgehen in der Ukraine ist von einiger Improvisation geprägt, mit den westlichen Sanktionen hat er in diesem Ausmaß erkennbar nicht gerechnet. Aber in einem hat er sich nicht vertan: Seine Allianz mit China hält, und die Mittelposition von Ländern wie Indien kommt ihm ebenfalls zugute, sogar materiell. Wenn man so will, ist der Ukrainekrieg tatsächlich die erste Schlacht des multipolaren Zeitalters. Ein (Wieder-)Aufsteiger will die herrschende Ordnung mit Gewalt aushebeln. Dass andere aufstrebende Mächte dabei zusehen, sogar begrenzt Hilfe leisten, ist schon ein Erfolg für Putin. Ein militärischer Konflikt wird noch lange nicht zum „Weltkrieg“, nur weil er in Europa ausgetragen wird. [...]

Nach der klassischen Außenpolitik, einer in Deutschland heute weitgehend unbekannten Lehre, muss der Westen nun versuchen, Putins Verbündete auf seine Seite zu ziehen. Im Kalten Krieg hat das vor allem mit China geklappt, Amerika konnte die Volksrepublik von der Sowjetunion loseisen. Gerade für die Europäer, die von der russischen Expansion direkt bedroht sind, böte sich diese Strategie an. Putin kann sich das Ausgreifen in Richtung Westen nur leisten, weil er Ruhe im Osten hat.

Zwei Faktoren stehen dem entgegen. Der eine ist die amerikanische Sicht, dass China das eigentliche Problem sei. Da Europa sich nicht selbst gegen Russland verteidigen kann, wird es keine Chinapolitik verfolgen können, die der Grundlinie in Washington zuwiderläuft. Europa ist von Amerika heute wieder so abhängig wie vor dem Fall der Mauer. Für das militärisch schwache Deutschland gilt das in besonderem Maße.
https://www.faz.net/aktuell/politik/welc...70813.html

Wobei ich nicht nur alleine die Lehre sehen will, dass wir uns neue Verbündete suchen müssten (da gibt man ja die Verantwortung schon wieder etwas ab), sondern es dürfte schlicht darum gehen, dass wir wieder selbst für uns Verantwortung übernehmen.

Europa und speziell auch die Deutschen haben sich nach 1949 eben auf den Schutzschirm der mächtigen Schwingen der US Air Force verlassen - fairerweise gilt es dazu zu sagen, dass gerade die Bonner Republik vor 1990 einerseits politisch und andererseits auch angesichts sowjetischer Panzerspitzen in Thüringen keine großen Optionen hatte -, aber man hat diesen Sachverhalt dann nach 1990 kurzerhand selbstverliebt-nonchalant und im typischen deutschen Wohlfühl-Isolationismus (und auch mit einer gewissen Arroganz) weiterhin als gegeben angesehen und gemeint, Uncle Sams Unterstützung würde ein quasi ewiger Zustand sein. Und es haben danach sowohl Unions- wie auch SPD-geführte Regierungen die Bundeswehr als ein nettes Beiwerk angesehen - das man zwar irgendwie hat, aber im Grunde nur zum Brunnenbohren noch braucht (und auch heranziehen kann, um Einsparungen vorzunehmen).

Dabei hätte schon die noch recht diplomatisch-sanfte Kritik der USA am deutschen Verteidigungshaushalt unter Obama (und auch teils davor schon) uns langsam zum Umdenken gereichen müssen - zumal es auch unter Obama immer klarer wurde, dass die USA sich verstärkt nach dem Pazifik hin ausrichten werden. Geschehen ist aber deutscherseits erst mal nichts. Splendid Isolation. Dann kam der nationalistisch-irrlichternde König Donald I. und plötzlich gab es erste Risse in der aufgesetzten deutschen Fassade der Selbstgefälligkeit - indessen gab es noch keine Eigenkritik, vielmehr wurde nun den USA vorgeworfen "egoistisch" zu handeln (!). Ohne Donald I. in Schutz nehmen zu wollen, war das deutsche Herumlavieren und empörte Heben der Augenbrauen bei den G7-Treffen fast noch peinlicher...

Vielleicht hat also der Ukrainekrieg insofern etwas "positives" - bitte dies nun nicht falsch verstehen -, als dass Herr Putin mit seinem Wahnwitz die Deutschen ein wenig hinter dem Ofen hervorgeholt hat, gezwungenermaßen. Und wer weiß, die Zeichen deuten ja in die richtige Richtung (subjektiv meine Meinung), vielleicht sehen wir wirklich den Anbeginn einer neuen europäischen Ära, in der Europa (und auch Deutschland) nicht nur wirtschaftlich, sondern militärisch endlich wieder eine ernst zu nehmende und verantwortungstragende Rolle einnimmt.

Schneemann
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RE: Deutschlands außenpolitische Zukunft / Richtung / Kurs - von Schneemann - 14.07.2022, 09:06

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