Aufstands- und Partisanenbekämpfung (COIN)
lime:

Zitat:Fakt ist dass ein demokratischer westlicher Staat überhaupt nicht mehr so auch nur ansatzweise agieren kann. Deshalb ist man auch in Afghanistan grandios gescheitert.

Der Kern der französischen Doktrin sind nicht Verbrechen, sondern ein Bevölkerungszentrierter Ansatz, Pessimismus was das erreichbare angeht und die drei zitierten Umstände:

Which side is going to win?

Which side threatens the most?

Which side offers the most protection?

Hätte man sich an diesen drei Punkten orientiert, hätte man in Afghanistan gewinnen können. Wobei gewinnen nach der französischen Doktrin kein Sieg im üblichen Verständnis als einer nachhaltigen Verbesserung der Situation gemäß unseren Vorstellungen von Gesellschaft ist.

Schneemann:

Zitat:Es ist schon ein gewisser Unterschied, ob ich annehme, dass ich gegnerische Kräfte bekämpfe und dann leider Zivilisten treffe, oder aber ob ich gezielt und wissentlich Zivilisten "verschwinden lasse" und umbringe, nur weil sie mir kritisch gegenüberstehen.

Es geht nicht um die moralisch-ethische Bewertung, sondern dass in beiden Fällen Menschen umgebracht werden, dass man in beiden Fällen tötet - und dem folgend stellt sich allein die Frage der Zweckmässigkeit. War es zweckmässig in vollem Wissen darum dass die Tanklaster festecken, nirgendwo mehr hin fahren und sich viele Zivilisten vor Ort befinden die Tanklaster per Bombe zu zerstören oder nicht ?! Wäre es zweckmässig beispielsweise einen enttarnten Taliban verschwinden zu lassen, und dann Gerüchte zu streuen er hätte als Agent für uns gearbeitet, seit aber jetzt enttarnt worden ?! Was ist zweckmässiger ? Das ist die Kernfrage der französischen Doktrin.

Und man lässt nicht deshalb Zivilisten verschwinden weil sie einem kritisch gegenüber stehen. Ganz im Gegenteil, sollte man solche Kritik als wesentlichen Vorteil begreifen und aufnehmen und verwenden. Kritik ist zudem nicht gleich Kritik. Bestimmte Kritiker kann man sogar fördern (um den Feind damit zu spalten, um die Bevölkerung dadurch zu beeinflussen, um diese zu überwachen und damit an den Feind heran zu kommen etc etc etc), andere Kritiker muss man spektakulär ermorden und die Schuld dem Feind in die Schuhe schieben, andere Kritiker muss man mundtot machen, es kann da einfach keine feste Form geben. Es hängt vom Einzelfall ab und von der Frage, was jeweils zweckmässiger ist.

Im übrigen hat man nachweislich nicht leider wie nebenbei auch Zivilisten getroffen, sondern die Mittötung diesser um die 80 Zivilisten bewusst mit angeordnet nur um diese Tanklaster auszuschalten und ein paar Taliban mitzutöten. Das ist keine moralisch-ethische Kritik ! Es ist lediglich eine Kritik an der Zweckmässigkeit.

Zitat:Damit wird sie aber scheitern, den jeder normale Mensch möchte eigentlich nur in Frieden leben und ist froh, wenn er nicht in den Krieg ziehen muss.

Um mich zu wiederholen. Der Kern dieser Doktrin ist die Beantwortung dieser drei Fragen:

Which side is going to win?

Which side threatens the most?

Which side offers the most protection?

Und zwar aus genau diesem Grund ! Weil die Mehrheit der Menschen normal in Frieden leben möchte, gerade eben deshalb. Gerade eben deshalb entscheiden diese drei Fragen den Kampf des Counterinsurgenten.

Im übrigen zieht die französische Doktrin eben keine so klare Trennlinie zwischen Scheitern und Sieg, diese Ambiguität und der Kritische Rationalismus die da dahinter stehen sind einfach wesentlich realistischer als unsere derzeitige hoch-ritualisierte Kriegsführung die im Bereich COIN allein schon aufgrund ihres Legalismus und ihrer Ritualisierung immer scheitern muss.

Fallbeispiel Algerien:

Zitat: Sagen wir so: Es ist ruhig, das ist sicher richtig. Die Ursachen, die Wurzeln schlummern aber noch im Untergrund.

Ein Anhänger der französischen Doktrin würde schon vorher nichts anderes erwarten, dies daher auch gar nicht als Problem sehen und ich sage dir ganz genau so: na und ? Es gibt für ganz vieles (das meiste) überhaupt gar keine nachhaltige Lösung. Und längerfristig kann man sich in ganz vielen Fällen nur und absolut nur dann behaupten, wenn man bereit ist zu tun was dafür notwendig ist. Wenn man also die Wurzeln nicht ausreißen kann (wovon die französische Doktrin nicht ausgeht), dann muss die Pflanzen halt so weit wie möglich ausreißen, und dann wenn sie nachtreiben sie wieder ausreißen.

Zitat:Hinzu kommt, dass der Sieg der Regierung nicht alleine durch ihre eigene massive Gewalttätigkeit zustande kam, sondern dass die Islamisten sich selbst durch ihre maßlose, willkürliche und oft barbarische Gewalt gegen Zivilisten in den Augen der Bevölkerung so desavouiert hatten, dass sie ihre Grundlage, ihre stillen Unterstützer im Volk verloren.

Und genau da liegt das Missverständnis. Gerade durch die maßlose und barbarische Gewalt kann der Insurgent siegen, die Bevölkerung auf seine Seite bringen, und genau das ist in Algerien auch geschehen. Ebenso wie in Afghanistan. Exakt das ist der entscheidende Punkt, das primäre Missverständnis der aktuellen westlichen TM COIN Strategien, dass man die Wirkung des Terrors nicht versteht. Man denkt die Bevölkerung wendet sich von den Terroristen ab, weil diese Terror ausüben. Dem ist aber nicht so, im Gegenteil.

Terror ist zudem nicht gleich Terror. Es gibt natürlich Terrortaten, welch dazu führen, dass man Unterstützer findet, aber dies gilt auch immer nur temporär (siehe die drei Fragestellungen). Entsprechend vermeidet der Insurgent genau diese Terrortaten und versucht die Regierung dazu zu bringen exakt diese Art von Terror auszuüben.

Das ist der wesentlichste Punkt: so barbarisch und maßlos die Gewalt des Insurgenten ist, sie ist eben nicht willkürlich, dass ist es was man heute nicht mehr versteht im Westen TM und was die französische Doktrin gerade eben verstanden hat.

Und genau deshalb muss die Regierung den Terror inszenieren der ihr Unterstützer zutreibt. Zum einen durch gezielten spezifischen Terror den sie selbst ausübt, zum anderen indem sie die Art von Terror ausführen lässt welche dem Feind die Unterstützer entzieht und zwar indem sie diese Taten vor allem anderen dem Feind in die Schuhe schiebt. Man begeht also selbst Verbrechen und schiebt diese dem Feind in die Schuhe um damit Unterstützung für die eigene Sache zu generieren. Der Feind macht dies übrigens genau so. In diesem Wettkampf siegt die Seite, die der jeweils anderen mehr Greuel gezielter in die Schuhe schieben kann.

Und das ist in Algerien der Regierung gelungen, welche immense Verbrechen den Terroristen erfolgreich in die Schuhe schieben konnte und die Terroristen dahingehend auch manipulieren und benutzen konnte selbst solche Verbrechen zu begehen. Entsprechend hat die Regierung beispielsweise bei vorher bekannt gewordenen Massakern bewusst nicht eingegriffen damit die Terroristen diese durchführen können, und die Terroristen dann erst nach der Ausübung derselben auf dem Rückzug angegriffen und eliminiert. Genau solche Methoden und indirekten Ansätze sind der Kern der franzöischen Doktrin, und nicht Folter etc.

Sondern die bewusste und sehr gezielte Verwendung des Terrors beider Seiten unter einem Primat der reinen Zweckmässigkeit.

Zitat:In gewisser Weise ist der Sieg über die FIS also nicht einem gelungenen COIN eines Regierungsapparates zuzuschreiben, sondern es war die Barbarei der Islamisten selbst, die der Regierung den Sieg mit ermöglichte.

Wie beschrieben: diese Sichtweise zeigt von Grund auf, dass nicht verstanden wird wie im COIN Terror als Instrument eingesetzt wird und was für Ziele und Folgen er hat.

Entsprechend verliert jeder Insurgent der sich der Barbarei verweigert de facto automatisch. Auch dass ist eine Erkenntnis der französischen Doktrin (falls man mal umgekehrt eine Revolution anstiften möchte).

Zitat:Bis zu einem gewissen Grad ist dieser Konflikt übrigens z. B. auch mit Peru und dem "Sendero Luminoso" zu vergleichen. In Peru versuchte die Staatsmacht zunächst mit teils blankem Terror und Todesschwadronen den Maoisten Guzmáns Herr zu werden, mit dem Ergebnis, dass die ärmliche, indianische Landbevölkerung diese sogar umso mehr unterstützte. Das ging soweit, dass der "Sendero Luminoso" in den 1980ern fast 50% des Landes kontrollierte und die CIA schon meldete, dass das Land in zwei, drei Jahren auseinanderfallen würde. Aber dann hat die Regierung ihren Kurs abgeändert, sie hat versucht auf dem Land eine Art von strategic hamlet program durchzusetzen und hat ihre Todesschwadrone zurückgepfiffen. Als das geschah, haben die Maoisten sich an den Dörfern, die von der Regierung unterstützt wurden - oder von denen sie annahmen, dass sie auf der Seite der Staatsmacht stünden -, grausamst gerächt (siehe z. B. das Lucanamarca-Massaker: https://en.wikipedia.org/wiki/1983_Lucanamarca_massacre). Im Endergebnis haben die Maoisten aber so sich selbst ihre Grundlage genommen, den sie haben durch ihren Terror die Bevölkerung in die Arme der Regierung getrieben. Und dies wiederum ermöglichte es der Regierung, die selbst (von einzelnen Vorfällen abgesehen), ihren eigenen Terror deutlich zurücknahm und die polizeiliche Ermittlungsarbeit inkl. COIN gezielt verstärkte, die Banden des "Sendero Luminoso" niederzukämpfen.

Der Kern dieser Doktrin ist die bloße Zweckmässigkeit. Entsprechend ist Terror als Selbstzweck abzulehnen, wie es im Fall Perus war. Der Terror des Staates dort war ungezielt, offen, sinnlos, unzweckmässig, genau deshalb ist er gescheitert. Buchempfehlung in diesem Kontext:

https://www.amazon.in/Leuchtende-Pfad-19...3412207209

Und umgekehrt war es nicht so wie du es hier beschreibst, dass der Leuchtende Pfad sich überall ausbreitete weil die Regierung so brutal vorging, und dann erst die Unterstützung verlor, als er selbst auf die Bevölkerung losging. Sondern die gingen von Anfang an sehr massiv gerade eben gegen die indigene Bevölkerung los und auch gegen überzeugte Christen auf dem Land und gerade diese Gewalt war wesentlich für ihren Erfolg und dass sie sich auf die Hälfte der Landesfläche ausbreiten konnten.

Der Leuchtende Pfad ist zudem dahingehend ein Musterbeispiel, weil er wie die Taliban mitten in der Gesellschaft zunächst eine weitausgedehnte Parallelgesellschaft errichtet hat, bevor er dann den offenen Kampf aufnahm. Zuerst hat man sich im Untergrund möglichst weit ausgebreitet, und erst als man sich dort überall als Parallelgesellschaft etabliert hatte, eröffnete man den bewaffneten Kampf, und gleich von Beginn an in weiten Teilen der Landesfläche.

Nachdem der bewaffnete Kampf eröffnet worden war, wurde eine Mehrheit (!) der Kämpfer des leuchtenden Pfades von diesem mit Gewalt rekrutiert. Und gleich von Anfang an massiver Terror gegen Andersdenkende Minderheiten ausgeübt und wie erwartet (französische Doktin) ging die Mehrheit zum leuchtenden Pfad über.

Perfekte Terrrortaten des leuchtenden Pfades waren die Gefängnisaufstände und die dadurch hervor gerufenen Reaktionen der Regierung. Es waren die Massaker bei der Niederschlagung dieser Gefängnisaufstände welche dem leuchtenden Pfad dann bei der indigenen Bevölkerung sehr viele Symphatien einbrachten. Zudem provozierte man wo immer möglich Aktionen der Regierung gegen die zivile Landbevölkerung, meist indem man dafür spezifisch vorgesehenen Personen falsche Informationen gab (ohne ihnen zu sagen, dass die Informationen falsch sind), diese dann absichtlich von der Regierung fangen ließ, wobei diese dann per Folter die Informationen extrahierte (die Gefolterten glauben ja selbst die Infos seien real und wahr) und dann waren miltärische Aktionen der Regierung in Wahrheit Unschuldige die Folge. Das ist brilliant. Und es ist exakt das was die französische Doktrin beschreibt und als Methode selbst verwendet. Erst als die Regierung verstand, dass der leuchtende Pfad selbst sie mit falschen Informationen (die auch noch auf andere extrem geschickte Weise der Regierung vom leuchtenden Pfad selbst zugespielt wurden) dazu brachte Dörfer niederzumetzeln änderte man dies und fing dann auch an gezielter und indirekter zu arbeiten.

Wesentlich waren dann vor allem auch die zunehmende Spaltung des leuchtenden Pfades, dass konkurrierende Gruppierungen dieser Organisation in den Drogenhandel einstiegen (was die Regierung heimlich förderte) und dass man die Diskriminierung der Indigenen beendete.

Im übrigen hoffe ich zumindest halbwegs verständlich beschrieben zu haben, dass der Terror des Counterinsurgenten entweder möglichst verdeckt erfolgen muss, er darf also nicht offen sichtbar sein, dass er dem Feind in die Schuhe geschoben werden muss und dass er sehr gezielt sein muss.
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[Kein Betreff] - von Holger - 23.01.2004, 11:13

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