Türkei
Wider den säkularen Dogmatismus

Zitat:...Der Traum von Kemal Atatürk ("Vater der Türken"), aus der Türkei einen dem Modell der französisch-republikanischen laïcité nachgebildeten säkularen, republikanischen Nationalstaat zu machen, ist, wie sich erwiesen hat, nicht leicht zu verwirklichen, jedenfalls nicht im Rahmen der kemalistischen Vorgaben. Die Möglichkeit eines türkischen demokratischen Staatswesens freilich, das als echter Repräsentant seiner muslimischen Bevölkerung gelten kann, erscheint heute zum ersten Mal als ein realistischer Prospekt. Die "sechs Pfeile" des Kemalismus (Republikanismus, Nationalismus, Säkularismus, Etatismus, Popularismus und Reformismus) vermochten keine funktionsfähige Demokratie ins Leben zu rufen. Letztlich scheiterte das Projekt eines solchen, von oben verfügten Nationalstaats daran, dass dieser Staat den Islamisten zu weltlich, den Alewiten zu sunnitisch und den Kurden zu türkisch war...

Ein türkischer Staat, in dem sich die Identität und die Interessen jener Gruppen, die das Gros der Bevölkerung bilden, nicht öffentlich repräsentiert finden, kann keine repräsentative Demokratie sein, selbst wenn er in modernen republikanischen Prinzipien gründet. Die jetzige muslimische Demokratie in der Türkei aber ist ebenso real und lebensfähig wie es vor einem halben Jahrhundert die christliche Demokratie in Westeuropa war...

Die noch muslimische, aber offiziell nicht mehr islamistische Partei, die derzeit an der Macht ist, wurde wiederholt des Fundamentalismus bezichtigt; ihr wurde vorgeworfen, sie untergrabe die geheiligten säkularistischen Prinzipien der kemalistischen Verfassung, die religiöse und ethnische Parteien ausschließt, weil sie religiöse und ethnische Zugehörigkeit als Identitätsformen definiert, die in einer säkularisierten Türkei keinen Anspruch auf öffentliche Repräsentation haben.

Faires Spiel?

Praktisch in jedem kontinentaleuropäischen Land hat es irgendwann religiöse Parteien gegeben. Viele von ihnen, zumal die katholischen, zeichneten sich nicht unbedingt durch eine demokratische Gesinnung aus, ehe dann die Lektion des Faschismus christlich-demokratische Parteien aus ihnen machte. Wenn man den Leuten nicht erlaubt, das Spiel fair zu spielen, wie sollen sie dann die Regeln schätzen lernen und eine demokratische Einstellung erwerben? Man fragt sich, wer hier eigentlich der Fundamentalist ist: Die Muslime, die ihre Identität öffentlich anerkannt sehen wollen und unter Respektierung der demokratischen Spielregeln das Recht fordern, sich zur Beförderung ihrer ideellen und materiellen Interessen politisch zu organisieren, oder die Säkularisten, die den muslimischen Schleier, den eine demokratisch gewählte Parlamentsabgeordnete trägt, als Bedrohung der türkischen Demokratie und als einen blasphemischen Verstoß gegen die geheiligten säkularistischen Prinzipien des kemalistischen Staates betrachten? Könnte die Europäische Union die öffentliche Repräsentation des Islam in ihrem Geltungsbereich akzeptieren? Kann das "säkulare" Europa der "muslimisch"-demokratischen Türkei Zutritt gewähren?...
Ich finde den Artikel ganz gut, er ist zumindest nicht so einseiteig bzw. vorgefertigt wie man es sonst von Artikeln über die Türkei gewohnt ist.
Quelle:
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