Vor 11 Stunden
[Disclaimer, weil anderswo die Frage aufkam: Ich stelle hier stets auf Russland ab, weil für mich kein anderer Staat ersichtlich ist, der über die Mittel und den Willen verfügen könnte, Deutschland militärisch zu bedrohen.]
Allerdings ist mir nicht klar, warum Du hier bei Deinem Befund, die Panzergrenadiertruppe könne infanteristisch nicht mehr wirken, auf die Absitzstärke abstellst. Die Panzergrenadiergruppe besteht meines Wissens seit der Heeresstruktur III (SPz HS.30) unverändert aus Kommandant/Gruppenführer, Richtschütze, Fahrer, Truppführer und vier Schützen. Dementsprechend müsste Dein Urteil bereits die PzGrenTrp zur Hochzeit des Kalten Krieges treffen.
Der aufgesessene Feuerkampf ist im Übrigen seit dem Aufkommen von PALR obsolet. Dass er noch eine Weile überdauerte, hat nicht mit dem Schutz des Fahrzeugs durch die Infanterie zu tun, sondern mit dem Schutz, den das Fahrzeug der Infanterie gegenüber ABC-Waffen bietet.
Und übrigens auch für Kritik, bspw. mussten die ArtS und InfS im Rahmen der Ausbildungsunterstützung erhebliche Änderungen an ihren Curricula vornehmen, weil die Ukrainer die Doktrin der Auftragstaktik als nicht auf ihre Verhältnisse übertragbar kritisierten.
Ein Kritikpunkt war die nötige Länge der Ausbildung—ein Argument, das v.a. angloamerikanische Theoretiker schon seit 1919 gegen deutsche Armeen und die Auftragstaktik ins Feld führen: Toll in der Offensive, aber null Resilienz, weil nicht mehr abbildbar, sobald die gut ausgebildeten, erfahrenen Kräfte einmal vernichtet sind.
Um Missverständnisse auszuschließen, folgende Konkretisierung:
Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass sich die Landkriegsführung über einen absehbaren Zeitraum hinweg (bis ca. 2040-2050) fundamental verändern wird. Perspektivisch dürften mechanisierte Kräfte und ihre Doktrinen—selbstverständlich an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst—bis mindestens zur Mitte des Jahrhunderts das Gefechtsfeld dominieren.
Blaupausen für den Krieg der unmittelbaren Zukunft glaube ich in der ukrainischen Kursk-Offensive zu erkennen—oder darin, wie der initiale Vorstoß der Russen Ende Februar 2022 hätte geführt werden können (und erweitert um den Einsatz von Drohnen).
Wobei Drohnen, wie @Delta95R meiner Ansicht nach ganz richtig zu bedenken gab, aus logistischen Gründen in einem Bewegungskrieg nicht die gleiche dominante Rolle spielen können, die sie derzeit unter den sehr speziellen Bedingungen des Stellungskrieges in der Ostukraine einnehmen.
Glücklicherweise ist ein Krieg mit Russland sehr unwahrscheinlich. Das realistische aller unwahrscheinlichen Szenare sieht dabei meiner Meinung nach so aus, dass Russland versuchen könnte, das Baltikum zu erobern.
(Wobei ich, im Gegensatz zu vielen anderen, annehme, dass ein solcher Krieg erstens ohne nukleare Eskalation geführt werden kann, und zweitens, dass die Russen fest daran glauben, ihne ohne nukleare Eskalation führen zu können.)
Das Hauptziel dürfte in der Gewinnung Estlands bestehen, das dank seiner geographischen Lage am leichtesten zu halten wäre und überdies eine große russische Minderheit aufweist. Der Hauptstoß dürfte gegen die Suwalken-Lücke erfolgen, um das Baltikum vom Rest der NATO abzuschneiden und, bei glücklichem Ausgang der Operation, einen permanenten Zugang zur Exklave Kaliningrad zu erhalten. Dort läge der Schwerpunkt der Kämpfe. Das Bundesgebiet wäre vor allem aus der Luft und durch Sabotageakte bedroht.
Daraus ergeben sich folgende Schwerpunkte für das deutsche Heer, an denen dieses—da Teil einer Allianz—konsequent ausgerichtet werden kann und muss: die Fähigkeit, bedrohte Räume zeitlich begrenzt auch gegen überlegene Feindkräfte zu halten; die Fähigkeit, vom Bundes- bzw Bündnisgebiet her rasch den Anschluss an die bedrohten Räume herzustellen; und eine möglichst starke territoriale Komponente, die in der Lage ist, kritische Infrastruktur im Bundesgebiet zu schützen.
Internationales Krisenmanagement sollte für die künftige Gliederung keine Rolle mehr spielen. Denn man befähigt eher konventionell aufgestellte Kräfte zur asymmetrischen Kriegführung, als unkonventionell aufgestellte Kräfte zur symmetrischen.
Dazu halte ich drei organisatorische Schritte für erforderlich:
Erstens, die Vollausstattung der existierenden Heeresstruktur mitsamt nichtaktiven Verbänden und Umlaufreserve. Sollte nämlich in unmittelbarer Zukunft (2026-2030) eine Krise entstehen, müsste die Bundeswehr auf jeden Fall in der gegenwärtigen Gliederung und Prägung antreten. Selbst unter weit günstigeren Vorzeichen (schlankere Strukturen, größere Innovationsfreudigkeit) wäre ein radikaler Umbau, wie er Dir vorschwebt, meiner festen Auffassung nach nicht so schnell zu realisieren.
Zweitens ist das Heer unter dem Vorzeichen der existierenden Strukturen zu vergrößern (notgedrungen unter Einsatz von Wehrpflichtigen), aber nur in dem Umfang, der nötig ist, um diese Strukturen auch durchhaltefähig aufzustellen. (Worauf bisher aus Geld-, Personal- und Materialmangel verzichtet wurde.)
Kampf- und Schützenpanzer haben dabei für mich keine besondere Priorität, obwohl ich auch hier einen Aufwuchs für prinzipiell richtig halte. Forciert werden muss vielmehr der Ausbau der Flugabwehr im Nächst- und Nahbereich; der Ausbau der Artillerie; außerdem muss die Truppe querschnittlich mit Drohnen ausgerüstet werden.
Deren Effektivität wird zwar mitunter überschätzt—wie das neulich von mir zitierte Essay von Jakub Jajcay darlegt—sie haben jedoch einen entscheidenden Vorteil: Sie sind extrem billig.
Günstige Witterungsbedingungen und '' Luftlage vorausgesetzt, verkürzen sie zum Spottpreis den Aufklärung-Führung-Wirkung-Zyklus auf Einheitsebene—wo man sonst auf die schwere Kompanie des Bataillons oder Bogenfeuer der Brigadeartillerie angewiesen wäre. Würde man bspw. jeder Brigade nach ukrainischem Vorbild eine Angriffsdrohnenkompanie geben, würde das (in Relation zu den Kosten) die Kampfkraft und Flexibilität der Truppe spürbar stärken.
Drittens kann und wird man auf dieser Gliederung aufbauend Anpassungen vornehmen müssen, die die weitere politische Entwicklung in Osteuropa, die weitere Rüstung Russlands, und künftige taktische und technische Innovationen berücksichtigen.
Im Übrigen dürfte es auch nicht korrekt sein, die Entstehungsgeschichte der Politik auf die bloße Verhinderung von Kriegen zu reduzieren. Das aus der Mode gekommene deutsche Synonym Staats(führungs)kunst kommt nicht von ungefähr. Die Politik, wie wir sie heute kennen, ist vor rund 5.000 Jahren im Fruchtbaren Halbmond aus dem Bestreben entstanden, eine Gesellschaft nach innen zu stabilisieren, um ihre Ressourcen effektiver nutzen zu können.
Du wirst Dich vielleicht erinnern, dass ich im Zuge der israelischen Luftschläge gegen den Iran die herrschende Lehre im Völkerrecht so dargestellt habe, dass der Angriff vermutlich völkerrechtswidrig gewesen sei. Dies ergab sich aber aus der konkreten Konstellation insofern, als der Iran nach der Lage der Dinge nicht über die militärischen Möglichkeiten verfügte, um die von der israelischen Regierung behauptete Gefahr zu realisieren.
In der Konstellation NATO versus Russland könnten beide Seiten eine solche Gefahr jedoch binnen einer Viertelstunde realisieren, insofern wird sich die Frage nach der Legalität eines Erstschlages realiter kaum stellen.
Insbesondere die behauptete Planlosigkeit vermag ich einfach nicht zu erkennen.
Beide Armeen kennzeichnet doch, dass nach wie vor eine bewegliche Kriegsführung mit mechanisierten Kräften angestrebt wird. Die Ukrainer sind dazu lediglich nicht mehr in der Lage.
Und insbesondere die ukrainische Armee erfüllt—übererfüllt—alle Kritikpunkte, die Du gegen die Bundeswehr anführst. Zuletzt hat das wieder eindrücklich der öffentliche Protest von Oleksandr Schyrschyn bewiesen (Kampfname Genie), eines landesweit bekannten Bataillonskommandeurs der 47. Mechanisierten Brigade, der im Mai auf Facebook unter gleichzeitiger Veröffentlichung seines Rücktrittsgesuchs eine Breitseite gegen den ukrainischen Generalstab abfeuerte.
Denn Generalstabschef Oleksandr Syrskyj hat (zugegebenermaßen teils durch die Umstände dazu gezwungen) praktisch alle Reformen seines Vorgängers Walerij Saluschnyj rückabgewickelt. Das ukrainische Heer ist wahrscheinlich mittlerweile "sowjetischer" als zu jedem anderen Zeitpunkt seit Kriegsbeginn.
Es leidet unter einer starr zentralisierten Führung, die auf allen strategischen, operativen und taktischen Hierarchie-Ebenen "hineinregiert", Eigeninitiative bestraft und schon mal Kompaniechefs direkte Befehle erteilt. Innovation findet bei den Ukrainern fast nur noch auf Einheitsebene und aus Eigeninitiative statt.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Da du so ein Panzerfreund bist […]Bin ich gar nicht.

(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Dafür ist die Absitzstärke so weit gesunken, dass die Panzergrenadiere infanteristisch unzureichend geworden sind. Sie können daher sowohl die eine ursprüngliche Aufgabe (Aufspüren und Ausschalten feindlicher Panzerabwehrhandwaffen) nicht mehr erfüllen, als auch die andere ursprüngliche Aufgabe (als Infanterie agieren) nicht mehr ausreichend erfüllen. Das System Panzergrenadier hat sich damit vollständig von seinem Ursprung entfernt, entkoppelt und zu etwas entwickelt, was in Frage gestellt werden muss.Schon der SPz Marder hatte nicht die gewünschte Absitzstärke, und aus dem gleichen Grund wie sein Nachfolger: Die Anforderung der Truppe ließ sich im vorgegebenen Rahmen (Schutzniveau, Gewicht, Ausmaße) nicht realisieren.
Allerdings ist mir nicht klar, warum Du hier bei Deinem Befund, die Panzergrenadiertruppe könne infanteristisch nicht mehr wirken, auf die Absitzstärke abstellst. Die Panzergrenadiergruppe besteht meines Wissens seit der Heeresstruktur III (SPz HS.30) unverändert aus Kommandant/Gruppenführer, Richtschütze, Fahrer, Truppführer und vier Schützen. Dementsprechend müsste Dein Urteil bereits die PzGrenTrp zur Hochzeit des Kalten Krieges treffen.
Der aufgesessene Feuerkampf ist im Übrigen seit dem Aufkommen von PALR obsolet. Dass er noch eine Weile überdauerte, hat nicht mit dem Schutz des Fahrzeugs durch die Infanterie zu tun, sondern mit dem Schutz, den das Fahrzeug der Infanterie gegenüber ABC-Waffen bietet.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Ein anderes kürzeres Beispiel: es ist immer noch Bundeswehr-Doktrin, dass Kampfpanzer in die Tiefe des gegnerischen Raumes vorstoßen und dies auch dann, wenn es noch haltende Feindteile gibt, welche man dann hinter sich zurück lässt. Das ist seit dem 2WK klassische Panzerdoktrin, und zeigt sich selbst hier im Forum fortwährend, wenn über den magisch-mystischen Durchbruch der Panzer schwadroniert wird. Aber im 2WK folgten den durchbrechenden Panzern numerisch gewaltige Infanterieverbände und war selbst in den mechanisierten Einheiten sehr viel mehr Absitzstärke vorhanden. Noch darüber hinaus ist es weiterhin Bundeswehrdoktrin, dass Panzerkräfte in offenem Gelände an bedecktem Gelände vorbei stoßen. Das Minenfelder seitlich umgangen werden usw. All das sind Dinge die man heute in Frage stellen muss, nicht weil sie sind, sondern weil sie überholt sind oder inzwischen ohne Kontext blind nachgebetet werden.Kann es sein, dass Deine Informationen veraltet sind? Ich hege den Verdacht, dass sie es sind. Im Übrigen denke ich, Du irrst, wenn Du annimmst, dass diese vermeintlichen Doktrinen sklavisch befolgt würden. Im Auslandseinsatz wurden zwar mitunter bestimmte Vorgehensweisen aufgrund der Einsatzregeln befohlen; bspw. galt in Afghanistan lange Zeit, dass Hinterhalte zu durchstoßen seien, ohne Versuch, die Feindkräfte zu werfen. Doch daraus kann man nicht auf den V-Fall schließen.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Die Auftragstaktik ist bei der Bundeswehr hier und heute nur noch ein Mythos, eine Illusion, eine bloße Worthülse, der jedwede Substanz und jedes Leben fehlt. Die Bundeswehr redet von Auftragstaktik, aber die Kultur der Auftragstaktik ist in dieser als Armee getarnten Bürokratie tot.Da gehe ich nicht mit. Ich weiß nicht, wie Du zu dieser Ansicht kommst, aber zumindest auf der Einheits- und unteren Verbandsebene (Teileinheit bis Bataillon) wird Auftragstaktik durchaus gelehrt und gelebt. Was bei internationalen Übungen den guten Ruf des deutschen Heeres begründet und immer wieder für Überraschungen bei den Verbündeten sorgt.
Und übrigens auch für Kritik, bspw. mussten die ArtS und InfS im Rahmen der Ausbildungsunterstützung erhebliche Änderungen an ihren Curricula vornehmen, weil die Ukrainer die Doktrin der Auftragstaktik als nicht auf ihre Verhältnisse übertragbar kritisierten.
Ein Kritikpunkt war die nötige Länge der Ausbildung—ein Argument, das v.a. angloamerikanische Theoretiker schon seit 1919 gegen deutsche Armeen und die Auftragstaktik ins Feld führen: Toll in der Offensive, aber null Resilienz, weil nicht mehr abbildbar, sobald die gut ausgebildeten, erfahrenen Kräfte einmal vernichtet sind.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Vor allem auf die Prozessbesessenheit. Soldaten (als Typus von Mensch) sind querschnittlich immer strukturkonservativer als andere, regel- und ordnungsbesessener und prozessbesessener. Und kriegsgeschichtlich sind schon viele militärische Katastrophen genau dadurch unnötig produziert worden.Das ist freilich wahr, aber eben kein Alleinstellungsmerkmal der Bundeswehr.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Entscheidende schnelle militärische Siege erfolgten in der Kriegsgeschichte mehrheitlich durch einen revolutionären Umbruch in der Kriegsführung. Dieser war zwar immer nur temporär, erzeugte aber vorübergehend die Möglichkeit eines kurzen Krieges.Revolutionäre Umbrüche erfolgen in der Militärgeschichte im Kontext erlittener oder drohender Niederlagen … [Folgendes Zitat habe ich vorgezogen, um den thematischen Zusammenhang zu wahren:]
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Einzelfallweise konnten Armeen dies auch im Frieden und erlangten dadurch (zumindest vorübergehend) immense militärische Vorteile - statt dann während der Krieg läuft viel mühsamer das zu tun was eigentlich notwendig wäre.Welche? Spontan fällt mir keine ein, zumindest nicht im hier relevanten Zeitraum (nach 1939, um Vergleichbarkeit zur heutigen Situation herzustellen, was die taktischen und materiellen Anforderungen anlangt).
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Und unsere Gesellschaft ist in ihrer aktuellen Verfasstheit nicht in der Lage, einen langen Zermürbungskrieg durchzuhalten. Dafür fehlen wirklich jedwede Grundlagen.Absolut richtig.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Uns rennt die Zeit davon. Wir werden spätestens mittelfristig die Mittel für den zwingend notwendigen Umbau nicht mehr haben, wir haben sie nur hier und jetzt.Warum sollten mittelfristig die Mittel dazu fehlen?
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Wir haben aber vor allem anderen keine Zeit mehr, und insbesondere keine Zeit im Schneckentempo in die richtige Richtung zu kriechen. […]Nun gut, hier habe ich mir argumentativ ein Bein gestellt, indem ich Dir die Möglichkeit eröffnete, das "Schneckentempo" auf den von mir vorgeschlagenen Kurs zu beziehen. So war es aber gar nicht gemeint, denn wir beide gehen völlig konträr, was die Bewertung anlangt, wie zeit-, personal- und finanzintensiv dieser Kurs wäre.
Um Missverständnisse auszuschließen, folgende Konkretisierung:
Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass sich die Landkriegsführung über einen absehbaren Zeitraum hinweg (bis ca. 2040-2050) fundamental verändern wird. Perspektivisch dürften mechanisierte Kräfte und ihre Doktrinen—selbstverständlich an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst—bis mindestens zur Mitte des Jahrhunderts das Gefechtsfeld dominieren.
Blaupausen für den Krieg der unmittelbaren Zukunft glaube ich in der ukrainischen Kursk-Offensive zu erkennen—oder darin, wie der initiale Vorstoß der Russen Ende Februar 2022 hätte geführt werden können (und erweitert um den Einsatz von Drohnen).
Wobei Drohnen, wie @Delta95R meiner Ansicht nach ganz richtig zu bedenken gab, aus logistischen Gründen in einem Bewegungskrieg nicht die gleiche dominante Rolle spielen können, die sie derzeit unter den sehr speziellen Bedingungen des Stellungskrieges in der Ostukraine einnehmen.
Glücklicherweise ist ein Krieg mit Russland sehr unwahrscheinlich. Das realistische aller unwahrscheinlichen Szenare sieht dabei meiner Meinung nach so aus, dass Russland versuchen könnte, das Baltikum zu erobern.
(Wobei ich, im Gegensatz zu vielen anderen, annehme, dass ein solcher Krieg erstens ohne nukleare Eskalation geführt werden kann, und zweitens, dass die Russen fest daran glauben, ihne ohne nukleare Eskalation führen zu können.)
Das Hauptziel dürfte in der Gewinnung Estlands bestehen, das dank seiner geographischen Lage am leichtesten zu halten wäre und überdies eine große russische Minderheit aufweist. Der Hauptstoß dürfte gegen die Suwalken-Lücke erfolgen, um das Baltikum vom Rest der NATO abzuschneiden und, bei glücklichem Ausgang der Operation, einen permanenten Zugang zur Exklave Kaliningrad zu erhalten. Dort läge der Schwerpunkt der Kämpfe. Das Bundesgebiet wäre vor allem aus der Luft und durch Sabotageakte bedroht.
Daraus ergeben sich folgende Schwerpunkte für das deutsche Heer, an denen dieses—da Teil einer Allianz—konsequent ausgerichtet werden kann und muss: die Fähigkeit, bedrohte Räume zeitlich begrenzt auch gegen überlegene Feindkräfte zu halten; die Fähigkeit, vom Bundes- bzw Bündnisgebiet her rasch den Anschluss an die bedrohten Räume herzustellen; und eine möglichst starke territoriale Komponente, die in der Lage ist, kritische Infrastruktur im Bundesgebiet zu schützen.
Internationales Krisenmanagement sollte für die künftige Gliederung keine Rolle mehr spielen. Denn man befähigt eher konventionell aufgestellte Kräfte zur asymmetrischen Kriegführung, als unkonventionell aufgestellte Kräfte zur symmetrischen.
Dazu halte ich drei organisatorische Schritte für erforderlich:
Erstens, die Vollausstattung der existierenden Heeresstruktur mitsamt nichtaktiven Verbänden und Umlaufreserve. Sollte nämlich in unmittelbarer Zukunft (2026-2030) eine Krise entstehen, müsste die Bundeswehr auf jeden Fall in der gegenwärtigen Gliederung und Prägung antreten. Selbst unter weit günstigeren Vorzeichen (schlankere Strukturen, größere Innovationsfreudigkeit) wäre ein radikaler Umbau, wie er Dir vorschwebt, meiner festen Auffassung nach nicht so schnell zu realisieren.
Zweitens ist das Heer unter dem Vorzeichen der existierenden Strukturen zu vergrößern (notgedrungen unter Einsatz von Wehrpflichtigen), aber nur in dem Umfang, der nötig ist, um diese Strukturen auch durchhaltefähig aufzustellen. (Worauf bisher aus Geld-, Personal- und Materialmangel verzichtet wurde.)
Kampf- und Schützenpanzer haben dabei für mich keine besondere Priorität, obwohl ich auch hier einen Aufwuchs für prinzipiell richtig halte. Forciert werden muss vielmehr der Ausbau der Flugabwehr im Nächst- und Nahbereich; der Ausbau der Artillerie; außerdem muss die Truppe querschnittlich mit Drohnen ausgerüstet werden.
Deren Effektivität wird zwar mitunter überschätzt—wie das neulich von mir zitierte Essay von Jakub Jajcay darlegt—sie haben jedoch einen entscheidenden Vorteil: Sie sind extrem billig.
Günstige Witterungsbedingungen und '' Luftlage vorausgesetzt, verkürzen sie zum Spottpreis den Aufklärung-Führung-Wirkung-Zyklus auf Einheitsebene—wo man sonst auf die schwere Kompanie des Bataillons oder Bogenfeuer der Brigadeartillerie angewiesen wäre. Würde man bspw. jeder Brigade nach ukrainischem Vorbild eine Angriffsdrohnenkompanie geben, würde das (in Relation zu den Kosten) die Kampfkraft und Flexibilität der Truppe spürbar stärken.
Drittens kann und wird man auf dieser Gliederung aufbauend Anpassungen vornehmen müssen, die die weitere politische Entwicklung in Osteuropa, die weitere Rüstung Russlands, und künftige taktische und technische Innovationen berücksichtigen.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Exakt deshalb gibt es ja die Politik. Die Politik ist genau dieses kostengünstigere Mittel um die Ziel des Krieges zu verwirklichen. Geschichtlich gesehen ist der ständige und allseitige Krieg seit der neolithischen Revolution der Naturzustand für die Menschheit. Erst im Laufe der Zeit und mit großer Mühe gelang es kostengünstigere Mittel wie beispielsweise die Politik zu implementieren und den Krieg langsam zurück zu drängen. Das gilt aber natürlich nur so lange, wie diese Fortsetzung des Kriegens mit anderen Mitteln kostengünstiger ist. Und das ist in die Zukunft gedacht keineswegs dauerhaft so.Eine ziemlich düstere Sichtweise, der ich so nicht zustimmen kann. Im Vorwort meiner 'Vom Kriege'-Ausgabe schreibt Sönke Neitzel, in der gesamten Menschheitsgeschichte habe es rund 12.000 bewaffnete Konflikte gegeben. Der Krieg ist in diesem Sinne ein Begleiter der Menschheit und eine Zukunft ohne Krieg wohl illusorisch—aber ein ständiger "Naturzustand"? Das bezweifle ich.
Im Übrigen dürfte es auch nicht korrekt sein, die Entstehungsgeschichte der Politik auf die bloße Verhinderung von Kriegen zu reduzieren. Das aus der Mode gekommene deutsche Synonym Staats(führungs)kunst kommt nicht von ungefähr. Die Politik, wie wir sie heute kennen, ist vor rund 5.000 Jahren im Fruchtbaren Halbmond aus dem Bestreben entstanden, eine Gesellschaft nach innen zu stabilisieren, um ihre Ressourcen effektiver nutzen zu können.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Anders herum: Der einzige Maßstab der Qualität der Politik ist es, ob sie anstelle der Kriegskunst das gleiche erreichen kann. Gewisse Machtgruppen haben Ziele, und die Politik dient nur dazu, diese kostengünstiger gegen andere Machtgruppen durchzusetzen. Und das sind keine anonymen abstrakten Entinitäten, dass sind immer ganz konkrete benennbare reale Personen und Strukturen. […] Weil die Kriegstauglichkeit die Befähigung zum Angriffskrieg mit beinhaltet. Denn entweder ist man vollumfänglich kriegstauglich, oder man ist es nicht. Beherrscht man nicht alle Möglichkeiten, ist man nicht vollumfänglich kriegstauglich.Diese Argumentation überzeugt mich nicht. Wenn der Krieg bloß Mittel zum Zweck ist und nicht abstrakter Selbstzweck, dann müsste sich Kriegstauglichkeit danach bemessen, ob das Mittel den Zweck herbeiführen kann. Wäre es nicht so, dann wären u.a. alle kleineren Staaten und alle Binnenstaaten ohne Marine nicht kriegstauglich, weil sie in der Wahl ihrer Mittel beschränkt sind.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Noch darüber hinaus erzeugt der Erstschlag immer strategische Vorteile. Auch das ist eines der wenigen allgemeinen strategischen Prinzipien. Ob dann im weiteren die Offensive oder die Defensive stärker sind, spielt dafür keine Rolle, dass wechselt je nach den Umständen. Trotzdem ist der Erstschlag für sich allein ein immenser militärischer Vorteil. […]Der Erstschlag lässt sich auch unter Beachtung des völkerrechtlichen Aggressionsverbots führen. Ein Präventivschlag kann durchaus gerechtfertigt sein, der Präemptivschlag unter gewissen Voraussetzungen ebenfalls.
Du wirst Dich vielleicht erinnern, dass ich im Zuge der israelischen Luftschläge gegen den Iran die herrschende Lehre im Völkerrecht so dargestellt habe, dass der Angriff vermutlich völkerrechtswidrig gewesen sei. Dies ergab sich aber aus der konkreten Konstellation insofern, als der Iran nach der Lage der Dinge nicht über die militärischen Möglichkeiten verfügte, um die von der israelischen Regierung behauptete Gefahr zu realisieren.
In der Konstellation NATO versus Russland könnten beide Seiten eine solche Gefahr jedoch binnen einer Viertelstunde realisieren, insofern wird sich die Frage nach der Legalität eines Erstschlages realiter kaum stellen.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Deshalb bin ich aber umgekehrt hier auch viel ergebnisoffener als du es meinen möchtest[.]Das habe ich mittlerweile schon verstanden. Wir sind jedoch völlig unterschiedlicher Auffassung, was die Realisierbarkeit des jeweiligen Ergebnisses anlangt, und vermutlich wird sich daran nichts ändern.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Ich bin beispielsweise gegen eine Wehrpflichtarmee, weil ich diese unter den aktuellen strategischen Umständen für schlechter halte als eine Berufsarmee (eine strategische Frage, wo es allgemeine Prinzipien gibt).Ich auch, nur sehe ich keine Alternative, um schnell mehr Personal zu rekrutieren.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Ich wäre aber zugleich genau so gut für eine Wehrpflichtarmee, in vollem Bewusstsein dass diese nicht so gut ist, vorausgesetzt man würde diese so schnell wie möglich und so radikal wie möglich aufstellen und einsatzfähig kriegen.In dieser Hinsicht bin ich der gleichen Meinung—wobei ich davon ausgehe, dass eine Wehrpflichtarmee im Fall der Fälle schneller aufzustellen wäre, als Du zu befürchten scheinst. Es ist dennoch ärgerlich und von großem Nachteil, dass das Ende der Aussetzung der Wehrpflicht aus politischen Gründen verschleppt wird. Was allerdings nichts daran ändert, dass ich keine Alternative sehe. Und wenn das "schwedische Modell" gegenüber dem Festhalten an einer reinen Berufsarmee uns pro Jahr netto 1.000 Soldaten mehr beschert, wäre das immer noch ein Vorteil, auf den ich nicht verzichten wollen würde.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Ich wäre daher sogar für eine Panzerarmee, wenn nur die grundsätzlichen strategischen Prinzipien darin ihre Anwendung finden würden. Das Problem sind also nicht die Panzer per se, sondern der fehlende strategische Kontext derselben und die mangelnde Geschwindigkeit und die Planlosigkeit.In dieser Hinsicht sind wir halt völlig unterschiedlicher Ansicht.
Insbesondere die behauptete Planlosigkeit vermag ich einfach nicht zu erkennen.
(16.07.2025, 09:25)Quintus Fabius schrieb: Beispielsweise die Ukrainische (bei all ihrer Unzulänglichkeit, die aber ja in Wahrheit ohnehin den Normalfall im Krieg darstellt). Beispielsweise die israelische Armee.Jetzt komme ich nicht mehr mit.
Beide Armeen kennzeichnet doch, dass nach wie vor eine bewegliche Kriegsführung mit mechanisierten Kräften angestrebt wird. Die Ukrainer sind dazu lediglich nicht mehr in der Lage.
Und insbesondere die ukrainische Armee erfüllt—übererfüllt—alle Kritikpunkte, die Du gegen die Bundeswehr anführst. Zuletzt hat das wieder eindrücklich der öffentliche Protest von Oleksandr Schyrschyn bewiesen (Kampfname Genie), eines landesweit bekannten Bataillonskommandeurs der 47. Mechanisierten Brigade, der im Mai auf Facebook unter gleichzeitiger Veröffentlichung seines Rücktrittsgesuchs eine Breitseite gegen den ukrainischen Generalstab abfeuerte.
Denn Generalstabschef Oleksandr Syrskyj hat (zugegebenermaßen teils durch die Umstände dazu gezwungen) praktisch alle Reformen seines Vorgängers Walerij Saluschnyj rückabgewickelt. Das ukrainische Heer ist wahrscheinlich mittlerweile "sowjetischer" als zu jedem anderen Zeitpunkt seit Kriegsbeginn.
Es leidet unter einer starr zentralisierten Führung, die auf allen strategischen, operativen und taktischen Hierarchie-Ebenen "hineinregiert", Eigeninitiative bestraft und schon mal Kompaniechefs direkte Befehle erteilt. Innovation findet bei den Ukrainern fast nur noch auf Einheitsebene und aus Eigeninitiative statt.