Türkei
Die heftigen Proteste in der Türkei nach der mit fadenscheinigen Begründungen vorgenommenen Verhaftung des (nach Umfragen durchaus aussichtsreichen) Kandidaten der CHP für das Präsidentenamt, İmamoğlu, halten an. Möglicherweise hat Erdogan mit dieser Vorgehensweise eine Grenze überschritten, was ihm selbst zum Nachteil gereichen wird. Bislang konnte er alle Probleme im Land und alle Kritik an seiner Herrschaft, angefangen bei der Teuerung im Land und aufgehört bei den Vorwürfen bzgl. Vetternwirtschaft und der Inhaftierung von Journalisten, immer wieder mit seinem Populismus und der Ablenkung auf andere Themen abfedern.

Ob ihm dies nach dieser allzu offensichtlichen Caudillismo-Aktion nochmals gelingt, muss indessen angezweifelt werden...
Zitat:Proteste in der Türkei

Erdoğans gewagtes Spiel

Der türkische Präsident hat seinen Hauptgegner hinter Gitter gebracht. Doch in seiner Zelle ist Ekrem İmamoğlu beliebter als je zuvor. Trägt der Protest bis zur nächsten Wahl? [...]

Auf dem Platz zwischen den beiden Gebäuden haben in den vergangenen Tagen Hunderttausende Istanbuler lautstark gegen die Inhaftierung des Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu demonstriert. Manche flohen vor den Tränengasschwaden in den Hof der Moschee. Dabei warfen sie offenbar zwei alte Grabsteine um. Andere kletterten auf die Mauer der Moschee, um Bier zu trinken und besser sehen zu können. [...]

Das war der Stoff, aus dem der türkische Präsident früher seine Wahlerfolge gestrickt hat: Die vermeintlich arroganten Kemalisten missachten den Islam, entweihen das Gotteshaus und blicken herab auf fromme Muslime, so die Erzählung. Polarisierung ist der Kitt, mit dem Recep Tayyip Erdoğan seine treue Anhängerschaft seit 2003 an sich bindet. Auch diesmal versucht er, das Thema auszuschlachten. Eine seiner Tiraden gipfelte in einem Angriff auf den Chef der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP): „Özgür Özel, eines Tages wird jemand dein Grab zerstören.“ [...]

In einer aktuellen Umfrage des Ankara-Instituts lehnen mehr als sechzig Prozent der Befragten die Festnahme İmamoğlus ab. Nur gut zwanzig Prozent äußern Zustimmung. Die sonst so aktiven Erdoğan-Trolle in den sozialen Medien halten sich zurück. Auch von den Abgeordneten der regierenden AK-Partei ist wenig zu hören. Ein früherer Abgeordneter wurde aus der Partei ausgeschlossen, weil er die Verhaftung des Präsidentschaftskandidaten der CHP als verfassungswidrig bezeichnet hatte. In der CHP gibt man sich zuversichtlich: „Auf den ersten Blick hat Erdoğan İmamoğlu geschwächt“, sagt der CHP-Abgeordnete Yüksel Taşkın. „Aber in Wirklichkeit hat er ihn in eine Position der moralischen Überlegenheit gebracht.“ Das sei auch eine Form der Macht. [...]

„Die Entscheidung wird unpopulär bleiben“, sagt der Politikwissenschaftler Berk Esen von der Sabancı-Universität. „Klar ist, dass Erdoğan keinen anderen Ausweg sah.“ Seit 2003 hat er seine Legitimität aus Wahlen bezogen. Über die Jahre wurden sie zwar immer unfairer. Aber die Opposition glaubte bis zuletzt, sie gewinnen zu können. Nun muss der Präsident selbst zu dem Schluss gekommen sein, dass sein stärkster politischer Rivale, Ekrem İmamoğlu, ihn beim nächsten Mal schlagen könnte. So sagen es seit Monaten die Meinungsumfragen voraus.
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausl...86005.html

Schneemann
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema

Gehe zu: