12.11.2024, 08:42
(11.11.2024, 08:36)Quintus Fabius schrieb: Die russischen Streitkräfte sind schlussendlich von ihrer menschlichen Befähigung her degeneriert. Die teilweise bizarre Inkompetenz russischer Offiziere bringt ja in Russland zunehmend nicht nur die Z-Blogger und Ultranationalisten zum schäumen, die russische Gesellschaft insgesamt beginnt allmählich zu murren diesbezüglich. Russen sind extrem schwer in Gang zu bringen, aber keine russische Regierung überlebt es (wortwörtlich!), sollte es dazu kommen. Entsprechend steht die russische Regierung unter immensen Druck aus dem Krieg in der Ukraine irgendwie einen Sieg konstruieren zu können. Alles andere würde ihr nacktes Überleben in Frage stellen.Exzellente Analyse.
Und gerade eben deshalb strampelt man sich dermaßen in der Ukraine ab. Da gibt es keine elaborierten Pläne im Hintergrund, irgendwelche verdeckten Zielsetzungen, man hat sich selbst in eine untragbare Situation manövriert und steckt in einer Zwickmühle fest, dass Bild mit dem Watt ist da gar nicht so schlecht.
Hinter allem steckt da der tiefenpsychologisch ganz tief im Hintergrund verankerte Glaube, dass der Zar von Gott gesandt wurde, und damit sein Wille derjenige Gottes sei. Das trifft selbst für die Russen zu, welche Nihilisten sind. Entsprechend kann es sich kein Zar leisten, wenn das Volk den Eindruck gewinnt, er handle gegen den Willen Gottes bzw. dieser habe ihm das Mandat des Himmels entzogen. Das würde auch ein Putin nicht überleben, wortwörtlich.
Deshalb wird man alles versuchen, den Sieg in der Ukraine zu erzwingen. Koste es was es wolle.
(11.11.2024, 11:16)Pogu schrieb: Meiner Einschätzung nach bleibt die Umsetzung der sehr wohl vorhandenen russischen Strategie schlichtweg hinter den ursprünglichen Planungen zurück.Das schließt aber nicht aus, dass die Strategie dilettantisch formuliert und ungenügend ausgearbeitet war.
(11.11.2024, 11:16)Pogu schrieb: Was wir beobachten, ist nicht das Ergebnis gezielter Vorbereitung, sondern einfach das, was nach dem Herausfiltern zahlreicher Fehlentscheidungen und unzureichender Umsetzungen übrig geblieben ist. Salopp gesagt: Die Ukraine hat Gegner, die den eigenen Plänen nicht folgen können.Zustimmung.
(11.11.2024, 12:36)Quintus Fabius schrieb: Das klingt nun vielleicht danach, den Russen Zugeständnisse zu machen, aber das ist damit nicht gemeint und zöge natürlich ebenso andere Nachteile und Problemstellungen nach sich. Und etwaig könnte man die Russen auch auf andere Weise dazu bringen auszusteigen und ihnen die Möglichkeit dafür bieten, dass ginge nämlich auch auf andere Art als nur mit Zugeständnissen, beispielsweise durch eine sofortige massive Ausweitung der Waffenlieferungen an die Ukraine - ABER:Man wird Zugeständnisse machen müssen, das ist angesichts der militärische Lage (ein Sieg über Russland ist unwahrscheinlich) nur natürlich und auch keineswegs verwerflich. Das Problem scheint mir anderswo zu liegen. Eine einzige Zielsetzung kann Zugeständnisse logisch und/oder moralisch rechtfertigen, nämlich die Schaffung einer tragfähigen Nachkriegsordnung, die ein Wiederaufflammen des Krieges möglichst unwahrscheinlich macht.
Egal welchen Ausweg man für die Russen aus der strategischen Falle baut, dieser müsste halt mit ihnen abgesprochen werden, idealerweise auf dem Wege der Geheimdiplomatie. Man müsse dies gemeinsam koordinieren um diese Misere aufzulösen.
Doch nur ein Bruchteil derjenigen politischen Akteure im Westen, die Zugeständnisse verlangen, zeigt meiner Wahrnehmung nach Anzeichen für diese Zielsetzung – was häufig schon aus ihrer Weigerung erhellt, eine solche Ordnung überhaupt zu skizzieren oder ein Bekenntnis abzugeben, sie gegen einen möglichen Wortbruch einer der Kriegsparteien aufrechtzuerhalten.
Den meisten geht es nur darum, sich den Kostenfaktor Ukraine vom Halse zu schaffen. Viele wollen zum wirtschaftlichen oder politischen status quo ante zurückkehren. Und erschreckend viele hegen unverhohlen den Wunsch, einer Weltsicht Geltung zu verschaffen, die die Schuld für die Eskalation diesseits des Dnjepr sucht.
Selbst wenn man aus irgendeinem Grund nicht die Ansicht einnehmen will, die Ukrainer hätten Besseres verdient, sollte man sich diesen Leuten schon deshalb entgegenstellen, weil sie fahrlässig hoch drei sind. Wer meint, eine Friedensordnung wäre tragfähig, deren Errichtung von Russland keine weiteren Zugeständnisse als die Einstellung der Kampfhandlungen verlangt, ist bestenfalls entsetzlich naiv.
(11.11.2024, 13:55)Pogu schrieb: Ziemlich viele implizite Vorannahmen in dem Text.@Quintus geht weiter unten darauf ein, es wäre überflüssig von mir, überall meinen Senf dazuzugeben, darum nur ein paar kurze Anmerkungen:
(11.11.2024, 13:55)Pogu schrieb: • Es wird als gegeben angenommen, daß das primäre Ziel Russlands die Beeinflussung des Willens der Ukrainer ist und dass dies das zentrale Motiv der russischen Strategie darstellt.So habe ich @Quintus nicht verstanden. Ich hatte ihn so verstanden, dass dies das Mittel der Wahl sei.
(11.11.2024, 13:55)Pogu schrieb: • Es wird als gegeben angenommen, daß Russlands Strategie zur Zielerreichung scheitert und Russland seine Ziele bisher nicht erreicht hat.Ich sehe nicht, wie man das als bloße Annahme charakterisieren könnte, angesichts der militärischen Topographie im April 2022. Russland war damals drauf und dran, den Krieg zu gewinnen. Die Russen waren schon mal weiter als heute, also kann das Heute kaum ihrer Zielsetzung entsprechen.
(11.11.2024, 13:55)Pogu schrieb: • Es wird als gegeben angenommen, daß Russland seine Ziele nicht erreichen kann, weil es ihm an den nötigen Mitteln und Ressourcen fehlt.Angesichts der operativen Lage ist das zumindest der nächstliegende Schluss. Es spricht zu viel für ein Nicht-Können und zu wenig für ein Nicht-Wollen.
Es spricht sogar einiges gegen ein Nicht-Wollen.
(11.11.2024, 13:55)Pogu schrieb: • Es wird unterstellt, daß Russland seine strategischen Ziele nicht aufgeben kann, weil dies als „Gesichtsverlust“ gesehen würde, und daß es demnach in einer „strategischen Falle“ gefangen sei.Ist das denn nur eine Unterstellung? Ist es denn nicht vielmehr die Wahrheit?
Der Kreml hat rhetorisch fast alle Brücken hinter sich abgerissen. Ist auf eine Palme geklettert, von der man kaum mehr herunterkommt. Zumindest der nicht-erzwungene Verzicht auf die russischen Kernforderungen hätte eigentlich keine historischen Parallelen. Keine, die mir einfallen würden.
Würde Putin seine Kernforderungen freiwillig aufgeben, wäre das so, als wenn Hitler 1941 sich umentschieden und verkündet hätte: "Vergessen wir das mit dem 'Lebensraum im Osten', Deutschland ist auch ganz nett." Es wäre die Infragestellung der eigenen Person, des eigenen Programms, des eigenen Vermächtnisses, und der sichere Weg zur eigenen Entmachtung.
(11.11.2024, 13:55)Pogu schrieb: • Es wird als gegeben angenommen, daß das wichtigste strategische Ziel des russischen Regimes dessen eigener Machterhalt ist.Wie könnte es anders sein?
Ein Mann, der ein bestätigtes Vermögen von $6 Mrd. und ein vermutetes von $40 Mrd. hat sowie Paläste in ganz Russland besitzt, ist kein Mann, der von der Macht lassen will.
(11.11.2024, 13:55)Pogu schrieb: • Es wird damit gerechnet, daß Putins geistiger Zustand und seine Fähigkeit zur Realitätswahrnehmung beeinträchtigt sind.Weil es gewisse Anhaltspunkte dafür gibt.
Die Entscheidung zur Invasion war einer der größten Patzer der jüngeren Geschichte und basierte auf Prozessen, die allermindestens auf einen pathologischen Charakter hinweisen. Es ist ja mittlerweile hinreichend bekannt, dass der FSB Putin die "Erkenntnisse" vorgesetzt hat, die Putin vorgesetzt haben wollte.
Dieser Mann ist kurz davor, ein zweiter Breschnew zu werden, für den sie damals eine eigene 'Prawda' drucken mussten.
(11.11.2024, 13:55)Pogu schrieb: • Es wird damit gerechnet, daß Putins Tod eine Lösung darstellt.Die Chance besteht immerhin.
Zwar sind jene auf dem Holzweg, die das Mantra von "Putins Krieg" wiederkäuen; es ist der Krieg aller Russen. Denn keine Regierung, mag sie noch so totalitär sein, kann auf Dauer gegen den Willen ihrer Bevölkerung Krieg führen; und ohnehin gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Mehrheit der Russen den Krieg wirklich ablehnen würde.
Andererseits ist Putins Macht mittlerweile so groß, dass er von niemandem mehr offen infrage gestellt wird; der letzte, der das versuchte, hat sich mit seinem Privatjet in einen Acker gebohrt. Es wäre jedenfalls möglich, dass Putins Tod Türen öffnet, die aus Furcht vor ihm verschlossen bleiben mussten.
(11.11.2024, 18:38)Pogu schrieb: Wir sehen alle, daß Russland bereit ist, militärische Gewalt einzusetzen. Gleichzeitig ist bemerkenswert, daß wesentliche Ressourcen dennoch zurückhaltend eingesetzt wurden, wie etwa die Luftwaffe, eine umfassende Mobilisierung oder sogar taktische Atomwaffen.Ist das nicht bereits teilweise eine unbewiesene Vorannahme?
Richtig, Atomwaffen wurden nicht eingesetzt, und es wird auf die allgemeine Mobilmachung verzichtet – aber von einem zurückhaltenden Kräfteeinsatz vermag ich nicht viel zu erkennen. Wenigstens die Landstreitkräfte werden rücksichtslos verheizt. Allein die bildlich bestätigten Materialverluste der Russen bewegen sich in einer Größenordnung von einem Bataillon pro Tag.
Ich gehe davon aus, dass es keine großen Reserven ausgeruhter, gut ausgestatteter Kräfte gibt. Gäbe es diese Kräfte, hätte man die Ukrainer nämlich längst mit ihrer Hilfe aus der Oblast Kursk vertrieben und die peinliche Scharte ausgewetzt. Denn dass die Ukrainer in Kursk einfallen konnten und die Bewohner teils wochenlang (manche bis heute) auf Hilfe warten mussten, um dann mit 400 Rubel "Nothilfe" abgespeist zu werden, hat Putins Reputation erstmals einen ernsten Schlag versetzt.
Was man daran merken konnte, wie sehr der allgegenwärtige und allmächtige Kümmerer, als der er sonst erscheinen will, bestrebt war, nicht mit Kursk in Verbindung gebracht zu werden. Gouverneur Smirnow und Generalstabschef Gerassimow durften es ausbaden, Putin beschränkte sich darauf, die Rückeroberung bis zum 1. Oktober zu fordern.
(11.11.2024, 18:38)Pogu schrieb: Dieses Verhalten wirft doch die Frage auf, was das primäre Ziel ist – offenbar könnte das primäre Ziel nicht allein die Ukraine sein, sondern vielmehr eine Entität wie die NATO oder „der Westen.“Weitreichendere geopolitische Ziele wären in der Tat eine mögliche Erklärung. Doch mir erscheint das zu weit ausgeholt.
Mal abgesehen davon, dass ich wirklich nicht erkennen kann, wo Russland denn noch große Reserven in petto hätte, erinnere ich an das Balkendiagramm weiter oben. Die Russen mussten für in der Gesamtbetrachtung geringfügige Geländegewinne einen irrsinnig hohen Preis bezahlen. Allein die vollständige Eroberung der formell annektierten Gebiete könnte ohne Mobilmachung schon unmöglich sein.
Milchmädchenrechnung:
Mediazona meldet, dass die russischen Verluste seit August gut 250 Gefallene pro Tag betragen. [Ich erinnere daran, dass die Güte ihrer Schätzungen anhand geleakter Dokumente verifiziert werden konnte.] Im Monat Oktober wären das also 250 × 31 = 7.750 Tote, gegenüber einem Geländegewinn von 480 km².
Derzeit kontrolliert Russland rund 18% bzw. etwa 108.654 km² des ukrainischen Territoriums. Das Gebiet, dessen Abtretung verlangt wird, ist aber größer: Mykolajiw mit 24.598 km², Donetsk mit 26.517 km², Luhansk mit 26.684 km², Saporischschja mit 27.180 km², Cherson mit 28.461 km² = 133.440 km².
Es müssen also noch 133.400km² – 108.654km² = 24.746 km² erobert werden, um das Minimalziel zu erreichen.
Zur Erinnerung: Rechnerische 7.750 Gefallene entsprachen im Oktober 480 km².
Gehen wir einfach mal davon aus, dass der Krieg mit der gleichen Intensität und mit dem gleichen Tempo wie bisher weitergeht.
Teilt man 7.750 durch 480, kommt man auf 16,14. Das sind 16 Gefallene pro Quadratkilometer. Für 24.746 km² müsste Russland also mit Stand heute fast 400.000 Gefallene erwarten.
Wie gesagt, das ist nur eine Milchmädchenrechnung – die zudem sogar dann, wenn diese Zahlen den genauen Werten entsprechen sollten, schon morgen hinfällig werden könnte (z.B. durch den Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigung). Dennoch zeigt sie meines Erachtens, dass sogar der sogenannte "schonende" Ressourceneinsatz die russische Manpower erschöpfen muss, wenn man sich wirklich nur darauf verlassen sollte, die Ukrainer langsam auszubluten.
Das kann so nicht funktionieren.
Man muss entweder einen Durchbruch erzielen, der die Front aufrollt, oder die Rahmenbedingungen so verändern, dass die Ukrainer die Gebiete kampflos räumen.
(11.11.2024, 18:38)Pogu schrieb: Russlands real erkennbare Taktik deutet darauf hin, daß Ressourcen bewußt geschont werden, was gleichermaßen mit einem strategischen Kalkül oder dem Bewußtsein, diese Mittel nicht zwingend einsetzen zu müssen (dem Umstand, daß Russland es sich schlichtweg leisten kann), erklärt werden könnte.Die Führung dieses Krieges füllt die Habenseite der russischen Regierung mit jedem Tag mehr. Von den menschlichen Kosten ganz abgesehen, bergen die vielfältigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verbindlichkeiten das Risiko der Destabilisierung. Mindestens einmal wird es für die Regierung schwieriger, das Land zu beherrschen, doch prinzipiell ist es auch denkbar, dass ihr eines Tages die Herrschaft entgleitet; 1917 und 1991 lassen grüßen. Soweit, so unstreitig.
Es muss also nach dem Motiv gesucht werden, dem in Aussicht stehenden Gewinn, der das Eingehen dieses Risikos rechtfertigt.
Weitreichendere geopolitische Ziele wären eine etwas glaubwürdigere Erklärung als der schon an anderer Stelle vorgeschlagene soziale Umbau. Ich halte aber auch das nicht für sonderlich überzeugend.
Gehen wir mal davon aus, dass Russland Kräfte aufspart, um für eine erwartete künftige Konfrontation (bspw. mit der NATO) gewappnet zu sein – auch wenn das heißt, den Krieg in die Länge zu ziehen. Doch den Krieg in die Länge zu ziehen, heißt auch, dem künftigen Rivalen mehr Zeit für seine Vorbereitungen zu geben.
Kann Russland das wirklich wollen?