11.11.2024, 00:44
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Girkin kommt mir wie der notorische Querulant vor den es in nahezu jedem Verein gibt, der überall dabei sein will aber eigentlich will ihn keiner dabei haben.Girkin ist der Darling des "Clubs der Patrioten". Ihn als Außenseiter darzustellen geht schlicht an der Realität vorbei. Falls Du Zugriff auf russische soziale Medien hast, such' einfach mal, wie oft sich Inhalte um Girkin drehen.
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Girkins Strategie dreht sich nur um einen möglichst schnellen Sieg in der Ukraine, egal mit welchen Mitteln.Stimmt. Und er ignoriert die politischen Implikationen, bzw. hält sie für beherrschbar.
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Die Strategie Putins ist wesentlich längerfristiger angelegt. Er will die komplette Abkehr vom Westen und ein Ende des westlichen Einflusses auf die russische Gesellschaft. Um dies zu erreichen kann sich der Krieg aus Sicht der russ. Regierung ruhig in die Länge ziehen.Was Du hier betreibst, ist 4D-Schach-Theoretisieren.
Putin hat diesen Krieg nicht mit einer Grand Strategy begonnen. Er hat diesen Krieg im Vertrauen auf Patruschews Geheimdienstinformationen begonnen, die ihm versichert haben, dass die Mehrheit der Ukrainer die russischen Invasionstruppen als Befreier begrüßen und die ganze Sache binnen weniger Tage abgetan wäre.
Er hat sich ins Watt begeben, ist eingesunken und strampelt nun umso mehr, desto höher die Flut steigt.
Mehr ist da nicht.
Ja, Putin will die Entflechtung Russlands vom Westen, er will eine neue multipolare Weltordnung, das ist richtig; aber wie @Quintus Fabius weiter unten richtig zu bedenken gibt, der Krieg ist dazu nicht erforderlich. Dies wäre zu wesentlich geringeren Kosten möglich, und vor allem, ohne Russland zu einem bloßen Satelliten Chinas zu machen.
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Nein, die Personaldecke reicht um den Krieg mit der aktuellen Intensität weiter zu führen.Der Sturm auf Pokrowsk musste gestoppt werden, im Sektor Charkiw geht gerade der Stepping Stone Woltschansk verloren, und Kursk ist aktuell ein Nullsummenspiel.
Und Du bist also der Ansicht, dass dies dem russischen Willen entspricht und nicht auf Personalmangel hindeutet? Mutige These. Auf strategischer und operativer Ebene ist Russland nicht zur Initiative fähig. Die Vorstellung, dass Putin gar nicht Initiative zeigen will, ist wieder bloß Glaube an 4D-Schach.
Ockhams Rasiermesser besagt: Von allen denkbaren Erklärung ist wahrscheinlich diejenige zutreffend, die mit der geringsten Anzahl an unbeweisbaren Annahmen auskommt. Und Hanlons Rasiermesser besagt: Glaube niemals an Vorsatz, wenn Inkompetenz als Erklärung ausreicht.
Girkins Hypothese besteht den Test, Deine nicht.
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Dein Fehler ist dass Du die westliche Sichtweise auf die russ. Gesellschaft überträgst. Kriminelle an die Front zu schicken und so auch noch die Gefängnisse zu leeren bzw. zu entlasten ist aus russ. Sicht eine doppelte Problemlösung während es aus westlicher Sicht ein NoGo ist.Nein, das tue ich nicht. Du ignorierst schon einmal, dass ich eine dediziert russische Sichtweise wiedergegeben habe, wenngleich die der Nationalisten.
Übrigens habe ich mehrfach in diesem Faden selbst anhand russischer Quellen auf das soziale Ungleichgewicht beim Schultern der Kriegsfolgen hingewiesen, und darauf, dass die russische Elite diesem Ungleichgewicht viel abgewinnen kann. Aber es ist schon überaus abenteuerlich, aus einem angenehmen "Nebeneffekt" eine Handlungsmaxime ableiten zu wollen. Zumal in einer Zeit, wenn 7% des russischen Wirtschaftsvolumens bereits für Prämienzahlungen an Leute draufgehen, die man angeblich nur schnellstmöglich verheizen will.
Russland trägt seine Angriffe nicht etwa deshalb nur auf Kompanieebene und mit Tagelöhnern aus Dagestan vor, weil es gar nicht auf Verbandsebene mit Kräften mit höherem Einsatzwert angreifen wollte. Was die Russen wollen, kann man weiter oben von Alexander Borodai hören: Die "Deplorables" sitzen in den russischen Gräben und dienen dazu, dass die Ukrainer sich an ihnen verausgaben. Dann führt man mit frischen Kräften höherer Qualität den Gegenstoß und wirft die Ukrainer.
In Pokrowsk hat man genau das versucht und dort einige besten russischen Verbände konzentriert. Und im September hat man erkannt, dass es nicht klappt, und ist deswegen nordwärts und südwärts ausgewichen, v.a. auf das weniger gut verteidigte Wuhledar. Um es ganz klar zu sagen: Die Russen versuchen durchaus, jenseits der bloßen taktischen Ebene entscheidende Erfolge zu erringen, und beschränken sich nicht darauf, Kanonenfutter zu verbrennen. Es fehlen ihnen aber ganz einfach die Mittel.
Es fehlt ihnen das Personal, und es fehlt ihnen der geschützte Transportraum.
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Nur weil man Söldner aus Nordkorea und Afrika holt heißt dass nicht zwangsläufig dass man zwingend auf sie angewiesen ist. Man nimmt diese Möglichkeiten halt mit. Wäre ja auch dumm darauf zu verzichten.Ja nee, is' klar. Warum billig, wenn es auch teuer geht? Warum eigene Stärke beweisen, wenn man sich auf der internationalen Bühne blamieren kann?
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Dass man spezialisiertes Personal an der Front verheizt mag es in einer bestimmten Phase des Krieges durchaus gegeben haben, meines Erachtens ist das aber kein Standardvorgehen.Diese "Phase" dauert bereits ein halbes Jahr.
Ganz abgesehen davon, dass die Berichte der Z-Blogger voll von Hinweisen darauf sind, dass Kampf- und Einsatzunterstützer wie Artilleristen, Nachschieber und sogar Sanitäter immer wieder mal als Infanteristen verheizt werden, kämpfen aktuell im Raum Kursk ganz offiziell das 1. Regiment der Strategischen Raketentruppen (Quelle) und das 1. Schützenregiment der Luftstreitkräfte (Quelle) als infanteristische Verbände.
In Sektor Pokrowsk hingegen wird das Selbständige Bataillon "Fregat" eingesetzt, das aus Matrosen des Flugzeugträgers Admiral Kusnezow besteht. (Quelle)
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Wo und wann wollen Soldaten von der Front nicht einfach nur heim wenn sie die Wahl hätten?Die Mobilisierten von 2022 sitzen seit zwei Jahren in der Ukraine und verbreiten täglich zu dutzenden ihre Erfahrungsberichte, ich zitiere mich mal selbst:
Zitat:Der Z-Blogger 'Vault8', seit nun fast zwei Jahren in der Ukraine, schreibt: "Die psychologische Marke von zwei Jahren ist bald erreicht. Und die Jungs stecken mitten in einer akuten Krise", weil sie "jedes Interesse am Krieg verloren haben". Es herrsche "Müdigkeit, wegen der Aneinanderreihung großer Ungerechtigkeiten". Es sei "schwer, sich selbst zu erklären, was man im Krieg tun soll, wenn man zwei Jahre lang viele Freunde verloren hat, viel Scheiße gesehen hat, und sich kaum jemand für dich interessiert". Auch die Familien würden unruhig, die Ehefrauen der Männer könnten so nicht leben. Selbst die Kontraktniki dächten so, die Verträge auf sechs Monate geschlossen hätten und dann einfach vergessen worden seien. Er schließt, dass "das soziale Experiment, das feudale Prinzip des Wehrersatzes durch einmalige Rekrutierung" sicherzustellen, "schreckliche Kosten" verursache. "In erster Linie ist das Ergebnis des Experiments die massenhafte Erkenntnis, dass es Bullshit ist." (Quelle)Aber vermutlich wirst Du jetzt einen Grund dafür finden, warum der Eintrag solcher Meinungen in die russische Gesellschaft gar keine Hypothek darstellt, die sich aufzuladen der Kreml unbedingt vermeiden müsste …
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Außerdem schafft es Rußland auf freiwilliger Basis aktuell nicht nur den Ersatz sondern den Aufwuchs zu gewährleisten, wenn auch in relativ kleinen Schritten. Es gibt immer noch genug die sich mit den angebotenen Geldern locken lassen.Du ignorierst beharrlich alle Anzeichen, die dagegen sprechen, was im Übrigen Girkins Hauptargument und der Grund dafür ist, dass er die Mobilisierung fordert.
Allein schon die Tatsache, dass der Verpflichtungsbonus im landesweiten Durchschnitt in den vergangenen achtzehn Monaten von ₽220.000 auf ₽3 Mio. angehoben wurde, ist ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass sich immer weniger Männer für Geld anwerben lassen, sonst müsste man nicht mit immer mehr Geld locken.
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Aber im Westen will man nicht erkennen dass der Plan derweil wesentlich weiter gefasst wurde, als noch zu Anfang des Krieges.Offenbar wollen auch Girkin, der "Club der Patrioten", die Z-Blogger und die halbe russische Armee das nicht erkennen?
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Man nutzt jetzt den Krieg und will ihn gar nicht mehr schnell beenden.Wieder dieser unbedingte Glaube an 4D-Schach.