Geschichte und Ethnogenese der Juden
#26
(18.10.2024, 00:08)Broensen schrieb: Okay, der weit gefassten Definition von "Ethnie" nach, ist das wohl richtig. Aber nach der alten, enger gefassten Vorstellung von "Rasse" eher nicht.
Volk und Rasse sind sehr unterschiedliche Konzepte. Bei der Definition von Völkern auf Rassentheorien abstellen zu wollen ist eine überkommene Idee noch aus dem 19. Jahrhundert, die sich mit dem Ende des Nationalsozialismus dankenswerterweise aus der Geschichte verabschiedet hat.

Ich glaube auch nicht, dass wir darüber ausholend darüber diskutieren müssen und schon garnicht in diesem Thread. Deshalb kurz und auf den Punkt:
Die Aufspaltung der Menschheit nach Völkern ist um ein bis zwei Größenordnungen engmaschiger als es eine wie auch immer geartete Einteilung der Menschen in Großgruppen im auffälligen genetischen Verwandtschaften je sein könnte.
Im Bezug auf das jüdische Volk bedeutet das, dass eine recht enge genetische Verwandtschaft zwischen den jüdischen Subgruppen Ashkenazi, Sephradi und Mizrahi nachweisbar ist und sich dieses gemeinsame genetische Erbe geographisch auf die Levante und den Nahen Osten eingrenzen lässt. Diese genetische Erbe teilen sich die Juden jedoch mit allen anderen Völkern und Volksgruppen dieses Großraums.

Siehe hierzu auch Beitrag #978

Zitat:Nichtsdestotrotz halte ich es für problematisch, ein Volk mit der gleichen Bezeichnung wie eine Religionsgemeinschaft zu benennen. Das kann aber natürlich auch mit meiner starken Abneigung gegenüber organisierten Religionen und deren Einfluss auf Staaten zu tun haben.
Für mich definiert sich eine Jude anhand seiner Religion, ein Israeli anhand seiner Nationalität. Historisch begründet gibt es natürlich auch das Volk Israel. Alle drei sind aber mMn für sich zu betrachten, insofern wäre der Begriff Rassismus nur dann angebracht, wenn er sich gegen die letztgenannte Gruppe richtet, in den anderen beiden Fällen sind es andere -nicht weniger verwerfliche- Formen der Diskriminierung.
Private Befindlichkeiten ändern halt wenig an etablierten wissenschaftlichen Standpunkten.

Versuchen wir mal die Begrifflichkeiten sauber voneinander zu trennen:

Religion: Konzentriert sich auf gemeinsame spirituelle Überzeugungen, Regeln, Mythen, Rituale und bietet meistens allen interessierten Menschen ungeachtet seiner Herkunft und sonstigen Gruppenzugehörigkeiten einen Zugang.
Ethnie: Bildet durch tatsächliche oder wahrgenommene gemeinsame Abstammung, Geschichte, Kultur, Sprache, Heimstatt, Religion oder Tradition eine homogene Einheit und grenzt sich von anderen Gruppen ab. Die Zugehörigkeit wird vererbt und kann in der Wahrnehmung oft anders als bei Religionszugehörigkeiten nicht aufgekündigt werden.
Volk: Eine kohäsive Gruppe, die oft eine gemeinsame, aber nicht notwendigerweise ethnienbezogene Identität mit (potenziellen) politischen Bestrebungen verbindet. Der Wunsch der Gruppe nach Selbstbestimmung oder Autonomie ist zentral und basierend zumeist auf spezifischen territorialen Ansprüchen.
Nation: Umgesetzte, organisierte und gelebte politische und kulturelle Einheit, besitzt bzw strebt nach einem souveränen Staat oder Selbstverwaltung.

Bezogen auf die Juden heißt das:

Religion: Das Judentum ist eine monotheistische Religion mit gemeinsamen identitätsstiftenden geistigen Überzeugungen, heiligen Texten, Ritualen und Geboten. Das Judentum ist die religiöse Grundlage des jüdischen Volkes, steht aber potentiell allen interessierten Menschen offen.
Ethnische Gruppe: Juden sind als Anhänger des Judentums als ethnoreligiöse Gruppen zu verstehen. Sie haben über den gemeinsamen Glauben hinaus eine über Jahrtausende zurückverfolgbare Geschichte und daraus resultierende Abstammung, gemeinsame Sprachen, gemeinsame Heimstatt, gemeinsame Kultur. Entscheidend - Juden verstehen sich als Juden ohne zwingend religiös sein zu müssen. Die Juden wären auch dann eine Ethnie, wenn sie dem Jawheglauben kollektiv entsagt hätten.
Volk: Die Juden sind nur nur eine Ehtnoreligöse Gruppen, sondern haben auch ein (mittlerweile wieder,n beginnend im 19. Jahrhundert) starkes kollektives Bewusstsein mit klaren politische Bestrebungen, im Hinblick auf Souveränität und Selbstbestimmung. Man begreift sich als ein Volk mit einer gemeinsamen Geschichten mit einem eigenen Land - unabhängig davon ob man in Israel oder der Diaspora lebt.
Nation: Mit den Unabhängigkeitsbestrebungen in der jüdischen Heimat und kuliminierend in der Gründung des Staates Israel 1948 bildet das jüdische Volk wieder eine Nation, die sowohl politische Souveränität als auch eine kulturelle Einheit verkörpert. Israel repräsentiert so die nationale Identität des jüdischen Volkes, wobei die jüdische Nation über den Staat hinausgeht und auch in der Diaspora eine kollektive Identität bewahrt.

Insofern, vielleicht wäre es einfacher die hätten ihren Laden damals Judäa anstatt Israel genannt? Springender Punkt jedenfalls: Ein direkter Sprung von Religion zu Nation gibt es nicht. Das geht auch bei Juden nur über die Ausprägung der Gruppenidentifikation als Ethnie und Volk.

Zitat: Dem kann ich nun wirklich nicht folgen. Rassismus ist doch gerade dann gegeben, wenn jemand aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Rasse, Ethnie oder einem Volk ausgegrenzt, benachteiligt oder auch mehr wird. Wenn nun aber die Existenz einer solchen Rasse/Ethnie/Volk negiert wird, dann kann das doch dementsprechend gar nicht Rassismus sein.
Ich glaube du scheiterst daran, dass du diverse Begrifflichkeiten für dich viel enger definierst als sie es tatsächlich sind.

Rassismus ist eine Weltanschauung, die Menschen aufgrund ihrer angenommenen "Rasse" oder ethnischen Herkunft diskriminiert, herabsetzt oder ungleich behandelt.

Die Leugnung der Existenz der Juden als ethnische Gruppe beraubt die Juden ihrer über die Religion hinausgehende oben beschriebene gemeinsame kollektive Identität und hat zum Ziel die legitimen Ansprüche des jüdischen Volkes gegenüber den durchaus auch legitimen Ansprüchen anderer Ethnien zu marginalisieren und zu unterdrücken.
Die Verweigerung des universalen (!) und unveräußerlichen (!) Rechts auf Anerkennung als zusammengehörige Gruppe ist eine Form der Entmenschlichung, mithin Rassismus. Und steht in bester Tradition der jahrhundertelangen historischen Diskriminierung des jüdischen Volkes.

Aber ich baue dir eine Brücke: Nenne es ethnische Diskriminierung. Per Definition schlicht eine Unterform des Rassismus.

Zitat: Nur für die Akten: Das ist nicht meine Position, mir ging es nur darum, dass ich Rassismus für den falschen Begriff halte, wenn es um die Diskriminierung von Juden geht, da diese zumindest in meiner Wahrnehmung eben keine "Rasse"/Ethnie darstellen, sondern eine Religionsgemeinschaft. Das ist für mich aber eine rein nomenklatorische Frage ohne Wertung. Keinesfalls möchte ich daraus irgendwelche Schlussfolgerungen ableiten, es geht mir ausschließlich um die Begrifflichkeiten.
Ich glaube der Eindruck ist auch nicht entstanden.

Erich schrieb:mit dieser Argumentation akzeptierst oder unterstützt Du argumentativ die Annexion der Krim und der Ostukraine mit Donezk und Luhansk durch Russland, und öffnest erneut den Weg für territoriale Eroberungskriege, die eigentlich seit dem 2. Weltkrieg und der Nachkriegsordnung auch völkerrechtlich "abgeschafft" sein sollte
Die Aneignung von Territorium im Offensivkriegen ist unzulässig. Die Annektierung in Verteidigungskriegen ist komplexer und prinzipiell möglich.

Zitat: Wer in Ostjerusalem leben darf sind die Bewohner von 1967 und deren Abkömmlinge, und ob weitere Personen zuziehen können ist alleine Sache einer palästinensischen Selbstverwaltung und nicht Angelegenheit einer Besatzungsmacht.
Nein. Die Besatzungsmacht hat die Verwaltung übernommen. Das ist ja geradezu das Wesen einer Besatzungsmacht.
Eine palästinensische Selbstverwaltung existiert nicht, hat nie existiert und war zu keinen Zeitpunkt vor der jordanischen und später israelischen Besatzung ein Thema.
Wenn überhaupt war mal angedacht Jerusalem zur freien Stadt zu machen, eine Idee die aber keine Konfliktpartei je akzeptiert hat.
Faktisch ging die Herrschaft und Verwaltung Jerusalems nach dem Fall des osmanischen Reiches und dem Ende der britischen Mandatszeit im Westteil auf den Staat Israel und im Osten auf Jordanien als Besatzungsregime über. Nach der Eroberung der Westbank 1967 ging die jordanische Besatzung in eine israelische über und die zwanzigjährige Teilung der Stadt wurde aufgehoben.
Seither wird die Jerusalemer Stadtverwaltung in freien und demokratischen Kommunalwahlen durch alle Bewohner der Stadt bestimmt. Die Stadtverwaltung ist dann selbstverständlich uneingeschränkt berechtigt ihre Stadt fortzuentwickeln, Wachstum und Zuzug in die Stadt zu ermöglichen.

Die Idee man könne eine Stadtentwicklung anhand eines willkürlichen Frontverlaufs von vor 70 Jahren festschreiben und alle kriegsbedingten faktischen Änderungen ignorieren ist geradezu absurd und wäre in der politischen Forderung, dass keine Juden (nicht mal Israelis!) nach Ostjerusalem ziehen dürfen, offener Rassismus.

Jerusalem mag frei, getrennt, besetzt, vereinigt, annektiert, unabhängig, von Marsmenschen kontrolliert oder sonst irgendetwas sein, der Status der Stadt gestern, heute oder morgen kann in keinster Weise Auswirkungen auf das unveräußerliche Recht einer ethnischen Gruppe in ihrer jahrtausendealten Heimstatt zu leben. Zwischenstaatliche Territorialstreitigkeiten haben darauf überhaupt keine Auswirkungen. Wer dies leichtfertig vermischt arbeitet in Bezug auf das jüdische Volk mit klassisch antisemitischen Motiven.

Noch empörender wäre diese Forderung angesichts der Tatsache, dass Jordanien nach der Eroberung Ostjerusalems durch ihren (illegalen) Angriffskrieg 1948 die Juden aus Ostjerusalem (illegal) vertrieben und die Jahrtausendelange Präsenz der Juden in der Altstadt unterbrochen hat. Sich nun argumentativ an diese durch eine ethnische Säuberungen entstandene historische Anomalie von zwei Jahrzehnten judenreiner jordanischer Besatzung klammern zu wollen und sie quasi als die anzustrebende Ordnung der Dinge hinzustellen spräche für sich selbst.
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