Türkei
Zitat:Ich würde allem zustimmen, außer der "kulturellen Verwurzelung". Das liegt immer im Auge des Betrachters und ich meine jetzt türkischen Betrachters. Wenn mit Kultur Sprache, Religion, Sitten und Gebräuche gemeint sind, dann ja. Wenn es sich allerdings auf Werte, Normen, Ideale und Ausrichtung dreht, kommt es am Ende daraufan, welchen Teil der türkischen Gesellschaft man fragt. Dazu passt auch das jüngste Ereignis, bei dem sich junge Offiziere der politischen Führung als Ärgernis erwiesen haben, in dem sie sich eben auf Atatürk und seinen Westkurs berufen und nicht auf den neo-osmanischen, Asienkurs der Regierung.
Das meinerseits hervorgehobene ist in meinem Empfinden der springende Punkt. Mustafa Kemal hat nicht nur das Land nach dem Ersten Weltkrieg gerettet (im wahrsten Sinne des Wortes), sondern es auch mit eiserner Hand in die Moderne geprügelt, weil er wusste, dass das Land nur so im Reigen der Großmächte bestehen wird können und weil er gesehen hatte, wie das verkrustete Sultanat und Kalifat ein Desaster bewirkt hatten. Und auch wenn er sicher kein Demokrat im eigentlichen Sinne war, so hat er doch zugleich einen außenpolitisch zwar entschlossenen, aber recht bescheidenen Kurs gefahren.

Als Hitlers Armeen über Europa hinwegstürmten und dann danach Sowjets und Westalliierte zurückschlugen, hat sein Nachfolger İsmet İnönü recht genau Atatürks Ideale weiter verfolgt und das Land von allen Scherereien ferngehalten (die Kriegserklärung der Türkei an das im Todeskampf liegende "Großdeutsche Reich" 1945 nehme ich hier nicht ernst, sie war nur ein Zugeständnis an die Alliierten). Der Beitritt zur NATO war dann einerseits dem Streben nach Westen bzw. Modernität und andererseits der Furcht vor dem sowjetischen Koloss geschuldet - und Stalin hatte noch 1945 in Potsdam den Bosporus wieder ins Spiel gebracht, was man in Ankara sehr genau bemerkt hatte...

Und man entsinne sich: Mustafa Kemal - der wohl als Agnostiker angesehen werden kann - hat, als er einmal in den frühen 1930ern mit seinem Innenminister ob der Bildungspolitik stritt, den Propheten Mohammed als "verlogenen und räuberischen Beduinen" bezeichnet. Könnte man sich vorstellen, dass ein türkischer Politiker (oder gar ein Staatschef), egal ob nun AKP-nah oder den konservativen Säkularen oder dem Militär zuneigend, so etwas heute sagt? Eher unwahrscheinlich. Er wäre vermutlich politisch erledigt.

Und das ist ein wenig die Crux: Mit der voranschreitenden Islamisierung bzw. einem verstärkten Hinwenden zur Religiosität in der Türkei seit den frühen 1990ern hat die außenpolitische Vorsicht, die dezente atatürk'sche Orientierung im internationalen Reigen, abgenommen und der Eifer hin zu einem gewissen Großmachtdenken hat sich Bahn gebrochen. Wobei der aktuelle Staatschef teils dazu neigt, dies sogar noch mit verbalen Entgleisungen zu befeuern. Dass es aber genau dieses religiös verbrämte Großmachtdenken war, dass dem Vorgängerstaat der heutigen Türkei (d. h. dem Osmanischen Reich) den Weg in die Katastrophe von 1918 ebnete, scheint bislang in der Türkei leider wenig zur Kenntnis genommen zu werden.

Schneemann
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