11.08.2024, 09:41
(11.08.2024, 07:45)Quintus Fabius schrieb: Es ist aktuell meine These, dass der Krieg dort längst ein Stellvertreterkrieg ist.Trotz der Involvierung v.a. westlicher Regierungen halte ich diese Formulierung für unzulässig, weil sie im allgemeinen Verständnis Fremdbestimmung und einen Mangel an strategischer Autonomie impliziert. Im vorliegenden Fall wäre dies unzutreffend.
Die Ukraine kann diesen Krieg (auf absehbare Zeit) ohne westliche Unterstützung nicht gewinnen, aber das heißt nicht, dass sie ihn ohne westliche Unterstützung verlieren würde. Was auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, versteht sich leicht, wenn man an Konflikte wie den Afghanistankrieg denkt. Kriege können auch in einem militärischen Patt enden.
Auch die Kriegsziele selbst werden der Ukraine keineswegs von ihren westlichen Unterstützern vorgegeben, sondern wurden als Fait accompli von Russland selbst herbeigeführt. Sie sind schlichtweg die Antithese der russischen Kriegsziele, und nach der verfügbaren Datenlage steht die überwältigende Mehrheit der Ukrainer hinter ihnen.
Beiden Seiten fehlt die Kraft, eine Entscheidung zu erzwingen, also sind sie in einen Abnutzungskrieg übergegangen, in dem die Offensiven gegen Charkiw und Kursk zu absoluten Ausnahmesituationen geworden sind. Irgendwann wird durch Abnutzung Verhandlungsbereitschaft entstehen, wobei der jeweilige Status Quo eine große Rolle dabei spielen wird, welche Seite von der anderen mehr Konzessionsbereitschaft erhält.
Ohne westliche Unterstützung sänken die Chancen der Ukraine, die Stellung bis dahin zu halten, aber es ist nicht gesagt, dass sie ohne diese Hilfen keine Chance hätte (freilich wären die Verluste sehr viel höher). Tatsächlich sind die westlichen Militärhilfen längst nicht so substantiell, wie vor allem unsere eigenen Regierungen uns gerne einreden. Ein prägnantes Beispiel: Die Ukrainer haben aktuell wohl etwa 350 einsatzbereite Kampfpanzer und insgesamt 883 Stück verloren. Wenn Deutschland fünf bis acht Leopard 1 pro Monat liefert, ändert das an der militärischen Situation überhaupt nichts.
Umgekehrt glaube ich nicht, dass Peking wirklich glücklich ist mit Putins Tun und Lassen. Natürlich gefällt es Xi, dass v.a. der amerikanische Einfluss ins Wanken gerät, und natürlich nutzt man es gerne aus, dass Russland sich gegenüber China durch eigenes Handeln verzwergt. Doch bevorzugt China eine ressourcenschonendere Außenpolitik. Insbesondere der Umstand, dass Putin in Europa und den USA den Drang ausgelöst hat, sich wirtschaftlich zu entflechten, kann Peking nicht recht sein.
(11.08.2024, 07:45)Quintus Fabius schrieb: Die Russen kämpfen nicht aus fanatischem Nationalismus so verbissen, sondern aus Fatalismus, Lebensmüdigkeit und aufgrund ihres archaischen Volkscharakters. Ganz viele russische Soldaten die an der Front gleich den größten Fanatikern kämpfen, sind trotz ihres Gebarens überhaupt keine Fanatiker, sondern stattdessen allesamt maximal zynisch, verbittert und eher depressiv. Das versteht man nur, wenn man weiß was für ein Volk das ist. Die vorherrschende Haltung gegenüber der Führung ist grenzenloser Zynismus, absolute Gleichgültigkeit gegenüber allem, extremes Misstrauen gegenüber Staat und Führung, allgemein eine Kultur der Gewalt und das Streben nach dem Tabubruch und zügellose Brutalität als grundsätzliche Charaktereigenschaft. Das ist sozialkulturell eine ganz besondere Mischung. Und die praktische Folge ist eine für normale westliche Menschen nicht nachvollziehbare Bereitschaft das eigene Leben regelrecht wegzuwerfen und andersherum eine noch größere Bereitschaft Gewalt gegen alles und jeden auszuüben.Ich kenne Russland und spreche ein bisschen Russisch. Ich habe für die Friedrich-Naumann-Stiftung dort gearbeitet und war 2008 Wahlbeobachter. Der Georgienkrieg war ein Fanal. Seinerzeit begann eine verhängnisvolle Entwicklung, die in Westeuropa lange niemand wahrhaben wollte. Damals wurden die Ansichten eines Alexander Dugin gesellschaftsfähig. Die russische Gesellschaft begann, nicht mehr in die Zukunft zu blicken, sondern Selbstvergewisserung durch Abgrenzung zu betreiben.
2009 habe ich auf whq-forum und militaryimages.net die Abrüstung Deutschlands als schweren Fehler bezeichnet, da Russland abermals als Aggressor auf der Landkarte auftauchen werde, und wurde dafür ausgelacht.
Ich bin wirklich der Überzeugung, dass die Sprachbarriere in Deutschland viel Ungutes erzeugt. Sprächen mehr Menschen russisch, oder würden wenigstens mittels Google Translator und Co. ab und an einen russischen Zeitungsartikel lesen, ihnen würde der Arsch auf Grundeis gehen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland haben, da gehe ich mit Timothy Snyder d'accord, das Stadium des Faschismus erreicht – ein Begriff, der im Westen leider durch inflationären Gebrauch ein bisschen von seinem Schrecken verloren hat.
Der Putinismus ist gekennzeichnet von virulentem Nationalismus, Militarismus, einem Führer- und Totenkult, und im Äußeren betreibt er einen Ethnoimperialismus. Was Du über die Verhältnisse in der russischen Gesellschaft sagst, ist wahr; das heißt aber nicht, dass der Putinismus nicht mehrheitsfähig wäre.
Ist jeder russische Soldat, oder auch nur die Mehrheit der russischen Soldaten, ein Fanatiker? Natürlich nicht. Allein auch in der Effektivität von Kombattanten gibt es eine Pareto-Verteilung. Eine kleine Minderheit trägt aus eigenem Antrieb bzw. aufgrund ihres Naturells die Hauptlast der Kämpfe, und die große Mehrheit beteiligt sich kaum an den Kämpfen. Und diejenigen, die die Hauptlast tragen, sind eben v.a. die politischen Fanatiker.