01.06.2024, 12:43
@Quintus
Zumindest sollten sich die bulgarischen Krankenschwestern, die unter fadenscheinigen Umständen nach 2000 im Lande festgehalten wurden, nicht so echauffieren, schließlich hat das im Human Development Index so hoch stehende Gastland ihnen freie Kost und Logis, körperliche Ertüchtigung und vermutlich auch sexuelle Freizügigkeiten ermöglicht.
Auch die Feststellung, dass die Aufständischen vernichtend geschlagen wurden, ist meiner Meinung nach so nicht ganz haltbar - zwar rückten die Kräfte Gaddafis (vermutlich noch um die 20.000 Mann mit 300 bis 400 gepanzerten Fahrzeugen) zunächst entlang der Küstenstraße tatsächlich rasch gen Osten vor, hatten sich aber zum Zeitpunkt, als die NATO-Luftangriffe begannen (Mitte März 2011), vor Bengasi festgefahren. Übereinstimmend wird von durchaus heftigen Gefechten dort berichtet, was den Rückschluss zulässt, dass der Widerstand sich verstärkt hatte und dass die Zeiten des raschen Vorrückens vorbei waren. Die NATO-Angriffe haben dann die dort stehenden Regimekräfte weitgehend zerschlagen bzw. ihnen den Rest gegeben.
Es gibt auch weitere Indizien, die die Stärke Gaddafis zumindest hinterfragenswert machen:
1.) die Luftverteidigung war auf dem Papier sehr stark, über 400 SAM-Systeme und dutzende Radarstationen. Als die NATO eingriff, mussten aber kaum SEAD-Missionen geflogen werden. Der Großteil der Systeme war nicht einsatzbereit oder nicht besetzt. Die Abwehr vom Boden bestand zumeist aus leichten Flak und teilweise MANPADs.
2.) der libyschen Luftwaffe ging innerhalb von wenigen Wochen der Sprit aus, weswegen man in Malta nach Sprit fragte. Hinzu kam, dass ebenso rein zahlenmäßig die libysche Luftwaffe sehr stark war (rund 350 Maschinen), in der Realität aber waren 80% nicht einsatzbereit. Interessanterweise konnten Rebellen VOR dem Eingreifen der NATO rund ein Drittel aller Flugfelder erobern [sic!], d. h. entweder waren die Rebellen stärker als angenommen oder die regulären Streitkräfte in keinem guten Zustand. Dazu kamen noch Desertionen und Befehlsverweigerungen in Einheiten, die auf Seite des Regimes standen.
3.) selbst die Landstreitkräfte (wie gesagt, geschätzt ca. 40.000 halbwegs verlässliche Soldaten und Milizionäre dürften Gaddafi wohl zur Verfügung gestanden haben) blieben weit hinter dem zurück, was auf dem Papier vorlag. So sollte die Armee um die 2.000 Panzer (davon rund 1.000 veraltete T-54/T-55), 2.000 bis 2.500 SPWs und IFVs (darunter 1.000 EE-11 6 x 6) sowie über 1.000 Artillerierohre (darunter 150 Palmaria) aufbieten können. In der Realität kratzte man dann bei dem genannten raschen Vorstoß gen Osten gerade mal rund 300 bis 400 Fahrzeuge zusammen.
Fazit: Mit den bestehenden Kräften wäre, wenn die NATO nicht eingegriffen hätte, die Niederwerfung der Rebellion also nicht stemmbar gewesen. Die im Osten bei Bengasi stehenden Regimetruppen, vermutlich noch um die 15.000 bis 20.000 Mann, hatten sich bereits festgerannt - und litten zunehmend unter Fahnenflucht und Versorgungsproblemen. Die Städte im Osten wären zumindest mit dieser Streitmacht nicht einnehmbar gewesen. Von einer Kontrolle der abspenstig gegangenen Landesteile in der Cyrenaika (rund 800.000 Quadratkilometer) könnte man nicht mal ansatzweise reden.
Insofern wäre es, wie ich anfangs schon schrieb, zu einem zähen und langwierigen Guerillakrieg gekommen, der über die Jahre hinweg zehntausende Opfer mehr hervorgebracht hätte als es sie durch das NATO-Eingreifen gab.
Schneemann
Zitat:Es sind nicht "die Menschen" gewesen welche auf die Straße gingen und demonstrierten was dann zum offenen Aufstand führte, sondern es kam zu einer Spaltung in den Machtstrukturen, insbesondere im Militär ... [...] ... Das ganze Geschehen war also schlussendlich auch ein Aufstand von Islamisten gegen die Zentralregierung, nur dass nun der Westen schlussendlich auf Seiten der Islamisten eingriff.Da kann ich ehrlich gesagt nicht mitgehen. Auch wenn die Zahlen unterschiedlich sind, so wird zumeist von 100.000 Protestierenden aufwärts berichtet. Selbst wenn ich nun von ausgehe, dass die ganzen Vorkommnisse von unzufriedenen Militärs oder Islamisten herrühren würden, bekomme ich da keine 100.000 Menschen zusammen, sondern es wären wohl 5.000 bis 10.000 (allenfalls). Insofern: Dass unzufriedene Militärs, Stammessektierer und Islamisten dort mitmischten, steht außer Frage, aber sie waren sicherlich nicht in der Mehrheit.
Zitat:Desweiteren war Libyen vor dem Krieg 2011 im Human Developement Index in ganz Afrika die am besten entwickelte Nation. Ebenso war es für Afrika führend im UN Bildungsindex. [...] Und auch heute noch gibt es in Libyen Foltergefängnisse, nur mal so am Rande.Nur weil das Land im Human Development Index weit oben steht, ist es also in Ordnung, wenn es auch Foltergefängnisse gibt? Das ist ungefähr die gleiche Logik, mit der man auch gegenüber dem Irak argumentieren könnte. Unter Saddam, bis er sein Land in militärische Abenteuer verwickelte, konnte man durchaus recht gut im Irak und auch in gewisser Sicherheit leben, solange man sich mit dem Regime arrangierte und man eben kein Kurde oder Schiite war. Das macht aber nichts besser, genauso wie auch in Libyen eben nicht.
Zumindest sollten sich die bulgarischen Krankenschwestern, die unter fadenscheinigen Umständen nach 2000 im Lande festgehalten wurden, nicht so echauffieren, schließlich hat das im Human Development Index so hoch stehende Gastland ihnen freie Kost und Logis, körperliche Ertüchtigung und vermutlich auch sexuelle Freizügigkeiten ermöglicht.
Zitat:Nun beschließend noch zu deiner steilen These, Gaddafi hätte sich nicht durchgesetzt:Stark ist hier relativ; das sind jene Streitkräfte, die im Maximum rund 40.000 Mann gezählt haben dürften und die du selbst oben als teils gespalten bezeichnet hast. Wenn man diese Streitmacht spaltet, dann bleibt bald nicht mehr viel übrig.
Dir ist die libyische Gegenoffensive im März 2011 schon bekannt, oder ?! Die Truppen Gaddafis drangen dabei recht rasch im Osten vor und schlugen die Aufständischen vernichtend. [...] Und wie stark die Streitkräfte Gaddafis waren, und wie schwach die Aufständischen im Vergleich sieht man allein schon daran, dass selbst nach dem 17 März es noch etliche Zeit brauchte bis man die libyischen Regierungstruppen geschlagen hatte.
Auch die Feststellung, dass die Aufständischen vernichtend geschlagen wurden, ist meiner Meinung nach so nicht ganz haltbar - zwar rückten die Kräfte Gaddafis (vermutlich noch um die 20.000 Mann mit 300 bis 400 gepanzerten Fahrzeugen) zunächst entlang der Küstenstraße tatsächlich rasch gen Osten vor, hatten sich aber zum Zeitpunkt, als die NATO-Luftangriffe begannen (Mitte März 2011), vor Bengasi festgefahren. Übereinstimmend wird von durchaus heftigen Gefechten dort berichtet, was den Rückschluss zulässt, dass der Widerstand sich verstärkt hatte und dass die Zeiten des raschen Vorrückens vorbei waren. Die NATO-Angriffe haben dann die dort stehenden Regimekräfte weitgehend zerschlagen bzw. ihnen den Rest gegeben.
Es gibt auch weitere Indizien, die die Stärke Gaddafis zumindest hinterfragenswert machen:
1.) die Luftverteidigung war auf dem Papier sehr stark, über 400 SAM-Systeme und dutzende Radarstationen. Als die NATO eingriff, mussten aber kaum SEAD-Missionen geflogen werden. Der Großteil der Systeme war nicht einsatzbereit oder nicht besetzt. Die Abwehr vom Boden bestand zumeist aus leichten Flak und teilweise MANPADs.
2.) der libyschen Luftwaffe ging innerhalb von wenigen Wochen der Sprit aus, weswegen man in Malta nach Sprit fragte. Hinzu kam, dass ebenso rein zahlenmäßig die libysche Luftwaffe sehr stark war (rund 350 Maschinen), in der Realität aber waren 80% nicht einsatzbereit. Interessanterweise konnten Rebellen VOR dem Eingreifen der NATO rund ein Drittel aller Flugfelder erobern [sic!], d. h. entweder waren die Rebellen stärker als angenommen oder die regulären Streitkräfte in keinem guten Zustand. Dazu kamen noch Desertionen und Befehlsverweigerungen in Einheiten, die auf Seite des Regimes standen.
3.) selbst die Landstreitkräfte (wie gesagt, geschätzt ca. 40.000 halbwegs verlässliche Soldaten und Milizionäre dürften Gaddafi wohl zur Verfügung gestanden haben) blieben weit hinter dem zurück, was auf dem Papier vorlag. So sollte die Armee um die 2.000 Panzer (davon rund 1.000 veraltete T-54/T-55), 2.000 bis 2.500 SPWs und IFVs (darunter 1.000 EE-11 6 x 6) sowie über 1.000 Artillerierohre (darunter 150 Palmaria) aufbieten können. In der Realität kratzte man dann bei dem genannten raschen Vorstoß gen Osten gerade mal rund 300 bis 400 Fahrzeuge zusammen.
Fazit: Mit den bestehenden Kräften wäre, wenn die NATO nicht eingegriffen hätte, die Niederwerfung der Rebellion also nicht stemmbar gewesen. Die im Osten bei Bengasi stehenden Regimetruppen, vermutlich noch um die 15.000 bis 20.000 Mann, hatten sich bereits festgerannt - und litten zunehmend unter Fahnenflucht und Versorgungsproblemen. Die Städte im Osten wären zumindest mit dieser Streitmacht nicht einnehmbar gewesen. Von einer Kontrolle der abspenstig gegangenen Landesteile in der Cyrenaika (rund 800.000 Quadratkilometer) könnte man nicht mal ansatzweise reden.
Insofern wäre es, wie ich anfangs schon schrieb, zu einem zähen und langwierigen Guerillakrieg gekommen, der über die Jahre hinweg zehntausende Opfer mehr hervorgebracht hätte als es sie durch das NATO-Eingreifen gab.
Schneemann