10.02.2024, 16:22
Interview zur Lage in Russland:
Dass die aktuellen russischen Zahlen zum wirtschaftlichen Wachstum künstlich aufgeblasen und ein Nullsummenspiel sind, die dem Land nach dem Ende des Krieges sehr schaden werden, sehe ich ebenso. Aber ob wirklich 65 Prozent der Russen den Krieg beendet sehen wollen, würde ich hinterfragen. Noch vor wenigen Monaten hieß es in Umfragen, dass eine Mehrheit den Krieg fortsetzen will. Hängt aber vermutlich auch davon ab, wie man die Frage stellt...
Schneemann
Zitat:Nawalny-Vertrauter Wolkowhttps://www.n-tv.de/politik/Putin-muss-v...20519.html
"Putin muss vernichtet werden" [...]
Leonid Wolkow ist Vertrauter von Alexej Nawalny und eine der wichtigsten Stimmen der russischen Opposition. In seinem Buch "Putinland", dessen erweiterte Ausgabe vor Kurzem erschienen ist, beschreibt der Politiker, wie das russische Regime funktioniert - ein System, das nach Wolkows Worten "am Rande der Katastrophe" ist. Worauf sein Optimismus beruht, darüber spricht der im litauischen Exil lebende Politiker im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Im Vorwort zur neuen Ausgabe Ihres Buchs "Putinland" schreiben Sie: "Putin hat sich und sein System an den Rand der Katastrophe gelenkt. In dieser Katastrophe, davon bin ich überzeugt, werden er und seine Schergen untergehen". Ein Blick in die Nachrichten zeigt aber ein anderes Bild.
Leonid Wolkow: Nach den ersten Erfolgen der ukrainischen Armee gab es extrem hohe, unrealistische Erwartungen an das Jahr 2023. Alle haben eine erfolgreiche Offensive erwartet, und dass die ukrainische Armee bald mit Leoparden und Abrams auf den Roten Platz fährt. Dann wurden diese überhöhten Erwartungen von einer Enttäuschung abgelöst: Für uns ist alles schrecklich, für Putin sieht es dagegen blendend aus. [...]
Und was zeigt ein Blick auf das große Ganze?
Dass es Putin eher so lala geht. Das wichtigste Ereignis des vergangenen Jahres war der Aufstand von Prigoschin. War so etwas im Vorkriegs-Russland vorstellbar? Offensichtlich nicht. Allein schon die Tatsache, dass eine Krise von solchem Ausmaß entstehen konnte, zeigt, wie sehr es für Putin nicht nach Plan läuft und dass der Grad seiner Kontrolle über die Situation abgenommen hat. Es gibt keine Garantie, dass solche Krisen nicht wieder entstehen. [...]
Trotz westlicher Sanktionen soll die russische Wirtschaft 2023 aber gewachsen sein.
Das ist Quatsch. Ja, das nominale Bruttoinlandsprodukt ist um ein paar Prozent gewachsen, aber das ist nichts, was man aufs Brot schmieren kann. Ein Drittel der Wirtschaft ist auf Krieg ausgerichtet. Da wird etwas hergestellt, um vernichtet zu werden. Ja, Waffenfabriken arbeiten in drei Schichten, aber es sind maximal ein paar Millionen Menschen, die in dieser Branche tätig sind. Klar, ihnen geht es großartig. Sehr viel Geld geht auch direkt an Militärangehörige und deren Familien. Es gibt viele Familien, wo der Mann früher am Ende des Monats 30.000 Rubel (umgerechnet ca. 300 Euro - Anm. d. Red.) Gehalt nach Hause brachte, trank und seine Frau verprügelte. Jetzt ist er nicht zu Hause, niemand trinkt und schlägt die Frau, und das Gehalt beträgt schon 200.000 Rubel. Und wenn man Glück hat, wird er getötet und die Frau bekommt sieben Millionen Rubel (ca. 71.000 Euro). Großartig! In diesen beiden Sektoren - Rüstungsindustrie und Familien von Militärangehörigen - ist der Wohlstand um ein Vielfaches gewachsen. Der Rest der Wirtschaft ist komplett im Arsch.
In einem Interview im August 2023 sagten Sie: "Wenn Putin weg ist, endet der Krieg am nächsten Tag". Glauben Sie das heute noch?
Natürlich. Außer Putin und ein paar Verrückten aus seiner Umgebung braucht niemand diesen Krieg. Die überwiegende Mehrheit von Putins Elite träumt davon, dass er endet. Und was noch wichtiger ist: Die meisten Russen träumen davon. Eine telefonische Umfrage, die wir im Dezember durchgeführt haben, hat gezeigt, dass 65 Prozent der Russen eine Entscheidung über die Beendigung des Krieges unterstützen würden. Und nur 18 Prozent wären dagegen oder eher dagegen. Den Menschen ist es egal, wem die Krim und der Donbass gehören, Hauptsache der Krieg endet. [...]
Sie sagten, viele Russen seien für die Beendigung des Krieges. Sehen Sie diese Tendenz auch in der Armee?
Vor Kurzem hat die offizielle Zahl der Strafverfahren wegen Fahnenflucht 6000 überschritten. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. In den meisten Fällen werden keine Verfahren eingeleitet: Da Kommandanten der Deserteure hart bestraft werden, drücken sie in der Regel ein Auge zu und melden die Fälle nicht. Die tatsächliche Zahl der Deserteure liegt bei Zehntausenden. Wir als Politiker sind verpflichtet, solche Tendenzen zu finden und zu unterstützen: Zum Beispiel auch den Protest der Frauen und Mütter von Soldaten, oder generell aller Menschen, die Putin Fragen stellen, auf die er keine Antworten gibt. [...]
Welche Fragen sind es?
Die Gesellschaft will wissen, wann der Krieg zu Ende ist, wann die Männer von der Front zurückkehren, und wie Putin die Armut bekämpfen will. Putin hat keine Antworten auf diese Fragen. Um von echten Problemen abzulenken, versucht der Kreml eine neue, absolut gefälschte Agenda durchzusetzen. Sie wollen über Armut sprechen? Dann sprechen wir über Unisex-Toiletten. Wollen Sie darüber sprechen, wann die Mobilisierten zurückkehren, die an der Front seit 16 Monaten verrotten? Nein, reden wir über das Abtreibungsverbot. Selbst seine Unterstützer merken, dass sie Sorgen haben, für die Putin sich gar nicht interessiert. Er erzählt ihnen stattdessen irgendeinen Mist über das Verbot der Regenbogenfahne. Und sie denken: "Geh zur Hölle mit deinem Regenbogen! Wann werden die Renten angehoben?" [...]
Im Westen wächst die Kriegsmüdigkeit. Was würden Sie Menschen in Deutschland sagen, warum es notwendig ist, die Ukraine weiter zu unterstützen?
Erstens ist es eine einfache moralische Entscheidung. [...] Aber es gibt natürlich auch rein praktische Überlegungen. Wir wissen aus der Geschichte, dass es unmöglich ist, einen Diktator zu besänftigen. Der Appetit kommt beim Essen. Jeder Versuch, mit einer nicht verhandlungsbereiten Person zu verhandeln, führt nur zu größeren Schwierigkeiten. Menschen, die behaupten, man könne mit Putin über irgendwas verhandeln, sind entweder Idioten oder sie werden von ihm bezahlt. [...]
Verstehe ich richtig, Sie sind der Auffassung, dass Putin Europa angreifen wird, wenn er in der Ukraine gewinnt?
Klar, er wird sich etwas Neues einfallen lassen.
Dass die aktuellen russischen Zahlen zum wirtschaftlichen Wachstum künstlich aufgeblasen und ein Nullsummenspiel sind, die dem Land nach dem Ende des Krieges sehr schaden werden, sehe ich ebenso. Aber ob wirklich 65 Prozent der Russen den Krieg beendet sehen wollen, würde ich hinterfragen. Noch vor wenigen Monaten hieß es in Umfragen, dass eine Mehrheit den Krieg fortsetzen will. Hängt aber vermutlich auch davon ab, wie man die Frage stellt...
Schneemann