23.09.2023, 14:16
Vervollständigung der französischen Presseschau
Titel in OPEX 360
Sébastien Lecornu und Boris Pistorius, französischer und deutscher Verteidigungsminister: "Wir müssen froh sein, dass wir stärkere Armeen haben"
In einem seltenen gemeinsamen Interview sprechen der deutsche und der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu und Boris Pistorius für "Le Monde" über ihre jeweiligen Prioritäten im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Sie räumen insbesondere eine große Meinungsverschiedenheit über den europäischen Raketenabwehrschild ein.
[Bild: https://img.lemde.fr/2023/09/19/0/0/6000...537466.jpg]
Das Gespräch führten Cédric Pietralunga, Elise Vincent und Thomas Wieder (Berlin, Korrespondent).
Veröffentlicht am 20. September 2023 um 06h15, geändert am 20. September 2023 um 13h56
Armeeminister Sébastien Lecornu empfängt am Donnerstag, den 21. September, seinen Amtskollegen Boris Pistorius auf dem Luftwaffenstützpunkt Evreux, um das deutsch-französische Projekt des Kampfpanzers MGCS ("main ground combat system") wiederzubeleben. Bei dieser Gelegenheit wurden auch die Differenzen im Verteidigungsbereich angesprochen, die die Beziehungen zwischen den beiden Ländern belasten.
Vor einigen Tagen berichtete die deutsche Presse über ein neues europäisches Panzerprojekt zwischen Deutschen, Spaniern und Italienern, was in Frankreich für Aufregung sorgte. Konkurriert es mit dem deutsch-französischen Projekt des MGCS, das 2017 ins Leben gerufen wurde und nun ins Stocken geraten zu sein scheint?
Boris Pistorius: Sie haben Recht, es gibt ein europäisches Projekt zur Entwicklung eines modernen Panzers. Aber es ist kein Projekt, das von Staaten initiiert wird. Es sind private Unternehmen der Rüstungsindustrie, die daran beteiligt sind.
Für uns stellt dieses Projekt daher keine Alternative zum MGCS dar. Sébastien Lecornu und ich sind entschlossen, das MGCS-Projekt fortzusetzen und damit den Grundstein für eines der modernsten gepanzerten Systeme der Welt zu legen. Unsere Teams und wir treffen uns zu diesem Zweck sehr regelmäßig und führen intensive Diskussionen. Unsere gemeinsame Idee ist es, das MGCS als ein offenes Projekt zu betrachten, so dass sich andere Partner aus der Europäischen Union [EU] anschließen können.
Der politische Wille, das MGCS zum Erfolg zu führen, ist spürbar, aber zwischen dem französischen Industrieunternehmen Nexter und seinen deutschen Partnern Rheinmetall und KMW ist es komplizierter. Wie kann es gelingen, dass sie sich einigen?
B. P.: Die Rüstungsindustrie setzt sich ihre eigenen Ziele. Aber das MGCS ist ein Projekt der französischen und der deutschen Regierung. Es sind also unsere beiden Regierungen, die das Tempo vorgeben. Wir entscheiden gemeinsam über die verschiedenen Etappen seiner Verwirklichung. Wir werden natürlich weiterhin mit der Industrie zusammenarbeiten und gemeinsam die Bedingungen für diejenigen festlegen, die an dem Projekt beteiligt sind.
Sébastien Lecornu: Es liegt an den Staaten, das Lastenheft zu halten, denn sie sind die Kunden für ihre eigenen Armeen. Mit Boris Pistorius haben wir eine pragmatische methodische Entscheidung getroffen, wie wir es auch bei der Einführung des SCAF [Kampfflugzeug der Zukunft] getan haben, nämlich einen Dialog zwischen unseren Heeren zu ermöglichen, um sicherzustellen, dass wir tatsächlich denselben Panzer benötigen. Wir sprechen von einem Panzer für die nächsten dreißig, vierzig oder sogar fünfzig Jahre.
Mit dem MGCS geht es nicht nur um die Nachfolge des deutschen Leopard oder des französischen Leclerc, sondern natürlich auch um die Definition eines Waffensystems der neuen Generation mit bedeutenden technologischen Brüchen. Am Donnerstag werden wir in Evreux die von den Generalstäben unserer beiden Armeen geäußerten operativen Bedürfnisse politisch bestätigen. Dies wird es uns ermöglichen, anschließend "Säulen" der Verantwortung festzulegen, für die Feuer [die Bewaffnung des Panzers], für die Konnektivität etc.
Wann rechnen Sie mit der Einführung des MGCS?
S. L.: Wir werden einen Zeitplan festlegen, der die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt. Von Deutschland, das einen Teil seines Angebots an gepanzerter Kavallerie regenerieren muss, mit der Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine. Aber auch von Frankreich, das einen Teil seiner Leclerc-Panzer erneuert, um ihre Lebensdauer über das Jahr 2040 hinaus zu verlängern. Der Zeitplan für das MGCS muss mit dem Ende des Zeitplans für den Leopard und den Leclerc übereinstimmen. Im neuen französischen Militärprogrammgesetz [2024-2030] sind bereits fast eine halbe Milliarde Euro für dieses Projekt vorgesehen.
Vor einem Jahr kündigte Deutschland den Start eines Projekts für einen europäischen Raketenabwehrschild durch den gemeinsamen Kauf von deutschem, amerikanischem und israelischem Material an, was Paris verärgert hat. Wie ist der Stand der Dinge?
B. P.: 19 Länder haben sich der Initiative "European Sky Shield", dem europäischen Raketenabwehrschild, angeschlossen, darunter die neutralen Länder Österreich und die Schweiz. Zwei weitere Länder haben ihr Interesse bekundet. Uns geht es darum, so schnell wie möglich einen Schild über Europa zu haben. Wir sind bereit, außereuropäische Systeme zu erwerben, bis wir unsere eigenen Systeme in Europa entwickelt haben. Es handelt sich um ein offenes Projekt, das daher natürlich auch für unsere französischen Freunde offen ist.
Vor dem Sommer ließ Frankreich verlauten, dass es sich von der Teilnahme an diesem Projekt zurückgezogen habe. Ist dies immer noch der Fall?
S. L.: Durch die Luftverteidigungskonferenz für Europa, die Frankreich im Juni mit siebzehn europäischen Staaten ins Leben gerufen hat, haben wir die Frage der Verteidigung des europäischen Luftraums auf globale Weise zur Sprache gebracht. Diese Initiative konzentriert sich nicht nur auf die Boden-Luft-Raketenabwehr und ist nicht nur kapazitäts- oder industriebezogen, sondern betrifft auch alle ihre Komponenten, von der Drohnenbekämpfung über die Luft-Luft-Abwehr bis hin zum Weltraum.
Im Weltraum stellt sich jedoch die heikle Frage der Verbindung mit der nuklearen Abschreckung. Als [Atomwaffen-]Macht muss Frankreich diese Frage ebenso stellen wie die Briten oder die Amerikaner. Im Übrigen werden zu einem Zeitpunkt, da die europäischen Steuerzahler viel Geld auf den Tisch legen müssen und Europa eher versucht, die europäische Verteidigungsindustrie zu fördern, alle zustimmen, dass wir unsere Autonomie nicht durch den Kauf des amerikanischen Patriot-Systems [das im deutschen Projekt vorgeschlagen wird] stärken werden.
Was antwortet Berlin denjenigen, die insbesondere in Frankreich der Ansicht sind, dass Deutschland das trojanische Pferd der US-Verteidigungsindustrie in Europa ist?
B. P.: Wir können es uns nicht leisten, Zeit damit zu verschwenden, uns auszurüsten und zu schützen. Deshalb haben wir in Deutschland beschlossen, auf das Gaspedal zu treten. Der Sonderfonds in Höhe von 100 Milliarden Euro [der von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022, drei Tage nach dem Einmarsch in die Ukraine, beschlossen wurde] hilft uns, in dringend benötigte Systeme zu investieren.
Die europäische Verteidigungsindustrie, einschließlich der französischen, sind natürlich wichtige Partner, aber sie können uns nicht alles liefern, was wir brauchen. Was die USA betrifft, so sind sie unsere Verbündeten und unser wichtigster Partner in der NATO. Es ist absolut vertretbar, amerikanische Systeme zu kaufen und umgekehrt Waffen an unsere amerikanischen Freunde zu verkaufen.
"Deutschland wird bald die größte konventionelle Armee Europas im Rahmen der NATO haben", sagte Scholz im Mai 2022. Was ist mit "bald" gemeint?
B. P.: Ich kann Ihnen kein Datum nennen. Wichtig ist das Gesamtziel, das gesetzt wird: Angesichts der aktuellen Entwicklungen müssen wir unsere Fähigkeiten anpassen. Es liegt in unserem Interesse wie auch in dem unserer europäischen Verbündeten und der NATO, dass wir eine Armee haben, die auf alle Arten von Bedrohungen reagieren kann.
Freut sich Frankreich darüber, dass die Bundeswehr zu einer der größten Armeen in Europa wird?
S. L.: Wir sind eine Atommacht. Unser Armeemodell wird sich daher zwangsläufig immer von dem eines Landes unterscheiden, das nicht atomar ist. Warum haben wir weniger Leclerc-Panzer als die Bundeswehr Leopard-Panzer? Weil unsere Armee seit den 1960er Jahren nach einem konventionellen Modell organisiert ist, das auf Expeditionen umgeschlagen ist, während die Verteidigung unserer vitalen Interessen durch unsere nukleare Abschreckung gewährleistet wird.
Abgesehen davon sollten wir froh sein, dass wir europäische Länder mit stärkeren Armeen haben. Deutschland hat heute einen großen Ehrgeiz. Ich respektiere es zutiefst, denn die Bedrohungen, die auf Deutschland lasten, können auch auf Frankreich lasten und umgekehrt.
Fast anderthalb Jahre nach der Einrichtung des 100-Milliarden-Euro-Sonderfonds zur Modernisierung der Bundeswehr: Wie viel davon wurde bereits ausgegeben?
B. P.: Bis zum Ende des Jahres werden zwei Drittel des Sondervermögens vertraglich gebunden sein. Damit werden wir amerikanische Kampfflugzeuge vom Typ F-35 oder das Weltraumfrühwarnsystem Twister beschaffen. Normalerweise vergehen Jahre zwischen der Unterzeichnung der Verträge, dem Ende der Produktion und der Auslieferung der Systeme an ihre Einheiten. Unseren Prognosen zufolge wird der gesamte Sonderfonds bis 2027, spätestens aber 2028 ausgegeben sein.
Herr Scholz sagte, Deutschland werde 2024 das 2 %-Ziel erreichen, das die NATO ihren Mitgliedern gesetzt hat. Dies werde dank des Sonderfonds möglich sein. Aber was passiert, wenn dieser aufgebraucht ist?
B. P.: Wir haben uns darauf geeinigt, die 2 % im Durchschnitt über Fünfjahreszeiträume zu erreichen. Das bedeutet, dass wir manchmal etwas darüber und manchmal etwas darunter liegen werden. Wichtig ist, dass wir diese 2 % im Jahresdurchschnitt erreichen. Eines ist aber auf jeden Fall ganz klar: Auch nach der Verwendung des Sonderfonds werden wir dieses Ziel weiterhin erreichen. Die gemeinsame Erklärung des NATO-Gipfels in Vilnius [im Juli] unterstreicht diese Absicht sehr deutlich.
Deutschland kündigte im Juni die Stationierung einer Brigade mit 4000 deutschen Soldaten in Litauen an, um die Ostflanke der NATO zu stärken. Innerhalb der Bundeswehr und der NATO zweifeln jedoch viele an der Durchführbarkeit dieses Vorhabens. Gibt es einen Zeitplan?
B. P.: Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs stellte Westdeutschland die Ostflanke der NATO dar. Es wurde von den NATO-Verbündeten geschützt. Wir sind uns unserer derzeitigen Verantwortung bewusst und nehmen sie voll und ganz wahr. So wollen wir unseren Beitrag zur Verteidigung der Ostflanke leisten. Dies ist das Ziel der Brigade in Litauen.
Wir werden bis Ende des Jahres mit unseren litauischen Freunden einen Fahrplan beschließen. Eines ist sicher: Wir werden eine beträchtliche Infrastruktur für diese Brigade benötigen (Unterkünfte für unsere Soldaten, Schulen für ihre Kinder...). Es handelt sich um ein Mammutprojekt, das die Bundeswehr vor neue Herausforderungen stellt. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass wir sie meistern werden.
Frankreich und Großbritannien liefern seit dem Frühsommer Marschflugkörper (Scalp und Storm Shadow) an die Ukraine, aber Berlin weigert sich immer noch, das deutsche Pendant (Taurus) zu liefern. Was sind die Gründe dafür?
B. P.: Nein, wir verweigern die Lieferung dieser Raketen nicht. Wir prüfen den Antrag und seine Konsequenzen, was bedeutet, dass wir bestimmte technische oder rechtliche Gegebenheiten berücksichtigen müssen. Mir ist bewusst, dass dies einige Zeit in Anspruch nimmt. Aber bei den Taurus-Marschflugkörpern handelt es sich um Systeme mit sehr großer Reichweite. Ich verstehe den Nutzen, den sie für unsere ukrainischen Freunde haben können. Es bleibt jedoch unsere Pflicht, alle aufkommenden Fragen zu untersuchen.
Deutschland ist übrigens der zweitgrößte Geber von Hilfsgütern für die Ukraine und der größte in Europa. Wir liefern bereits viele wichtige Systeme, insbesondere für die Luftabwehr, sowie viel Munition. All dies trägt dazu bei, dass in der Ukraine täglich Leben gerettet werden.
Reicht Ihnen das Versprechen Kiews, diese Raketen nicht außerhalb der Grenzen der Ukraine einzusetzen, nicht aus?
B. P.: Diese Zusage ist natürlich wichtig, aber sie ist nicht das einzige Analyseelement.
In den letzten Wochen sind mehrmals russische Drohnen auf rumänischen Boden gefallen. Warum reagiert das Atlantische Bündnis nicht stärker?
B. P.: Wenn man Ihnen zuhört, klingt es so, als würden wir nichts tun. Das ist nicht der Fall. Wir stehen in engem Kontakt mit Rumänien, das um unsere Unterstützung gebeten hat, aber wir wollen keine Überreaktion oder Eskalation provozieren. Wir verfolgen diese Entwicklungen und drücken unseren Verbündeten gegenüber unsere volle Solidarität aus. Das Wichtigste ist, dass wir uns unter Wahrung unserer Ruhe abstimmen, um dem rumänischen Luftraum das erforderliche Maß an Schutz zu gewähren.
S. L.: Frankreich verurteilt natürlich jeden Angriff auf die Sicherheit seiner Verbündeten. Wir haben Boden-Luft-Abwehrmittel mit einer Batterie von SAMP/T eingesetzt, um den Schutz eines Teils des rumänischen Luftraums zu gewährleisten. Dies zeigt, entgegen dem, was man manchmal von der französischen politischen Klasse hört, dass dieser Krieg nicht nur der Krieg des ukrainischen Volkes ist, sondern dass er sehr wohl viel globalere Sicherheitsfragen in Mitteleuropa und darüber hinaus aufwirft.
Deutschland hat heute etwa 100 Soldaten auf demselben Stützpunkt wie die Franzosen in Niamey, Niger. Hat Berlin vor, sie dort zu belassen, auch wenn die Junta, die im Sommer die Macht übernommen hat, weiterhin an der Macht bleibt?
B. P.: Die Sicherheitslage ist für uns entscheidend. Unsere Soldaten vor Ort sind derzeit nicht gefährdet. Niamey spielt eine wichtige Rolle bei unserem logistischen Rückzug aus dem benachbarten Mali. Es ist immer gut, Ansprechpartner vor Ort zu haben und sich nicht komplett zurückzuziehen, solange wir nicht völlig dazu gezwungen sind. Wenn wir einen Punkt erreichen, an dem es keinen Grund mehr gibt, zu bleiben, und die Gefahr zu groß ist, ja, dann werden wir uns zurückziehen. Wenn die französischen Einheiten abziehen würden, wäre die Frage des Rückzugs für uns lebhafter. Wir müssten erneut darüber nachdenken.
Worauf wartet Frankreich heute, außer auf ein hypothetisches Rückzugsgesuch des nigrischen Präsidenten Mohamed Bazoum selbst, um seine Truppen abzuziehen, wie es die Junta seit mehreren Wochen fordert?
S. L.: Wir haben keine Forderungen von der Junta entgegenzunehmen. Dieser Putsch lässt im Übrigen den Kampf gegen den Terrorismus in den Hintergrund treten. Staatschef Emmanuel Macron hat es mehrfach gesagt: In Niger gibt es einen rechtmäßig und demokratisch gewählten Präsidenten. Ich denke, wenn wir in einem EU-Land einen Staatsstreich unter Führung von Generälen gehabt hätten, die einen gewählten Präsidenten gestürzt hätten, hätte niemand diese vollendeten Tatsachen akzeptiert. Wir setzen uns aktiv für eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung ein.
Titel in OPEX 360
Zitat:Deutschland und Frankreich wollen ihr Panzerprojekt wiederbeleben, indem sie die beteiligten Industriellen in die Schranken weisen
Zitat:@Helios
Heute hat Le Monde ein Interview mit Pistorius und Lecornu veröffentlicht, leider hinter Bezahlschranke:
https://www.lemonde.fr/international/art...-%5Bios%5D
Sébastien Lecornu und Boris Pistorius, französischer und deutscher Verteidigungsminister: "Wir müssen froh sein, dass wir stärkere Armeen haben"
In einem seltenen gemeinsamen Interview sprechen der deutsche und der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu und Boris Pistorius für "Le Monde" über ihre jeweiligen Prioritäten im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Sie räumen insbesondere eine große Meinungsverschiedenheit über den europäischen Raketenabwehrschild ein.
[Bild: https://img.lemde.fr/2023/09/19/0/0/6000...537466.jpg]
Das Gespräch führten Cédric Pietralunga, Elise Vincent und Thomas Wieder (Berlin, Korrespondent).
Veröffentlicht am 20. September 2023 um 06h15, geändert am 20. September 2023 um 13h56
Armeeminister Sébastien Lecornu empfängt am Donnerstag, den 21. September, seinen Amtskollegen Boris Pistorius auf dem Luftwaffenstützpunkt Evreux, um das deutsch-französische Projekt des Kampfpanzers MGCS ("main ground combat system") wiederzubeleben. Bei dieser Gelegenheit wurden auch die Differenzen im Verteidigungsbereich angesprochen, die die Beziehungen zwischen den beiden Ländern belasten.
Vor einigen Tagen berichtete die deutsche Presse über ein neues europäisches Panzerprojekt zwischen Deutschen, Spaniern und Italienern, was in Frankreich für Aufregung sorgte. Konkurriert es mit dem deutsch-französischen Projekt des MGCS, das 2017 ins Leben gerufen wurde und nun ins Stocken geraten zu sein scheint?
Boris Pistorius: Sie haben Recht, es gibt ein europäisches Projekt zur Entwicklung eines modernen Panzers. Aber es ist kein Projekt, das von Staaten initiiert wird. Es sind private Unternehmen der Rüstungsindustrie, die daran beteiligt sind.
Für uns stellt dieses Projekt daher keine Alternative zum MGCS dar. Sébastien Lecornu und ich sind entschlossen, das MGCS-Projekt fortzusetzen und damit den Grundstein für eines der modernsten gepanzerten Systeme der Welt zu legen. Unsere Teams und wir treffen uns zu diesem Zweck sehr regelmäßig und führen intensive Diskussionen. Unsere gemeinsame Idee ist es, das MGCS als ein offenes Projekt zu betrachten, so dass sich andere Partner aus der Europäischen Union [EU] anschließen können.
Der politische Wille, das MGCS zum Erfolg zu führen, ist spürbar, aber zwischen dem französischen Industrieunternehmen Nexter und seinen deutschen Partnern Rheinmetall und KMW ist es komplizierter. Wie kann es gelingen, dass sie sich einigen?
B. P.: Die Rüstungsindustrie setzt sich ihre eigenen Ziele. Aber das MGCS ist ein Projekt der französischen und der deutschen Regierung. Es sind also unsere beiden Regierungen, die das Tempo vorgeben. Wir entscheiden gemeinsam über die verschiedenen Etappen seiner Verwirklichung. Wir werden natürlich weiterhin mit der Industrie zusammenarbeiten und gemeinsam die Bedingungen für diejenigen festlegen, die an dem Projekt beteiligt sind.
Sébastien Lecornu: Es liegt an den Staaten, das Lastenheft zu halten, denn sie sind die Kunden für ihre eigenen Armeen. Mit Boris Pistorius haben wir eine pragmatische methodische Entscheidung getroffen, wie wir es auch bei der Einführung des SCAF [Kampfflugzeug der Zukunft] getan haben, nämlich einen Dialog zwischen unseren Heeren zu ermöglichen, um sicherzustellen, dass wir tatsächlich denselben Panzer benötigen. Wir sprechen von einem Panzer für die nächsten dreißig, vierzig oder sogar fünfzig Jahre.
Mit dem MGCS geht es nicht nur um die Nachfolge des deutschen Leopard oder des französischen Leclerc, sondern natürlich auch um die Definition eines Waffensystems der neuen Generation mit bedeutenden technologischen Brüchen. Am Donnerstag werden wir in Evreux die von den Generalstäben unserer beiden Armeen geäußerten operativen Bedürfnisse politisch bestätigen. Dies wird es uns ermöglichen, anschließend "Säulen" der Verantwortung festzulegen, für die Feuer [die Bewaffnung des Panzers], für die Konnektivität etc.
Wann rechnen Sie mit der Einführung des MGCS?
S. L.: Wir werden einen Zeitplan festlegen, der die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt. Von Deutschland, das einen Teil seines Angebots an gepanzerter Kavallerie regenerieren muss, mit der Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine. Aber auch von Frankreich, das einen Teil seiner Leclerc-Panzer erneuert, um ihre Lebensdauer über das Jahr 2040 hinaus zu verlängern. Der Zeitplan für das MGCS muss mit dem Ende des Zeitplans für den Leopard und den Leclerc übereinstimmen. Im neuen französischen Militärprogrammgesetz [2024-2030] sind bereits fast eine halbe Milliarde Euro für dieses Projekt vorgesehen.
Vor einem Jahr kündigte Deutschland den Start eines Projekts für einen europäischen Raketenabwehrschild durch den gemeinsamen Kauf von deutschem, amerikanischem und israelischem Material an, was Paris verärgert hat. Wie ist der Stand der Dinge?
B. P.: 19 Länder haben sich der Initiative "European Sky Shield", dem europäischen Raketenabwehrschild, angeschlossen, darunter die neutralen Länder Österreich und die Schweiz. Zwei weitere Länder haben ihr Interesse bekundet. Uns geht es darum, so schnell wie möglich einen Schild über Europa zu haben. Wir sind bereit, außereuropäische Systeme zu erwerben, bis wir unsere eigenen Systeme in Europa entwickelt haben. Es handelt sich um ein offenes Projekt, das daher natürlich auch für unsere französischen Freunde offen ist.
Vor dem Sommer ließ Frankreich verlauten, dass es sich von der Teilnahme an diesem Projekt zurückgezogen habe. Ist dies immer noch der Fall?
S. L.: Durch die Luftverteidigungskonferenz für Europa, die Frankreich im Juni mit siebzehn europäischen Staaten ins Leben gerufen hat, haben wir die Frage der Verteidigung des europäischen Luftraums auf globale Weise zur Sprache gebracht. Diese Initiative konzentriert sich nicht nur auf die Boden-Luft-Raketenabwehr und ist nicht nur kapazitäts- oder industriebezogen, sondern betrifft auch alle ihre Komponenten, von der Drohnenbekämpfung über die Luft-Luft-Abwehr bis hin zum Weltraum.
Im Weltraum stellt sich jedoch die heikle Frage der Verbindung mit der nuklearen Abschreckung. Als [Atomwaffen-]Macht muss Frankreich diese Frage ebenso stellen wie die Briten oder die Amerikaner. Im Übrigen werden zu einem Zeitpunkt, da die europäischen Steuerzahler viel Geld auf den Tisch legen müssen und Europa eher versucht, die europäische Verteidigungsindustrie zu fördern, alle zustimmen, dass wir unsere Autonomie nicht durch den Kauf des amerikanischen Patriot-Systems [das im deutschen Projekt vorgeschlagen wird] stärken werden.
Was antwortet Berlin denjenigen, die insbesondere in Frankreich der Ansicht sind, dass Deutschland das trojanische Pferd der US-Verteidigungsindustrie in Europa ist?
B. P.: Wir können es uns nicht leisten, Zeit damit zu verschwenden, uns auszurüsten und zu schützen. Deshalb haben wir in Deutschland beschlossen, auf das Gaspedal zu treten. Der Sonderfonds in Höhe von 100 Milliarden Euro [der von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022, drei Tage nach dem Einmarsch in die Ukraine, beschlossen wurde] hilft uns, in dringend benötigte Systeme zu investieren.
Die europäische Verteidigungsindustrie, einschließlich der französischen, sind natürlich wichtige Partner, aber sie können uns nicht alles liefern, was wir brauchen. Was die USA betrifft, so sind sie unsere Verbündeten und unser wichtigster Partner in der NATO. Es ist absolut vertretbar, amerikanische Systeme zu kaufen und umgekehrt Waffen an unsere amerikanischen Freunde zu verkaufen.
"Deutschland wird bald die größte konventionelle Armee Europas im Rahmen der NATO haben", sagte Scholz im Mai 2022. Was ist mit "bald" gemeint?
B. P.: Ich kann Ihnen kein Datum nennen. Wichtig ist das Gesamtziel, das gesetzt wird: Angesichts der aktuellen Entwicklungen müssen wir unsere Fähigkeiten anpassen. Es liegt in unserem Interesse wie auch in dem unserer europäischen Verbündeten und der NATO, dass wir eine Armee haben, die auf alle Arten von Bedrohungen reagieren kann.
Freut sich Frankreich darüber, dass die Bundeswehr zu einer der größten Armeen in Europa wird?
S. L.: Wir sind eine Atommacht. Unser Armeemodell wird sich daher zwangsläufig immer von dem eines Landes unterscheiden, das nicht atomar ist. Warum haben wir weniger Leclerc-Panzer als die Bundeswehr Leopard-Panzer? Weil unsere Armee seit den 1960er Jahren nach einem konventionellen Modell organisiert ist, das auf Expeditionen umgeschlagen ist, während die Verteidigung unserer vitalen Interessen durch unsere nukleare Abschreckung gewährleistet wird.
Abgesehen davon sollten wir froh sein, dass wir europäische Länder mit stärkeren Armeen haben. Deutschland hat heute einen großen Ehrgeiz. Ich respektiere es zutiefst, denn die Bedrohungen, die auf Deutschland lasten, können auch auf Frankreich lasten und umgekehrt.
Fast anderthalb Jahre nach der Einrichtung des 100-Milliarden-Euro-Sonderfonds zur Modernisierung der Bundeswehr: Wie viel davon wurde bereits ausgegeben?
B. P.: Bis zum Ende des Jahres werden zwei Drittel des Sondervermögens vertraglich gebunden sein. Damit werden wir amerikanische Kampfflugzeuge vom Typ F-35 oder das Weltraumfrühwarnsystem Twister beschaffen. Normalerweise vergehen Jahre zwischen der Unterzeichnung der Verträge, dem Ende der Produktion und der Auslieferung der Systeme an ihre Einheiten. Unseren Prognosen zufolge wird der gesamte Sonderfonds bis 2027, spätestens aber 2028 ausgegeben sein.
Herr Scholz sagte, Deutschland werde 2024 das 2 %-Ziel erreichen, das die NATO ihren Mitgliedern gesetzt hat. Dies werde dank des Sonderfonds möglich sein. Aber was passiert, wenn dieser aufgebraucht ist?
B. P.: Wir haben uns darauf geeinigt, die 2 % im Durchschnitt über Fünfjahreszeiträume zu erreichen. Das bedeutet, dass wir manchmal etwas darüber und manchmal etwas darunter liegen werden. Wichtig ist, dass wir diese 2 % im Jahresdurchschnitt erreichen. Eines ist aber auf jeden Fall ganz klar: Auch nach der Verwendung des Sonderfonds werden wir dieses Ziel weiterhin erreichen. Die gemeinsame Erklärung des NATO-Gipfels in Vilnius [im Juli] unterstreicht diese Absicht sehr deutlich.
Deutschland kündigte im Juni die Stationierung einer Brigade mit 4000 deutschen Soldaten in Litauen an, um die Ostflanke der NATO zu stärken. Innerhalb der Bundeswehr und der NATO zweifeln jedoch viele an der Durchführbarkeit dieses Vorhabens. Gibt es einen Zeitplan?
B. P.: Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs stellte Westdeutschland die Ostflanke der NATO dar. Es wurde von den NATO-Verbündeten geschützt. Wir sind uns unserer derzeitigen Verantwortung bewusst und nehmen sie voll und ganz wahr. So wollen wir unseren Beitrag zur Verteidigung der Ostflanke leisten. Dies ist das Ziel der Brigade in Litauen.
Wir werden bis Ende des Jahres mit unseren litauischen Freunden einen Fahrplan beschließen. Eines ist sicher: Wir werden eine beträchtliche Infrastruktur für diese Brigade benötigen (Unterkünfte für unsere Soldaten, Schulen für ihre Kinder...). Es handelt sich um ein Mammutprojekt, das die Bundeswehr vor neue Herausforderungen stellt. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass wir sie meistern werden.
Frankreich und Großbritannien liefern seit dem Frühsommer Marschflugkörper (Scalp und Storm Shadow) an die Ukraine, aber Berlin weigert sich immer noch, das deutsche Pendant (Taurus) zu liefern. Was sind die Gründe dafür?
B. P.: Nein, wir verweigern die Lieferung dieser Raketen nicht. Wir prüfen den Antrag und seine Konsequenzen, was bedeutet, dass wir bestimmte technische oder rechtliche Gegebenheiten berücksichtigen müssen. Mir ist bewusst, dass dies einige Zeit in Anspruch nimmt. Aber bei den Taurus-Marschflugkörpern handelt es sich um Systeme mit sehr großer Reichweite. Ich verstehe den Nutzen, den sie für unsere ukrainischen Freunde haben können. Es bleibt jedoch unsere Pflicht, alle aufkommenden Fragen zu untersuchen.
Deutschland ist übrigens der zweitgrößte Geber von Hilfsgütern für die Ukraine und der größte in Europa. Wir liefern bereits viele wichtige Systeme, insbesondere für die Luftabwehr, sowie viel Munition. All dies trägt dazu bei, dass in der Ukraine täglich Leben gerettet werden.
Reicht Ihnen das Versprechen Kiews, diese Raketen nicht außerhalb der Grenzen der Ukraine einzusetzen, nicht aus?
B. P.: Diese Zusage ist natürlich wichtig, aber sie ist nicht das einzige Analyseelement.
In den letzten Wochen sind mehrmals russische Drohnen auf rumänischen Boden gefallen. Warum reagiert das Atlantische Bündnis nicht stärker?
B. P.: Wenn man Ihnen zuhört, klingt es so, als würden wir nichts tun. Das ist nicht der Fall. Wir stehen in engem Kontakt mit Rumänien, das um unsere Unterstützung gebeten hat, aber wir wollen keine Überreaktion oder Eskalation provozieren. Wir verfolgen diese Entwicklungen und drücken unseren Verbündeten gegenüber unsere volle Solidarität aus. Das Wichtigste ist, dass wir uns unter Wahrung unserer Ruhe abstimmen, um dem rumänischen Luftraum das erforderliche Maß an Schutz zu gewähren.
S. L.: Frankreich verurteilt natürlich jeden Angriff auf die Sicherheit seiner Verbündeten. Wir haben Boden-Luft-Abwehrmittel mit einer Batterie von SAMP/T eingesetzt, um den Schutz eines Teils des rumänischen Luftraums zu gewährleisten. Dies zeigt, entgegen dem, was man manchmal von der französischen politischen Klasse hört, dass dieser Krieg nicht nur der Krieg des ukrainischen Volkes ist, sondern dass er sehr wohl viel globalere Sicherheitsfragen in Mitteleuropa und darüber hinaus aufwirft.
Deutschland hat heute etwa 100 Soldaten auf demselben Stützpunkt wie die Franzosen in Niamey, Niger. Hat Berlin vor, sie dort zu belassen, auch wenn die Junta, die im Sommer die Macht übernommen hat, weiterhin an der Macht bleibt?
B. P.: Die Sicherheitslage ist für uns entscheidend. Unsere Soldaten vor Ort sind derzeit nicht gefährdet. Niamey spielt eine wichtige Rolle bei unserem logistischen Rückzug aus dem benachbarten Mali. Es ist immer gut, Ansprechpartner vor Ort zu haben und sich nicht komplett zurückzuziehen, solange wir nicht völlig dazu gezwungen sind. Wenn wir einen Punkt erreichen, an dem es keinen Grund mehr gibt, zu bleiben, und die Gefahr zu groß ist, ja, dann werden wir uns zurückziehen. Wenn die französischen Einheiten abziehen würden, wäre die Frage des Rückzugs für uns lebhafter. Wir müssten erneut darüber nachdenken.
Worauf wartet Frankreich heute, außer auf ein hypothetisches Rückzugsgesuch des nigrischen Präsidenten Mohamed Bazoum selbst, um seine Truppen abzuziehen, wie es die Junta seit mehreren Wochen fordert?
S. L.: Wir haben keine Forderungen von der Junta entgegenzunehmen. Dieser Putsch lässt im Übrigen den Kampf gegen den Terrorismus in den Hintergrund treten. Staatschef Emmanuel Macron hat es mehrfach gesagt: In Niger gibt es einen rechtmäßig und demokratisch gewählten Präsidenten. Ich denke, wenn wir in einem EU-Land einen Staatsstreich unter Führung von Generälen gehabt hätten, die einen gewählten Präsidenten gestürzt hätten, hätte niemand diese vollendeten Tatsachen akzeptiert. Wir setzen uns aktiv für eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung ein.