Kontrafaktische Geschichte: Westfeldzug 1940
#15
Das ist eine wesentliche Fragestellung und sehr schwer zu beantworten, weil: wie Schneemann ja schon korrekt angemerkt hat, dürfen wir nicht von den Verhältnissen ausgehen wie sie dann real 1940 waren.

Seine Annahme ist ja, dass bei einer Festlegung auf eine rein Defensive Strategie und zugleich auf einen frühen und massiven Umstieg auf eine strategische Tiefenrüstung die Verhältnisse im Westen ganz andere gewesen wären.

In der Realität war der Westwall meiner Ansicht nach (!) mehr eine Waffe der psychologischen Kriegsführung als ein realer militärischer Mehrwert. Da klafften Lücken ohnegleichen und vieles was da gebaut wurde hätte eine ernsthafte und systematische Großoffensive der französischen Armee nicht aufgehalten. Das wurde so auch von vielen hochrangigen deutschen Offizieren immer wieder so geäußert, u.a. von Halder.

Auch spätere Kämpfe wie die Hölle von Orscholz belegen nicht den militärischen Wert des Westwalls, sondern resultieren aus einem ganzen Faktorenbündel.

ABER: wenn nach dem Polenfeldzug eine Defensive Strategie festgelegt worden wäre (worauf etliche hochrangige deutsche Generale sogar hinaus wollten), dann wäre der Westwall gesichert anders gebaut worden, wesentlich stärker. Die Frage ist, hätte man dies bis zum Herbst 1940 noch bewerkstelligen können und wie sah es überhaupt kriegswirtschaftlich aus?

Den die These von Schneemann ist ja, dass eine ernsthafte strategische Tiefenrüstung deutlich größere deutsche Produktionskapaziäten erzeugt hätte, entsprechend die Produktion erheblich gesteigert worden wäre. Aber wäre das überhaupt möglich gewesen? Den der Bau des Westwalls verschlung bereits so (in einer unzureichenden Form) derart viele Mittel dass es erstaunlich ist. Da wurde beispielsweise mehr Stahl verplempert als für die Panzerproduktion! (in Tonnen nachweisbar, die konkreten Zahlen müsste ich raussuchen) und man beachte in diesem Kontext die Munitionshysterie dieser Zeit welche vor allem auch aus einem festgestellten Mangel an Stahl und Pulver herrührte. Die Anforderungen bissen sich also. Hätte eine deutlich gesteigerte Produktion das aber auflösen können, ausreichend Munition bereit stellen und den Westwall auf volle Stärke bringen können?

Zunächst mal zu den realen Produktionssteigerungen (Quelle Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs von Müller)

Im Jahr 1940 steigerte das Reich seine Rüstungsproduktion um 76%, die USA um 150%, die Franzosen um 200% und die Briten um 250%

1941 steigerte das Reich seine Rüstungsproduktion de facto nicht, verschob aber die Schwerpunkte drastisch (beispielsweise hat man 1940 mehr Stahl für den Westwall aufgewendet als für Panzer), also 0%, die Briten steigerten ihre Rüstungsproduktion um 86% und die USA um 200%.

Diese Produktionssteigerungen fielen für das deutsche Reich meiner Meinung nach aus folgenden Gründen so niedrig aus:

1. Man wollte die Wirtschaft nicht vollumfänglich auf eine Kriegswirtschaft umstellen. Dies wird von Historikern oft so erklärt, dass man damit das Volk bei der Stange halten wollte. Tatsächlich aber wollte die NS Führung ursprünglich mit dieser bedächtigeren und langsameren Rüstung auf einen jahrelangen Krieg mit den Westmächten hinaus, damit in einem noch Jahre andauerenden Ringen mit hohen Verlusten der Krieg insgesamt durchgehalten werden kann. Das findet sich in etlichen Denkschriften dieser Zeit, beispielsweise von Generalmajor Thomas / bzw. des Heereswaffenamtes. Ob dieser Grundgedanke dann bei einer Defensiven Strategie im Westen völlig aufgegeben worden wäre ist zweifelhaft ! Die deutsche Wirtschaft war auch 1940 keine Friedenswirtschaft mehr, sondern im Prinzip eine Übergangsform zur Kriegswirtschaft.

2. Der NS Staat war in vielen Aspekten heillos ineffizient. Das war absichtlich so, und diente der internen Machterhaltung. Es herrschte teilweise ein unglaubliches Durcheinander und eine den Begriff Führerstaat geradezu ins Gegenteil verkehrende Führungslosigkeit in vielen Bereichen. Dies behinderte die effektive Rüstung Deutschland so sehr, dass der Reichswirtschaftsminister dazu schrieb Zitat: "Um dies Durcheinander weiter auszuhalten muss man verrückt sein oder besoffen."

Auch wenn wir entgegen der Realität 1940 davon ausgehen, dass man auf eine totale Kriegswirtschaft umgestellt hätte, so wäre trotzdem die Steigerung der Produktion hinter den Alliierten deutlich zurück geblieben. Dazu muss man noch berücksichtigen, dass bei der von mir eingangs genannten realen Steigerung 1940 (auf das ganze Jahr bezogen) ja die Einnahme Frankreichs und die entsprechende Beute die man daraus beziehen konnte eine wesentliche Rolle spielt. Ohne die Besetzung Frankreichs aber hätte hier vieles gefehlt, von bestimmten Rohstoffen bis hin zu französischen Zwangsarbeitern und den Facharbeitern des Vichy Regimes welche nach Deutschland entsandt wurden.

Da wir gerade bei im Vergleich zu Artilerie, Panzern, Flugzeugen weniger beachteten aber wesentlicheren Nebenbereichen sind: Beispielsweise hatte die deutsche Wehrmacht gerade mal 120.000 Lastkraftwagen, die französiche Armee demgegenüber 300.000. Die Produktionsrate war in Deutschland bis zum Sieg über Frankreich so gering, dass sie gerademal die monatlichen Ausfälle deckte. Das ging so weit, dass Halder eine Entmotorisierung vieler Divisionen forderte, und eine bewusste Beschränkung der Motorfahrzeuge in den Großkampfverbänden, weil man die notwendigen Zahlen nicht würde produzieren können. Erst der Sieg über Frankreich änderte das (was aber ja in unserem Fall nicht der Fall gewesen wäre) und trotzdem war die Wehrmacht dann im Weiteren mehr mit Pferden als mit Lastwagen unterwegs.

Kommen wir also zu den theroetischen Steigerungen der Rüstungsproduktion unter den Annahmen von Schneemann und nehmen wir also an, dass deutsche Reich hätte seine Rüstungsproduktion um 200% gesteigert, statt nur um 76% ! Dann wäre der Westwall sicher bis zum Herbst 1940 in ausreichender Stärke fertig gewesen, zudem hätte man auch sonst (Luftwaffe, Artillerie, Munition) überall deutlich aufgeholt - insbesondere wenn man die Marinerüstung weglässt wie Schneemann es annimmt.

Dem stehen dann aber immer noch die 150% für die USA, die 200% für Frankreich und die 250% für Britannien gegenüber, und dass sind die Zahlen wie sie real waren. Nun hätten auch diese Mächte ihre Produktion ja ebenfalls noch weiter anwerfen können, wie beispielsweise auch die USA ihre Produktion dann 1941 nochmals deutlich steigerten. Und man kann nun sicher annehmen, dass England wie Frankreich diese US Rüstungsgüter in großen Mengen abgenommen hätten.

Wenn der Krieg noch länger gedauert hätte, dann wären analog zu den Lieferungen an die Sowjets (die ins unserem Fallbeispiel ja ausfallen) auch entsprechende Lieferungen der USA denkbar gewesen.

Kurz und einfach: Es spielt gar keine Rolle wie sehr das Reich seine Rüstungsproduktion gesteigert hätte, die Trias aus Frankreich, den USA und Großbritannien hätte das Reich totgerüstet. Selbst bei Annahme völlig unrealistischer Steigerungen wie ich sie eben genannt habe, unrealistisch deshalb, weil die ganze Führungsstruktur und Organisation des NS Staates solche Steigerungen zu diesem Zeitpunkt kaum möglich machten und weil man bereits in einer Übergangsform zur Kriegswirtschaft war und weil man die ganze Beute aus Frankreich und die 1 Millionen französische Arbeiter nicht zur Verfügung hatte und und und.

Wie man es also dreht und wendet, das Reich wäre recht schnell kriegswirtschaftlich weit ins Hintertreffen geraten. Diese meine Ansicht wurde so auch von allen Generalen der Wehrmacht, von Hitler selbst, vom Reichswirtschaftsminister und allen anderen Stellen im Reich damals exakt so geteilt und auch so geäußert. Gerade deshalb der Angriff auf Frankreich!

Bei einer unrealistischen Steigerung wäre aber immerhin der Westwall in dem von mir beschriebenen Operationsgebiet fertig gewesen und hätte dort natürlich, gesteigert noch durch das Gelände, die schwere deutsche Artillerie und die auf taktische Luftnahunterstützung hin ausgerichtete Luftwaffe einen Offensiven Sieg der Westalliierten erheblich erschwert, eventuell auch verunmöglicht.

Von daher halte ich die Erfolgsaussichten einer Offensive nach dem damaligen Muste der französischen Doktrin, also systemtatisch, linear, mit extremer Artillerievorbereitung für fragwürdig ! Eine solche de facto Entscheidungsschlacht - als Abnutzungsschlacht um die Eifel hätte sowohl mit einer Niederlage als auch mit einem Sieg enden können.

Damit wären wir dann bei einer höheren Wahrscheinlichkeit für das von mir im Eintrag zuvor unter 2. genannte Geschehen eines längeren Abnutzungskrieges, schlußendlich eines strategischen Bombenkrieges und schließlich eines Ermattungsfriedens und/oder dem Einsatz von Nuklearwaffen, ohne dass eine der beiden Seiten die andere hätte komplett werfen können. Die Front wäre daher dann 1945 immer noch ungefähr entlang der Landesgrenzen verlaufen.

Das ist aber kein sicheres Axiom. Ebensogut hätte der Westwall auch 1940 fallen können, auch in seiner ausgebauten vollständigen Form, und dann wäre das Ruhrgebiet erheblich bedroht gewesen, folglich hätte man zwingend dann die Entscheidungsschlacht von deutscher Seite führen müssen, sonst wäre es das gewesen.

Halder schreibt in seinem Kriegstagebuch übrigens, dass ein entschlossener französischer Großangriff 1939 während die Wehrmacht in Polen war das Ruhrgebiet in jedem Fall erreicht und eingenommen hätte. Hier hat man also Seitens der Westalliierten im Endeffekt DIE Chance überhaupt einfach vertan. Den dann wäre der Krieg bereits 1939 unrettbar verloren gewesen für Deutschland.

Aber das ist ja nicht unser Szenario hier.

Zusammenfassung:

Unter den getroffenen Annahmen ist der Ausgang der Entscheidungsschlacht der Offensive in der Eifel meiner Überzeugung nach fragwürdig. Sie hätte je nach den Umständen sowohl mit einem deutschen als auch einem westalliierten Sieg enden könnnen. Das hängt von vielen weiteren Faktoren ab, wie dem beispielsweise dem Wetter, der Frage ob der flankierende Angriff am Rhein entlang linkshreinisch nach Norden durchbricht, wie die Luftschlacht ausgeht usw. Welche Seite daher hier den Sieg dann davon getragen hätte ist meiner Meinung nach nicht kalkulierbar.

Wenn die Westalliierten diese Schlacht gewonnen hätten - und die Chance dazu hätte immerhin bestanden, wäre es das gewesen.

Falls nicht, wäre der Krieg endlose Jahre im Prinzip ohne jedweden Frontverlauf weiter gegangen und wäre im weiteren sehr stark zu einem strategischen Bombenkrieg geworden, und schließlich zu einem Ermattungsfrieden.
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RE: Kontrafaktische Geschichte: Westfeldzug 1940 - von Quintus Fabius - 24.04.2022, 23:07

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