FR/EU: Nukleare Abschreckung
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Zitat:Sammelfaden Meinungen (nicht offizel zur nuklearen Abschreckung)

Eine europäische nukleare Abschreckung von morgen?
Theatrum Belli (franzöisch)
von Raphaël CHAUVANCY
[Bild: https://theatrum-belli.com/wp-content/up...e-ASMP.jpg]
Rafale bewaffnet mit einer Luft-Boden-Rakete ASMP-A (nuklear) und 4 Luft-Luft-Raketen MICA EM. Credit: Französische Luftwaffe.
Die australische U-Boot-Affäre hatte das Verdienst, die Franzosen an eine Wahrheit zu erinnern. In der Politik tritt die Freundschaft hinter den Interessen zurück. Amerika ist keine Wohltätigkeitsorganisation, sondern eine Macht mit industriellen und geostrategischen Interessen. Es ist legitim, dass sie sie verteidigt. Es ist ebenso legitim, dass sich Frankreich und die Europäer fragen, welche Konsequenzen dies für sie haben wird.

Washington hielt es offensichtlich nicht für angebracht, seine Interessen im Pazifik der französischen Allianz zu opfern. Dies sollte die europäischen Nationen, die ihr ihre Sicherheit anvertraut haben, beunruhigen. Sie glauben, dass sie durch die Militärversicherung abgedeckt sind. Aber was ist damit?

Abgesehen von Frankreich ist heute kein Land in der Europäischen Union in der Lage, seine Sicherheit zu gewährleisten. Ihre Armeen haben keine operative Aufgabe. Die Vereinigten Staaten, für die sie keine andere Qualität haben, als die von den USA hergestellten Ausrüstungen zu kaufen, wollten sich gar nicht erst mit ihnen in Afghanistan einlassen. Dennoch haben sie den Betrieb nicht beeinträchtigt. Eingesperrt in ihren befestigten Lagern begnügten sie sich damit, in Abwesenheit der Taliban die Zeit totzuschlagen. Sie verteilten nur zufällig ein paar Bücher an Analphabeten in den Nachbardörfern und Wasserpakete an deren Eltern, die sie an die Aufständischen verkauften. Auf jeden Fall bestätigte das Abenteuer den Europäern, dass das Führen von Kriegen eine gefährliche und unangenehme Angelegenheit ist, die man besser anderen überlässt.

Ist die US-Atomgarantie unnötig oder gefährlich?
Das Hauptargument für die amerikanische Führungsrolle in Europa ist die nukleare Garantie. Entgegen der landläufigen Meinung ist sie jedoch praktisch nutzlos. Die hypothetische Invasion eines europäischen Staates durch eine Großmacht konnte bisher nur von Russland durchgeführt werden. Das Weiße Haus würde niemals riskieren, einen strategischen Schlag zu befehlen, der das amerikanische Territorium einer gleichwertigen Reaktion aussetzen würde. Niemals. Während des Kalten Krieges war dies nicht geplant. 1978 warnte Kissinger die Europäer, dass die Vereinigten Staaten ihnen keine strategischen Zusicherungen geben könnten. Jetzt, da Russland auf der US-Agenda hinter China zurückfällt, ist die Wahrscheinlichkeit dafür gleich Null.

Was bleibt, ist die herkömmliche Garantie. Die US-Streitkräfte in Europa zählen 70.000 Mann. Das ist eine kleine Zahl im Vergleich zu den russischen Massen. Der neue Impuls, den die US-Armee den taktischen Atomwaffen gegeben hat, stellt jedoch ein gewisses Gleichgewicht wieder her. Sie sind weniger leistungsfähig als strategische Bomben und können lokal eingesetzt werden, um die operative Vorherrschaft in einer schlecht geführten Schlacht wiederzuerlangen. Die Russen argumentieren, dass jeder Einsatz von Atomwaffen gegen sie, egal wie stark, als strategischer Angriff gewertet würde. Aber wenn sie es täten, würden sie sich höchstwahrscheinlich mit einer lokal begrenzten Reaktion zufrieden geben. Europa würde zu einem nuklearen Schlachtfeld. Die amerikanische "Garantie" birgt somit den Keim einer großen Bedrohung und ein Risiko, das weit größer ist als der Gewinn.

Es gibt jedoch eine Alternative, die von allen französischen Präsidenten, unabhängig von ihrem politischen Etikett, unterstützt wird. Die einer europäischen Verteidigung und einer strategischen Autonomie des Kontinents. Frankreich würde dabei eine führende Rolle spielen, die seinem Status als führende Militärmacht des Kontinents entspricht, mit dem zusätzlichen Vorteil der nuklearen Abschreckung.

Im Gegensatz zu Washington kann Paris nicht umhin, jede Bedrohung der Integrität der Europäischen Union als einen Angriff auf seine unmittelbaren grundlegenden Interessen zu betrachten. Frankreichs strategische Stärke ist natürlich nicht so groß wie die der Amerikaner oder Russen. Sie ist ausreichend, um eine glaubwürdige Abschreckung auszuüben, und entspricht dem Bild ihrer Ambitionen: die Ablehnung des Imperialismus, das Gleichgewicht zwischen den Mächten, der nicht greifbare Wille, die Souveränität ihrer Grenzen zu gewährleisten. Diese einfachen Wahrheiten stehen im Widerspruch zu der von den Amerikanern aufgestellten Behauptung, Europa sei nicht in der Lage, sich selbst zu schützen.

Wie jene barbarischen Könige, die so eifersüchtig aufeinander waren, dass sie sich schließlich in die Hände Roms warfen, unterwerfen sich unsere europäischen Partner Washington einerseits aus Bequemlichkeit und andererseits aus Ablehnung der französischen Führung. Frankreich hat jedoch weder die Absicht noch die Mittel, ein ähnliches Abhängigkeitsverhältnis wie die Vereinigten Staaten zu schaffen. Als Mittelmacht kann sie ihre Interessen nur durch Partnerschaft und Gegenseitigkeit verteidigen, nicht aber durch interessenfremde Vorherrschaft.

Informationskriegsführung für die europäische Verteidigung
Mit rationalen Argumenten allein lässt sich die amerikanische Sichtweise zwar nicht entkräften, aber eine Informationsoffensive könnte die Fronten verschieben. Die amerikanischen Widersprüche in Europa warten nur darauf, ausgenutzt zu werden. Erstens ist die öffentliche Meinung in Europa weitaus weniger atlantisch eingestellt als ihre führenden Politiker. Neben einem sehr starken Netzwerk von Industriellen, die ihre kurzfristigen Interessen verteidigen, gibt es in Deutschland eine große Zahl von Bürgern, die offen sind für den Vorschlag einer nachhaltigen und verantwortungsvollen strategischen Vision. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung theoretisch die NATO befürwortet, ist nur eine Minderheit unserer Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins dafür, in ihrem Rahmen militärisch zu intervenieren. Es handelt sich nicht um einen Atlantizismus der Überzeugung, sondern der Gewohnheit, der keine wirkliche Bedeutung mehr hat. Was ist ein Bündnis, für das man nicht bereit ist, sich zu engagieren? Zweifellos nährt die Vorahnung, dass dieses Bündnis nicht den Interessen Europas dient, sondern es im Gegenteil in ein zweifelhaftes Abenteuer mit dem allzu mächtigen amerikanischen Verbündeten führen könnte, diese Skepsis, zusätzlich zu einem gewissen Antimilitarismus, der aus uns bekannten historischen Gründen kulturell geworden ist.

Frankreich würde davon profitieren, wenn es sich direkt an diese schweigenden Massen wenden würde, wenn es ihnen sein Projekt vorstellt und die Debatte in den Medien anregt. In einer Demokratie verliert man nie, wenn man sich auf das Verantwortungsbewusstsein der Bürger und auf die Tugenden der dialektischen Pädagogik verlässt. Im Informationszeitalter kann jedoch keine Vision, kein Projekt ohne die Unterstützung durch ein offensives Informationsmanöver gelingen.

Das ist nicht genug. Da sich das französische Narrativ und das strategische Projekt nicht durchgesetzt haben, sollten wir uns selbst in Frage stellen. Unser Angebot ist nicht attraktiv und unsere Kommunikation ist steril. Wir sollten es wagen, energische Maßnahmen zu ergreifen und mit neuem Einfluss zu kommunizieren.

Morgen eine europäische Atombombe?
Einige europäische Luftwaffen sind gerne bereit, amerikanische Atombomben zu transportieren. Aber die Virtualität der amerikanischen Abschreckung auf unserem Kontinent reduziert dieses Zugeständnis auf den Transport von gefährlichen Materialien.

Ist es illusorisch zu hoffen, dass eines Tages französische "Double-Key"-Atombomben von spanischen, italienischen oder deutschen Kampfflugzeugen im Rahmen einer echten kollektiven, streng europäischen Abschreckung getragen werden, bei der unsere Verbündeten ein volles Mitspracherecht und eine echte Entscheidungsbefugnis haben, ohne auf eine unveräußerliche nationale Abschreckung verzichten zu müssen? Was für ein Symbol und was für eine strategische Revolution! Es gäbe noch viele Schwierigkeiten zu überwinden, aber eine unumkehrbare Bewegung der Konvergenz und Gegenseitigkeit würde sich einstellen. Die EU, dieser militärische und politische Zwerg, würde plötzlich eine neue Glaubwürdigkeit erhalten. Die transatlantischen Beziehungen würden dank einer Neugewichtung, die die Abhängigkeit durch ein Bündnis ersetzt, aufrechterhalten werden. Europa könnte dem Zusammenprall der Imperialismen mit neuer Glaubwürdigkeit entgegentreten und von der leeren Beschwörung zur wirksamen Verteidigung seiner Werte übergehen. Durch die Schaffung einer wirksamen strategischen Synergie würden die Europäer endlich ihr Schicksal in die Hand nehmen.

Natürlich scheinen solche Aussichten so weit weg zu sein, dass sie nicht weit von Science Fiction entfernt sind. Vielleicht liegt es einfach daran, dass wir nicht wissen, wie wir sie verteidigen sollen. Wenn die atlantischen Eliten unserer Partner auf taube Ohren stoßen, sollten wir anfangen, direkt mit den Menschen zu sprechen. Der Zustand der Welt schafft interessante Handlungsspielräume. Wir sollten sie nicht vorbeilassen. Auf jeden Fall sollten wir mutig in unseren Ansichten und offensiv in unserer Kommunikation sein.


Zitat:Raphaël CHAUVANCY
Raphaël CHAUVANCY ist ein hoher Offizier bei den Marinetruppen. Derzeit ist er zu den britischen Kommandos abgeordnet und leitet außerdem das Modul "Machtstrategien" an der École de Guerre Économique (EGE) in Paris. Er konzentriert seine Forschung auf strategische Fragen und neue Konfliktsituationen. Er ist insbesondere Autor der Bücher "Bildung von Führungskräften für den Wirtschaftskrieg", "Als Frankreich die erste Weltmacht war" und kürzlich "Die neuen Gesichter des Krieges - Wie sich Frankreich auf die Konflikte von morgen vorbereiten muss". Seit April 2021 gehört er zum Team von THEATRUM BELLI.
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Nachrichten in diesem Thema
FR/EU: Nukleare Abschreckung - von voyageur - 09.10.2021, 14:43
RE: FR/EU: Nukleare Abschreckung - von voyageur - 24.03.2022, 11:05

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