04.09.2020, 12:28
(03.09.2020, 21:35)Quintus Fabius schrieb: Man kann hier durchaus Ottoman Legacy für seine realitätsfernen Phantasien kritisieren, sie zeigen aber meiner Meinung nach das entscheidende Problem auf: Nicht nur sehr viele Türken, auch die türkische Regierung haben nicht die gleiche Sicht der Dinge wie wir oder wie andere. Und gerade darin liegt die Gefahr, dass man aufgrund von falschen Informationen und falschen Annahmen zu Entscheidungen gelangt, die sich dann für alle als negativ bis katastrophal heraus stellen.
Zu leicht tut man daher so eine Meinung einfach ab. Die wesentliche Frage ist, ob die türkische Führung es nicht tatsächlich genau so sieht und aufgrund von jahrelanger Fehlwahrnehmung und Fehlinformation gar nicht mehr in der Lage ist die Fern- und Nebenwirkungen ihrer Handlungen tatsächlich richtig zu erkennen. Erdogan und seine Anhänger sind klassische Opfer des Bestätigungsfehlers. Sie haben bestimmte Ansichten welche sie frei aus dem Bauch heraus ohne jede tatsächliche Information so gebildet haben, und suchten dann und erhielten über Jahre hinweg nur dazu passende Informationen. Dieses falsche Bild der Lage ist deshalb sehr gefährlich.
Deshalb sind solche sehr abweichenden Meinungen meiner Ansicht nach durchaus wichtig, da sie aufzeigen, was für eine Haltung und was für eine Wahrnehmung der Welt andere einnehmen können, weil sie von Informationen ausgehen welche nicht mit den unsrigen übereinstimmen.
Der Mangel an Verständnis des Feindes kann leicht dazu führen, dass man bestehende Gefahren unterschätzt und dann entsprechend von den Ereignissen überrollt wird.
Die aktuelle türkische Politik versucht mit allen Mitteln, primär mit Erpressungen Vorteile für das türkische Volk zu erlangen. Das ist prinzipiell nicht falsch. Man will jetzt ein militärisches Drohszenario aufbauen, und damit Visafreiheit und Zollvorteile in der EU erzwingen und zusätzlich evtl. etwas vom Erdgas abbekommen. Das ist der eine Teil. Dazu tritt aber eben noch ein weiterer Teil, eine irrationale Haltung welche von falschen Grundannahmen ausgehend zu logischen rationalen Schlußfolgerungen ansetzt und dieser Zwiedenk ist meiner Meinung nach das definierende Element der aktuellen türkischen Politik.
Ein großer Motivator ist dabei die scheinbare (so wahrgenommene) Schwäche der westlichen Länder. Gerade deshalb solche Erpressungsversuche wie sie jetzt mit den Flüchtlingen an der griechischen Grenze veranstaltet wurden. Hier muss man entschieden antworten und der Türkei einen entsprechenden Schaden zufügen, damit eindeutig klar wird, dass diese Politik nicht toleriert wird.
Ansonsten wird diese explorative Aggression der Türkei nur immer weiter zunehmen.
Ich würde das soweit unterschreiben. Für Deutschland und einige andere EU-Staaten glaube ich aber dass die Schwäche nicht nur "scheinbar wahrgenommen" sondern leider real existent ist. Was nicht bedeutet dass dies zwangsweise so bleiben muss, was man in der Türkei wohl hofft. Zum Beispiel hat sich die EU durch ihre freizügige Flüchtlingspolitik erpressbar gemacht. Hätte Griechenland nicht beherzt reagiert dann hätte diese Erpressung auch sofort wieder funktioniert. Aber die türkische Regierung wird weiter auf dieser Schiene fahren. Nicht umsonst versucht man seit geraumer Zeit auch die Flüchtlingsströme über Libyen türkischerseits unter Kontrolle zu bringen, was zum Glück bisher durch Haftar und seine Unterstützer verhindert werden konnte. Bei Deutschland glaube ich übrigens tatsächlich dass man nicht für Griechenland Partei ergreifen würde, einfach schon aus dem Grund weil Erdogan sonst seine grob geschätzt 2 Millionen Anhänger in Deutschland mobilisieren könnte.