Türkei
Manche bedienen sich und leben ja gerne in Klischees. Aber dass es speziell den Kulturraum des Nahen Ostens auszeichnet, bei Schwierigkeiten im Inneren Bezüge zu äußeren Feinden herzuleiten, ist z.B. unter vergleichendem Blick auf europäische, nord- und südamerikanische Nationalisten nicht als Abgrenzungskriterium auszumachen. Vermeintlich "Schuld an der Misere" waren ja auch in Europa entweder die Juden, Türken, Muslime, Bänker, Chinesen, ...
Dem arabischen Kulturraum kann man aber derzeit durchaus neidvoll unterstellen, dass die Bürger verstanden haben, dass ihre Stimme im Kollektiv erhört werden sollte und das hat sicherlich den "Arabischen Frühling" geprägt.

In Europa ist die Entwicklung gegenläufig. In den letzten 50 Jahren ist der Gedanke des Kollektivs durch den Einfluss der amerikanischen Kultur fast vollkommen ausgelöscht worden. Die Kultur des Kollektivs wurde durch den modernen Individualismus ersetzt. Manche beschreiben in diesem Zusammenhang einen modernen Egosismus; vgl. F. Schirrmacher, 'EGO, das Spiel des Lebens'.
Der Solidaritätsgedanke als Gemeinschaftswert und -Erlebnis ist sehr unattraktiv geworden, viele haben ihn sogar zum persönlichen Feindbild erklärt. Die Menschen sind als Individuen Partei eines spieltheoretischen Models im Kampf gegeneinander um privaten und beruflichen Erfolg.

Gerade in einer sich stetig verschlechternden Wirtschaftslage und Sozialstruktur, wie wir sie derzeit erleben, welche ja vor allem auf die private Bereicherung der Eliten zurück zu führen ist, ist das eigentlich besonders fatal. Das macht es den Eliten noch erheblich leichter weiter zu wirtschaften bzw Kapital zu konzentrieren. Das ist ein inzwischen recht tief sitzender Mangel im hiesigen Demokratiegedanken. Das Ausmerzen des Kollektivs wird in einem möglichen "Europäischen Wirtschaftsherbst" noch eher dazu führen, dass sich die Bevölkerung gegenseitig zerfleischt, als dass sie sich gegen die Eliten im Kollektiv auflehnen.

Die Türkei ist sicherlich ein interessanter Fall weil wir einerseits mit dem Erstarken einer konservativen Form des Islam ein Kollektivphänomen beobachten können und andererseits auch gerade in den modernen Städten wie Istanbul ein erhebliches Maß an westlichem Individualismus vorzufinden ist. In der Türkei besteht damit durchaus die reelle Gefahr, dass sich an exakt diesen Bruchkanten die Gesellschaft spaltet! Im Zuge der jüngsten Straßenkämpfe war das bereits zu spüren. Es gibt kaum mehr jemanden in der Türkei, der Erdogan neutral gegenüber steht, sofern es diese neutrale Position zuvor überhaupt gegeben hat.
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