05.01.2012, 23:14
Peter Scholl-Latour schreibt in seinem neuen Buch "Arabiens Stunde der Wahrheit - Aufruht an der Schwelle Europas" auf Seite 156:
Schneemann, ich habe auch etwas Probleme damit, wenn man ethnische Konflikte, die es entlang aller Überschneidungsgebiete (Bruchzonen) gibt, unter dem Stichwort "Koranschüler", "Taliban" und "islamischer Terrorismus" vereinheitlicht.
Ja, es gibt Konflikte im Randgebiet der Umma - vom Balkan (Zerfall Jugoslawiens) über den Kaukasus bis hin zu den zentralasiatischen Staaten, in China wie auf dem indischen Subkontinent und natürlich in der Sahel-Zone Afrikas, dem geographsichen Sudan zwischen Atlantik und Rotem Meer.
Aber es ist sehr pauschal, dies so zu verschlagworten.
In Jugoslawien gab es genauso Zerfallsbewegung zwischen Katholien (Kroaten) und Orthodoxen (Serben) wie zwischen Muslimen (Bosniaken) und Orthodoxen (Serben), und der Konflikt zwischen Serben und Albanern ist weniger ein religiöser denn ein ethnischer Konflikt.
Die Konflikte im Kaukasus sind nicht religiös motiviert, sondern haben ethnische Ursachen - es handelt sich um Völker, die seit Jahrtausenden konkurrieren und heute zufällig dann auch noch andere religiöse Orientierungen haben.
Die Konflikte zwischen den verschiedenen Ethnien in Zentralasien (klassisches Beispiel: Afghanistan) spielen sich innerhalb der islamischen Gemeinschaft ab, genauso wie in Darfur. Es handelt sich um rein ethnische Konflikte, wobei die Paschtunen sich der extrem strengen Lehre der Deoband-Universität von Nordindien in Verbindung mit der (ursprünglich US-geförderten) wahabitischen Indktrination geöffnet haben.
In Darfur findet auch ein ethnischer Konflikt zwischen sunnitischen Völkern statt.
Und in Nigeria? Ich zitiere wieder Scholl-Latour (a.a.O., S. 143)
Diese Völker befinden sich im Dauerkonflikt. Die religiöse Orientierung (christlich und islamisch) dient der eigenen Identifikation, der "Selbstorientierung" dieser Ethnien. Sie ist Auswirkung und nicht Ursache einer Auseinandersetzung, die in einen ethnischen Bürgerkrieg münden kann.
Es geht nicht um "Muslim" gegen "Christen" sondern um "Haussa" gegen "Yoruba", die beide zufällig auch noch unterschiedliche religiöse Orientierungen haben - und daran dann als "die Feinde" festgemacht und identifiziert werden können. Einige Kilometer weiter östlich beweist Darfur, dass es im Kern gerade eben um keinen religiösen Konflikt geht. Dort stehen sich (in stärkerem Maße als in Nigeria) sunnitische Ethnien gegenüber, die sich nicht nur durch die Lebensweise - Hirten und Bauern - sondern auch noch durch die Sprache und die intensivere oder weniger intensive Pigmentierung der Haut unterscheiden.
Und der Konflikt spielt sich auch innerhalb der Ethnien ab - zwischen moderaten, auf Ausgleich bedachten Führern wie dem von Scholl-Latour erwähnten Emir von Kano, und den jugnen Heißspornen, die sich in sektierersichen Jugendbanden zusammen schließen, und dann (die Hells Angels lassen grüßen) auch über die staatlichen Grenzen hinweg Kontakte zu gleich gesinnten Jugendbanden in anderen Staaten aufnehmen.
Ohne religiösen Kontext würde man "Boko Haram" vielleicht als internationale Rockerbande, als mafiöse Verbrechergang oder als politische Terroristen einordnen. Der rein historisch übergestülpte religiöse Kontext macht diese Terror-Banden (die es im Übrigen auf "Christlicher" Seite genauso gibt) plötzlich zu islamistischen Taliban.
Aber wenn es sich denn wirklich auch um eine religiöse Gruppierung handelt, dann darf man nicht vergessen, dass gerade Nordafrika viele Bruderschaften und Orden aufweist. Scholl-Latour spricht immer wieder solche Gruppierungen an. Etwa die Derwische, die Bruderschaft der Tidjaniya aus Marokko usw usw usw.
und nur nebenbei: mit "Bruderschaft" oder "Orden" ist auch ein historisch wichtiger Kontext hergestellt. Diese islamischen Bruderschaften sind nämlich in Kontakt mit den Ritterorden und Laienbruderschaften der christlichen Kirchen als deren islamische Surrogate entatanden. Es wäre einmal eine interessante Aufgabe für Soziologen, die christlichen und die islamischen Bruderschaften und Orden zu vergleichen. Mit Gemeinschaften wie dem "Opus dei" sollten durchaus auch Vergleiche etwa hinsichtlich der Einbindung in das Umfeld und der Organisationsstruktur als "Quasi Parallelgesellschaft" möglich sein.
Zitat:Seit dem Jahr 2000 ist es in Nord-Nigeria fast täglich zu schweren interreligiösen Ausschreitungen gekommen. Zahlreiche Kirchen, aber auch Moscheen, wurden abgebrannt.Boko Haram ist also kein neues Problem, sondern Bestandteil eines massiven ethnischen Konflikts in Nigeria, de sich - wie Scholl-Latour anschließend schreibt - zu einer "dramatischen Spaltung" entwickeln könnte "...wie sie von Khartum gerade eingeleitet wurde." Und der von beiden Seiten voran getrieben wird. Es ist also einäugig oder halbblind, nur auf die Untaten der einen Seite zu schauen.
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Mit Sorge blickt nicht nur die Regierugn von Abuja auf die islamistischen Terroristen des Geheimbundes "Boko Haram", was man mit "westlicher Lebensstil ist Sünde" übersetzen könnte. Boko Haram möchte ganz Nigeria der koranischen Rechtsprechung unterwerfen. Nach diversen Attentaten gegen Polizeistationen und Gefängnisse begann man diese Gruppe mit El Quaida und den Taleban zu vergleichen.
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Der Emir von Kano hat sich von diesen Extremisten deutlich distanziert und ließ es u, daß im Juli 2009 das Hauptqaurtier von Boko Haram umzingelt und mehrere hundert Jihadisten getötet wurden.
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Schneemann, ich habe auch etwas Probleme damit, wenn man ethnische Konflikte, die es entlang aller Überschneidungsgebiete (Bruchzonen) gibt, unter dem Stichwort "Koranschüler", "Taliban" und "islamischer Terrorismus" vereinheitlicht.
Ja, es gibt Konflikte im Randgebiet der Umma - vom Balkan (Zerfall Jugoslawiens) über den Kaukasus bis hin zu den zentralasiatischen Staaten, in China wie auf dem indischen Subkontinent und natürlich in der Sahel-Zone Afrikas, dem geographsichen Sudan zwischen Atlantik und Rotem Meer.
Aber es ist sehr pauschal, dies so zu verschlagworten.
In Jugoslawien gab es genauso Zerfallsbewegung zwischen Katholien (Kroaten) und Orthodoxen (Serben) wie zwischen Muslimen (Bosniaken) und Orthodoxen (Serben), und der Konflikt zwischen Serben und Albanern ist weniger ein religiöser denn ein ethnischer Konflikt.
Die Konflikte im Kaukasus sind nicht religiös motiviert, sondern haben ethnische Ursachen - es handelt sich um Völker, die seit Jahrtausenden konkurrieren und heute zufällig dann auch noch andere religiöse Orientierungen haben.
Die Konflikte zwischen den verschiedenen Ethnien in Zentralasien (klassisches Beispiel: Afghanistan) spielen sich innerhalb der islamischen Gemeinschaft ab, genauso wie in Darfur. Es handelt sich um rein ethnische Konflikte, wobei die Paschtunen sich der extrem strengen Lehre der Deoband-Universität von Nordindien in Verbindung mit der (ursprünglich US-geförderten) wahabitischen Indktrination geöffnet haben.
In Darfur findet auch ein ethnischer Konflikt zwischen sunnitischen Völkern statt.
Und in Nigeria? Ich zitiere wieder Scholl-Latour (a.a.O., S. 143)
Zitat:...und damit spricht Scholl-Latour genau das Problem an, das heute zu den angeblich "islamischen Taliban" führt. Durch die europäische Kolonisation wurde ohne Rücksicht auf die örtlichen Ethnien ein Verwaltungsgebiet geschaffen, das miteinander verfeindete Völker zusammen fasste. Und aus diesen Verwaltungsgebieten sind selbstständige Staaten geworden, in denen immer noch die gleichen untereinander verfeindeten Völker leben.
Was die ethnischen Divergenzen betrifft, die die Föderation Nigeria zu spalten drohten und heute wiede brisante Aktualität gewinnen, so konnte ich .... auf den vorzüglichen Lehrplan des Pariser Instituts für politische Wissenschaften zurückgreifen. Dort war uns beigebracht worden, dass die Masse der Haussa-Stämme im Norden Nigerias ... sich alsbad in Sultanaten und Emiraten sturkturierten. Andererseits hatten sich ... vor allem in der Westregion die ... Stämme der Yoruba zu beachtlichen Fürsentümern zusammen geschlossen.
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In den undurchdringlichen Regenwäldern der östlichen Küstengebiete am Guinea-Golf schließlich verharrte bis zur Besitznahme durch das britische Empire die Ethnie der Ibo in ... Sippen-Anarchie ....
Diese Völker befinden sich im Dauerkonflikt. Die religiöse Orientierung (christlich und islamisch) dient der eigenen Identifikation, der "Selbstorientierung" dieser Ethnien. Sie ist Auswirkung und nicht Ursache einer Auseinandersetzung, die in einen ethnischen Bürgerkrieg münden kann.
Es geht nicht um "Muslim" gegen "Christen" sondern um "Haussa" gegen "Yoruba", die beide zufällig auch noch unterschiedliche religiöse Orientierungen haben - und daran dann als "die Feinde" festgemacht und identifiziert werden können. Einige Kilometer weiter östlich beweist Darfur, dass es im Kern gerade eben um keinen religiösen Konflikt geht. Dort stehen sich (in stärkerem Maße als in Nigeria) sunnitische Ethnien gegenüber, die sich nicht nur durch die Lebensweise - Hirten und Bauern - sondern auch noch durch die Sprache und die intensivere oder weniger intensive Pigmentierung der Haut unterscheiden.
Und der Konflikt spielt sich auch innerhalb der Ethnien ab - zwischen moderaten, auf Ausgleich bedachten Führern wie dem von Scholl-Latour erwähnten Emir von Kano, und den jugnen Heißspornen, die sich in sektierersichen Jugendbanden zusammen schließen, und dann (die Hells Angels lassen grüßen) auch über die staatlichen Grenzen hinweg Kontakte zu gleich gesinnten Jugendbanden in anderen Staaten aufnehmen.
Ohne religiösen Kontext würde man "Boko Haram" vielleicht als internationale Rockerbande, als mafiöse Verbrechergang oder als politische Terroristen einordnen. Der rein historisch übergestülpte religiöse Kontext macht diese Terror-Banden (die es im Übrigen auf "Christlicher" Seite genauso gibt) plötzlich zu islamistischen Taliban.
Aber wenn es sich denn wirklich auch um eine religiöse Gruppierung handelt, dann darf man nicht vergessen, dass gerade Nordafrika viele Bruderschaften und Orden aufweist. Scholl-Latour spricht immer wieder solche Gruppierungen an. Etwa die Derwische, die Bruderschaft der Tidjaniya aus Marokko usw usw usw.
und nur nebenbei: mit "Bruderschaft" oder "Orden" ist auch ein historisch wichtiger Kontext hergestellt. Diese islamischen Bruderschaften sind nämlich in Kontakt mit den Ritterorden und Laienbruderschaften der christlichen Kirchen als deren islamische Surrogate entatanden. Es wäre einmal eine interessante Aufgabe für Soziologen, die christlichen und die islamischen Bruderschaften und Orden zu vergleichen. Mit Gemeinschaften wie dem "Opus dei" sollten durchaus auch Vergleiche etwa hinsichtlich der Einbindung in das Umfeld und der Organisationsstruktur als "Quasi Parallelgesellschaft" möglich sein.