Türkei
Auf den ersten Moment mag diese Abstimmung tatsächlich wie eine weitere Demokratisierung des Landes erscheinen, aber man muss auch fragen, wer eigentlich genau wen „beschneiden“ will in der Macht.

Genau genommen haben wir es mit einem innertürkischen Machtkampf zu tun. Auf der einen Seite die Militärs, die sich auf Atatürk berufen und die zugleich die Idee des Laizismus hochhalten, aber es mit der Demokratie sicher nicht allzu genau nehmen, wenn es denn gegen sie geht. Auf der anderen Seite steht Erdogan mit seiner islamischen AKP, in dem viele jetzt den Retter der türkischen Demokratie sehen, der aber selbst radikale Positionen in früheren Jahren vehement vertreten hat (und dafür auch ins Gefängnis ging).

Nach seiner Entlassung wurde er ruhiger und verstieg sich fast nicht mehr in radikale Injurien (weil er sonst wieder eingesperrt worden wäre). Er hatte seit dieser Zeit allen Grund, die säkularen Militärs zu hassen und vollzog eine Wendung zu einem normal erscheinenden Politiker, der eben, weil er anders nicht ans Ziel kommen konnte, den friedlich erscheinenden „Weg durch die Institutionen“ einschlug, der seit einigen Jahren durchaus erfolgreich für ihn läuft.

Viele in der Türkei sehen in ihm deswegen einen „Wolf im Schafspelz“, der ähnlich wie andere Politiker der Vergangenheit sein Gesicht erst zeigt und seine „Ideale“ von der Leine lässt, wenn er auf legalem Weg seine Macht zementiert hat. Und i. d. T. glaube auch ich nicht, dass Erdogan seinen eigentlichen Überzeugungen abgeschworen hat, nur weil man ihn mal wegen radikal-islamischer Ansichten einbuchtete.

Und nun festigt er seit Jahren den Einfluss der AKP im Land, entmachtet nach und nach seinen stärksten Gegner im Militär, der Verwaltung und der Justiz – auf die er begründet einen Hass haben dürfte – und vertritt zumindest derzeit in Nahost eine Politik, die wenig als „gemäßigt-vermittelnd“ umschrieben werden kann. Und hier scheint man dies offenbar nicht so recht zu sehen.

Insofern: Es mag vielleicht durchaus sein, dass a) irgendwelche Abgesandten des Himmels Erdogan tatsächlich im Gefängnis bekehrt haben und er eine Musterdemokratie aus der Türkei machen möchte (dann meine Hochachtung auch an Erich für die Einschätzung). Es könnte aber auch sein, dass b) wir uns in ein paar Jahren gewaltig in den Arsch beißen ob unserer Naivität und dass uns der jetzige Jubel über den „Sieg der Demokratie“ in der Türkei in Gegenwart der Probleme eines islamistischen Kleinasien im Hals stecken bleibt.

Meine Befürchtung ist ja dann, wenn b) eintreten sollte, dass dann genau diejenigen, welche hier und jetzt den Sieg der Demokratie sehen, dann die Schuld bei uns selbst im Westen oder der EU oder bei den EU-Beitrittsgegnern sehen, weil „wir“ ja der Türkei die Türe zur EU zugemacht haben. D. h. Selbstkritik dürfte wohl nicht zu erwarten sein.

PS: Ach so, ich tendiere zu b)...

Schneemann.
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