08.01.2010, 21:54
Zitat: Was Nasr hier anhand der bürgerlichen Mittelschicht im Iran analysiert, die sich seit der wirtschaftlichen Reformbewegung der späten 1090er Jahre entwickelt hat, gilt gleichermaßen für alle Länder, insbesondere auch für Schwellenländer wie China.Nein. Gleichermaßen gilt eh nie was für alle. Zunächst, ich finde den Begriff „Schwellenland“ für China, das wohl dieses Jahr Exportweltmeister werden wird, etwas unangebracht. Darüber hinaus muss man deutlichst zwischen den Mittelschichten in Iran oder China unterscheiden. Iraner, die der Mittelschicht angehören, distanzieren sich, besonders wenn sie im Ausland leben, sehr stark vom derzeit vorherrschenden Mullah-System, und es ist egal ob es jetzt Ärzte, Beamte, BWL-Studenten oder Außendienstler sind. Chinesen hingegen halten sich mit der Kritik an den Umständen im eigenen Land zurück, ja ein gewisser Nationalismus, den man so kritiklos bei den Persern nicht findet, scheint die Kritikfähigkeit zuzudecken, egal ob es ein Chinese im Ausland ist oder daheim (wobei vielleicht daheim die Furcht vor der Staatssicherheit imminenter ist). Ich habe studierte, intelligente, wirtschaftlich erfolgreiche, ja sogar weitgereiste (nach Europa) Chinesen erlebt, die mir unverblümt ins Gesicht gesagt haben, dass es in ihrem Land keine Zensur gibt und das auch die Zahl der Hinrichtungen überbewertet werde. Auf mein erneutes Nachfragen wurde man sogar fast ungehalten (wenngleich man sein Lächeln behielt). Und ich hatte nicht den Eindruck, dass man mich anlog oder aus Furcht vor dem Geheimdienst einfach was daherredete (vor allem, weil es in einem netten Lokal in Stuttgart war). Nein, es war so, dass man davon ausging, dass es keine Zensur gibt und dass alles diesbezüglich, wenn es dennoch behauptet wurde, böse Nachrede aus westlicher Ecke sei. Iraner im Ausland hingegen, wobei ich da nur wenige kenne, sagen mir klipp und klar auf die Nase zu, dass ein Unrechtsstaat im Iran besteht, manche mussten wegen den Mullahs sogar fliehen. So, beide Gruppen gehören per definitionem der Mittelschicht in ihrem Land zumindest an, reagieren aber völlig unterschiedlich (wobei die „persische Perspektive“ um einiges realistischer und kritikfreudiger war). Insofern solltest du zwischen „Mittelschichten“ in Iran oder China dir besser keinen allgemein gültigen Schluss leisten.
Zitat: In China erleben wir gerade einen "Kulturkampf um Chinas Mittelschicht"Davon habe ich nichts gemerkt.
Zitat: Russland gehört dazu - und ist nach diesem Kriterium auf der Schwelle zur DemokratieDas halte ich für gewagt. Ein Land, dass von einem zunehmend autokratischen Präsidenten regiert wird, der sich auf eine neue Jugendorganisation und eine Fast-Einheitspartei stützt, der kritische Medien gezielt gängeln oder ausschalten lässt, und wo die eigenen Bewohner, laut einer kürzlich erfolgten Umfrage, fast genauso viel Angst vor der eigenen korrupten Polizei haben wie vor Terroristen, ist für mich nicht an der „Schwelle zur Demokratie“.
Zitat: Im Iran wird die bürgerliche Mittelschicht, die Demokratie einfordert, immer stärker. Sie ist jetzt schon erstaunlich stark, aber noch nicht ganz durchsetzungsfähig. Damit verliert die Entwicklung im Iran ihren Schrecken.Die jetzigen Ereignisse mögen hoffnungsvoll erscheinen, aber endgültig ist noch nichts entschieden. Es bleiben auch noch andere Möglichkeiten.
Zitat:Und der Iran ist jetzt schon ein Magnet, ein Anziehungspunkt für die Bewohner von Tadschikistan (Nr. 146) und Afghanistan (Nr. 173 auf der Liste).Recht gewagte Theorie, Tadschikistan ist überwiegend sunnitisch geprägt (80 – 90%), genauso wie Afghanistan (vom Nordwesten abgesehen). Das sich die Bevölkerungen beider Länder jetzt auf einmal für den radikal-schiitischen Iran interessieren, ja ihn als Magneten ansehen, wage ich mal stark zu bezweifeln, auch wenn es ethnische Verbindungen zu den Persern gibt (in Tadschikistan). Vor allem sind in beiden Ländern zudem starke Autonomie-Tendenzen erkennbar.
Zitat: Brasilien...Brasilien besitzt sicherlich viel Potenzial, aber es muss zuerst seine eminente Kriminalität in den Griff kriegen sowie seine eklatanten Unterschiede zwischen armen und reichen Schichten (die mit Demokratisierung nicht bewältigt werden können). Im Amazonas regieren in einigen Gebieten Holzmafiosi wie lokale Barone, haben Richter und Polizei gefügig gemacht und nichtloyale Gewerkschafter oder Umweltpolizisten teils ermordet. Und in den großen Städten gibt es Syndikate, die ihre Bande von den Gefängnissen, über die Polizei bis in höchste Politikkreise ausgestreckt haben. Ich meine damit nicht mal die Areale der Favelas alleine, sondern ganz gezielt auch die besseren Viertel, wo sich die Wohlhabenderen teils mit privaten Sicherheitsdiensten einmauern. Bei Bandenkriegen muss das Militär anrücken – und wenn es mal soweit ist, wird’s kritisch für ein Staatsgebilde.
Chile (Nr. 57) und Argentienien (Nr. 59) bilden mit Uruguay (Nr. 62)Venezuela (Nr. 65) und benachbarten Staaten insbesondere aus dem Bereich der Karabik einen weiteren "Cluster" für eine - mit wachsender Wirschaftskraft - zunehmend demokratisch strukturiere Gesellschaft.
Was Chile und Argentinien angeht, so teile ich deine hoffnungsvolle Prognose hingegen. Beide Länder haben viele Krisen und Probleme überwunden, auch Diktaturen, und stehen heute „relativ“ gut da, bzw. scheinen i. d. T. viel Potenzial zu haben.
Warum allerdings Venezuela hier in der Reihe „zunehmend demokratischer Gesellschaften“ steht, ist mir schleierhaft. Chavez wird das Land zunehmend totalitarisieren und in den Ruin führen. Er kann wegen des Ölreichtums zwar Waffen kaufen und Geschenke an die Bevölkerung verteilen (und sich so einschmeicheln), ob diese aber Politik dauerhaft Erfolg zeigt, ist mehr als fraglich. Davon, dass das Land in eine Diktatur abgleitet (bzw. das es schon eine ist), rede ich noch nicht mal, vielmehr gilt es anzumerken, dass alles auf schnellem Öl-Geld aufbaut, dass insofern keinerlei substantielle Vorsorgen oder weitergehende Gedanken zu verzeichnen sind. Und dies wird das Land, sei es bei einem Konflikt (etwa gegen Kolumbien) oder auch nur bei einer Schwankung des Ölpreises umso stärker treffen und zurückwerfen. Und was Meinungsfreiheit und Demokratie angeht, so ist das Land eh schon seit Jahren auf dem absteigenden Ast.
Zitat: Die arabischen Staaten sind noch weit von einer demokratischen Entwicklung entfernt. Saudi Arabien verfügt zwar über hohes Einkommen, ist aber durch seine rigide Ausformung des Islam (Wahabismus) selbst gelähmt.Das mag in weiten Teilen richtig sein.
Der Oman (Nr. 37), Libyen (Nr. 56) der Libanon (Nr. 64) oder Tunesien (Nr. 89) sind zu klein, um die arabische Welt zu beeinflussen. Dazu wären Algerien (Nr. 97) oder Ägypten (Nr. 102) in der Lage. Für diese Länder ist aber wieder das durchschnittliche Einkommen zu niedrig, als dass hier eine positive Entwicklung zu erwarten wäre.
Zitat: Bei China (Nr. 101) und Indien (Nr. 130) besteht alleine schon aufgrund der Bevölkerungsmasse eine so hohe Zahl an Mitgliedern einer "Mittelschicht", dass die Regierungen zunehmend auf diese Bevölkerungsanteile Rücksicht nehmen müssen. Dazu trägt die wirtschaftliche Entwicklung zu einer Verbreiterung der Mittelschicht bei.Über Indien kenne ich mich zu wenig aus, weswegen ich mir abschließend kein richtiges Urteil erlauben sollte/kann (abgesehen davon, dass ich den Begriff „größte Demokratie der Welt“ nicht gerade passend finde). Nur sei angemerkt, dass zwar einerseits der Wohlstand wohl anwächst, aber zugleich auch die Bevölkerung dramatisch zunimmt (schneller als der Wohlstand) und dass andererseits auch die Unruhen hinsichtlich Muslimen, Maoisten, Bauern in Zentralindien und Wohlstandsunterschieden etc. zunehmen. Ich wäre also vorsichtig mit allzu optimistischen Einschätzungen.
Hier ist mit zuenhmendem Wohlstand eine immer demokratischere Entwicklung zu erwarten.
Zitat: Wirtschaftliche Stärkung des vermeintlichen Feindes und dessen bürgerlichen Mittelstandes ist die beste Friedenspolitik, die es geben kann - und weitaus effektiver als jedes eigene Aufrüstungsprogramm.Das halte ich für etwas weltfremd, als ob der Westen den Mittelstand in China stärken könnte, wenn er will. Genau genommen hat der Westen, zumindest in den letzten 15 Jahren, China zu einem Berg von Devisenreserven verholfen, indem er chinesische Waren aufgekauft hat, hat aber keinen großen Politikunterschied bewirkt. Im Gegenteil: Das politische System Chinas hat sich nicht wirklich geändert, es wird weiterhin rigide gegen als vorgegangen, was nicht genehm ist – und der Westen ist sogar an Kritik noch zahmer geworden als früher, weil man wirtschaftliche Konsequenzen fürchtet. Und es wäre auch nicht so, dass es einen demokratischen Wandel in der Denke eines wie auch immer gearteten Mittelstandes gegeben hätte. Nein, eher hat der wirtschaftliche Erfolg des Systems die Herrschaft der kommunistischen Partei in den Augen vieler legitimiert, ja das System hat sich akzeptabler gemacht als früher. Und: Es steht auch nicht zur Diskussion, ob durch den wirtschaftlichen Erfolg die Demokratie durch die Hintertüre kommt. Nein, viel eher wird darüber spekuliert, ob es neben dem westlichen Demokratiemodell noch andere (Staats-)Modelle gibt, die den wirtschaftlichen Aufschwung und Reichtum verheißen könnten. Diese Option wird in Asien durchaus wahrgenommen.
Insofern: Wenn wir sagen, wir stärken die Wirtschaft unseres Feindes, so bedeutet dies nicht zwingend, dass er zur Demokratie findet, eher kann es bedeuten, dass das System unseres Gegners für andere und möglicherweise nichtdemokratische Länder akzeptabel und sogar interessant wird, weil er mit seinem oder gerade wegen seines System/s zu Reichtum gelangte, was wiederum den Allgemeinvertretungsanspruch westlicher Erfolgsmodelle hinsichtlich der Demokratie in Frage stellen würde. Quasi würden wir mithelfen zu zeigen, dass nicht nur Demokratien, sondern auch andere und evtl. totalitäre Systeme zu Wohlstand gelangen können; das also ein Alternativmodell zur Demokratie auch Wohlstand heißen kann und dass eine solche Staatsoption besteht. Und so blöd darf man als Demokratie dann wirklich nicht sein.
Schneemann.