Israel-Palästina
@ Schneemann

(1) Verhandlungen mit der Hamas:
Hier finde ich deine Position etwas "unhistorisch". Der Fokus auf das Programm der Hamas ist wohl kaum eine erschöpfende Perspektive, wenn man die Evolution der Hamas und die zukünftigen politischen Handlungsmöglichkeiten dieser Organisation beurteilen will. Die Hamas ist nicht irgendeine antisemtische Organisation, die in Europa oder irgendwo im Mittleren Osten aus durch und durch ideologischen Gründen und politischen Oppurtunitäten gegründet wurde, sie hatte ganz "reale" Geburtsumstände, die eine antiisraelische Ausrichtung letztlich zwingend begründen. Sie formierte sich letztlich (mal Vorgängergruppierungen weggelassen) 1987 in der ersten Intifada in Gaza, bei der steineschmeißende Jugendliche sich der israelischen Okkupation erwehrten und dafür brutal niedergekämpft wurden von den Israelis. Sich also einfach das sicherlich - hier gehe ich mit - radikale Programm der Hamas zu nehmen und dies als einzigen Bezugpunkt zu nehmen, halte ich für zu simpel und vergißt die politischen und historischen Rahmenbedingungen, die aus der Hamas eine derart starke politische Kraft gemacht haben. Die entscheidende Frage bei der Hamas ist daher nicht das derzeitige Programm, sondern ihre innere Struktur und wie sie mit einer sich ändernden Großwetterlage im Israel-Palästina-Konflikt umgehen würde. Kurz gefragt: Wie viel palästinensischer Nationalismus und wieviel religiöser Radikalismus stecken in dieser Organisation? Bisher konnte sich die Hamas eben deshalb profilieren, weil ganz real die konzessionsbreite Politik der Fatah und der PLO mit ihrer Fokussierung auf politische Lösungen (seit den 1990er Jahren) letztlich doch nur zu mehr Siedlungen und zu mehr israelischen Kontrollen geführt hat. Daher wurde durch den Fortgang der Ereignisse die politische Direktive der Hamas auch nie real getestet und daher nutze die Hamas ihre radikale Marschroute nur um so mehr um sich während der Zweiten Intifada zu profilieren. Wie das ganze nun aber weitergehen könnte, ist stark abhängig von folgenden Aspekten in meinen Augen
(1) der inneren Struktur der Hamas und wie radikale Ziele mit einer gewissen Pragmatik abgelöst werden
(2) der Verbesserung der paläst. Lebensbedingungen in potenziellen politischen Lösungen
(3) der Haltung der paläst. Massen während solcher Entwicklungen
Der Verweis auf das Hamassprogramm verfängt in meinen Augen daher nicht, weil es letztlich nur der Ausdruck und Mitprodukt eines gescheiterten Friedensprogrammes ist. Die Hamas ist aber eine komlexe Synthese aus Nationalismus, radikalem Islamismus und Widerstandsgruppe. Bisher haben aber größere islamistische Organisationen ihrer Art immer gewisse Moderations- und innere Spaltungsprozesse offenbart. Ob es nun die Islamisten in Somalia sind, die sich derzeit gegenseitig bekämpfen oder aber (schönes beispiel) die ägyptischen Moslembrüder. Letztere trennten sich nach dem erfolglosen militärischen Kampf der 1990er Jahre von ihrem militanten Flügel und wurden mehr und mehr zu einer, wenn auch radikaleren, ägyptischen politischen Partei. Meines Erachtens ist daher der Charakter der Hamas eben noch lange nicht festgeschrieben und wird auch zukünftig noch Wandlungen unterworfen sein. Aber dafür bedarf es mehr als Phosphorgranaten und Laserraketen...

(2) Die wirtschaftliche Lage Gazas:
Die Beschreibung Gazas teile ich so nicht. Gerade im Gazastreifen gab es Industrie, eine sich entwickelnde Mittelschicht. Aufgrund der jahrzehntelangen Dominierung durch die PLO waren die paläst. Gebiete relativ säkular geprägt, der Bildungsgrad relativ hoch. Doch die Mittelschicht, die moderateren Kreise wurden durch die Wirtschaftsblockade am stärksten getroffen. Reguläre Händler, Geschäfte gingen ein, Fabriken schloßen, der Mittelstand gibg ein. Deren Apathie ist ein großer Hemmschuh für die Entwicklung in Gaza und für die Entwicklung der Palästinenser. Und daran Israel mit seiner verfehlten Politik und deren Folgen eben erheblichen Anteil.
Du vergißt bei denen Ausführungen zu oft, dass ein erheblicher Teil des paläst. Gebietes immer noch unter israelischer Kontrolle ist und Gaza seit Jahren ein Freilichtgefängnis ist. Zudem bewertest du folgendem Umstand auch zu gering: Dass der Israel-Palästina-Konflikt auf der internationalen Agenda steht, liegt nicht an der Menschenfreundlichkeit Israels oder des Westens, sondern daran, dass seit fast 20 jahren die Palästinenser nicht müde geworden sind, zu kämpfen. Ich weiß, es klingt nicht gerade israelfreundlich, aber let´s face the truth: Ohne die erste Intifada hätte es in dieser Form Madrid und Oslo nicht gegeben, erst die ungeheuren Kosten und Probleme der zweiten Intifada für Israel bewegte Scharon zur Räumung des Gazstreifens. Israel hat es sich in seinen Positionen durchaus bequem gemacht. Für die Hamas ist der Kampf gegen Israel und seine dominante Position immer noch legitim. Shahab3 hat das durchaus richtig geschildert in meinen Augen (auch wenn ich nicht von brutaler Gewalt sprechen würde).



(3) Die Lage der Hamas:
Ja, sie wird genauso wie die Hizbullah 2006 Schaden nehmen, wahrscheinlich noch mehr als Hizbullah. Aber all diese Schäden sind irreparabel, werden in monatsfrist, vielleicht nach einem halben Jahr wieder vergessen und getilgt sein. Sofern sich an der grundlegenden politischen Struktur nichts ändert, hat Hamas durch Zulauf neuer Radikaler mittelfristig seine Verluste wieder ausgegelichen und das ganze geht wieder von neuem los. Quintus hat das schon geschildert und auch ich habe diesem Umstand und den Resultaten einen längeren Post schon gewidmet, lese da einfach nochmal nach.

(4) Israelische Vorgehensweise:
Wer sich immer wieder vor den kameras der Weltöffentlichkeit damit brüstet, die einzige Demokratie dort unten zu sein und daher der natürliche Verbündete des Westens zu sein, der muss sich eben mit anderen Maßstäben messen lassen als eine militante, sich stetig wandelnde radikale Widerstandsorganisation. Und wer nunmal alle überlegenen Mittel in die Waagschale wirft, um einen schwächeren Gegner schwach und besetzt zu halten, der muss damit leben, dass der andere auch alle ihm zer Verfügung stehende Mittel nutzt und aus seiner Schwäche eben auch "andersartige Stärke" macht bzw. die Schwächen des Starken kaltblütig ausnützt. Das ist nunmal das Wesen des asymmetrischen Krieges: Jeder versucht, auf seine Weise zu punkten.
Sicherlich gehen die Israelis, wenn sie nicht gerade UN-Schulen bombardieren, relativ sorgfältig vor, da muss ich auch dir zustimmen Schneemann, aber solche Konflikte sind nunmal nicht militärisch zu gewinnen und zu führen.
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Nachrichten in diesem Thema
Israel-Palästina - von Helios - 23.05.2004, 14:06
RE: Israel-Palästina - von Quintus Fabius - 11.05.2021, 23:01
RE: Israel-Palästina - von Quintus Fabius - 12.05.2021, 10:55
RE: Israel-Palästina - von Quintus Fabius - 13.05.2021, 19:45
RE: Israel-Palästina - von Quintus Fabius - 15.05.2021, 15:36
RE: Israel-Palästina - von Schneemann - 07.08.2022, 08:44

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