Todesstoß für die NATO ?
#28
Ich versuche es mal einfacher zu sagen:

In den letzten 150 Jahren haben sich aus zahllosen Gründen diverse Nationalbewegungen in Osteuropa stark entwickelt, die von Fremdherrschaft nichts wissen wollten. Dem steht aber das russische Konzept des "nahen Auslands" und Russlands Anspruch auf Einfluß ziemlich stark entgegen, was Reiberei und Konflikte verursachen muss.
Diese Herrschaft gab es sowohl als zaritisch-russische Version, als auch als etwas anders geartete, aber doch antinationale sowjetische Version und gibt es nun als mit Demütigungen ringende russische-autoritäre Version.
Weiterhin musst du erkennen, dass das Denken und Handeln der Leute eben geprägt ist von den Geschehnissen von vor 100, 50 oder auch 20 Jahren. Ohne dieses Bedenken, versteht man einfach nicht den Kern der Probleme (das kannst du an fast allen Konflikten dir anschaun) und das ganze Drumherum. Man sieht daher Dinge anders.

Für dich ist die Lage der russischen Minderheiten skandalös. Für einen Esten, Letten oder Westukrainer dagegen gilt es nach weiß-wie-viel-Jahren darum, sich selbst als selbstbestimmter Bürger und damit auch Herr in seinem eigenen Lande zu fühlen. Verschiedene Strömungen (links, rechts gemäßigt) müssen sich erst finden im Umgang mit den "neuen" Minderheiten und "alten Herren". Institutionen müssen erst stärker werden. Es ist etwas naiv zu glauben, dass lange unterdrückte Nationalbewegungen plötzlich und automatisch einen ruhigen Umgang mit der einstigen dominierenden ethnischen Gruppe finden. Stell dir einen geschlagenen Hund vor, der wird sicher nach der Freilassung seinen alten Peiniger nicht gerade freundlich begegnen. Bedenkt man diesen historischen Rücksack, dann muss man den Verhältnissen dort sogar eine relativ große Stabilität bescheinigen.
Aber diese Stabilität gibt es nicht dank großspuriger russischer Drohungen oder Cyberattacken, sondern dank den westlichen internationalen Institutionen EU und NATO. Die haben wesentlich dazu beigetragen, neben relativ wiet fortgeschrittenen Zivilgesellschaften dort, dass das politisch Klima (zumindest bei den Balten) immer weiter sich stabilisiert, auch im Hinblick auf die Minderheiten. Da gibt es immer noch Probleme, aber die haben reale Ursachen in der Geschichte. Man kann genauso wenig den Russen von heute auf morgen befehlen ein demokratischer Musterstaat zu sein und ähnliches. Es gibt nunmal politische und soziale Realitäten. Und die bedeuten eben, dass diese Gesellschaften sich westlich entwickeln, historisch ein Teil Europas waren und nun wieder sind und Russland eben draußen ist und noch länger draußen bleibt.
Russische Drohungen usw. destabilisieren eben nur, weil sie nunmal alles tun, nur sicher nicht den dortigen Minderheiten helfen. Stattdessen sind sie im Ton überzogen und wie bei den Cyberattacken auf Estland völlig daneben. Sie wecken nur die Furcht vor einem unbekannten, auf tönernen Füßen stehenden Riesen namens Russland.

Dir ist die Lage der Minderheiten wichtig? Dann wende dich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Oder auch gleich an die EU-Kommission oder an die versöhnlicheren Kreise in Tallinn und Riga. Dort kann ganz real was für die Minderheiten passieren, nur eben werden sie ihre privilegierte Stellung von früher nicht zurückbekommen. Aber die basalen Menschenrechte bekommen sie in und durch Europa und nicht durch russ. Drohungen und laute Parolen. Das hat einen kontraproduktiven Charakter und Wirkung. Das versteht man eben aber nur, wenn man den ganzen historischen Kontext versteht.

Im übrigens: Die Lebensverhältnise von Russen in Talinn und Riga sind überdies wirtschaftlich immer noch weit besser als beim normalen, "kleinen Mann" in Russland. Und was die politischen Rechte angeht: Dem normalen Bürger in Russland sind ja auch politische Rechte wie Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit um einiges fremder als den "rechtlosen" Russen im Baltikum. Von daher muss man auch schauen, wie die Lage dort wirklich ist und nicht nur plakativ polemisieren. Weiterhin besteht beispielsweise auch für Russen in Estland die Möglichkeit estnische Pässe zu erhalten; sie müssten nur sehr ähnlich der deutschen Einbürgerung einen kleinen Einbürgerungstest machen und die estnische Sprache beherrschen. Aber hier beispielsweise kommen dann fern ab von formalen Diskriminierungen eben nationale Motive ins Spiel, so dass man sich eben keinem Test über Estland unterziehen will. Das Bild wird dann beim genauen Hinsehen etwas komplexer, ob du willst oder nicht. Überdies gibt es in Polen übrigens keine russ. Minderheit. Und was die Ukraine angeht, so ist das ganze dort ein reiner Machtkampf um die Richtung und Ausrichtung des Landes, typisch für aufeinander prallende Nationalitätenkonflikte, in denen Sprache und Kultur um Gegenstand des Kampfes wird.

Aber nochmal: Die Frage bleibt: Können diese ganzen historischen Konflikte im hier und jetzt gelöst werden, wenn diese Länder wie in der Zwischenkriegszeit 1919-1939 in einem unsicheren cordon sanitaire ihr Dasein fristen. Sollten diese Länder mit ihrem Freiheitsdrang, ihrem frischen Nationalismus und ihrem aber gleichzeitigen westlichen Grundverständnis und ihren sich nach westlichem Vorbild entwickelnden Zivilgesellschaften unter dem Einfluß eines autokratischen, instabilen Rußlands befinden? Würden dann die Konflikte weniger zwischen diesen Staaten und Russland, wie innerhalb dieser Staaten. Oder ist die Mitgliedschaft in westlichen Institutionen viel eher ein Garant für Ruhe, Stabilität, Mäßigung und den Pfad der friedlichen Entwicklung?
Diese Frage Kosmos, diese breite soziale, historische und polititische Perspektive solltest du anlegen, wenn du wieder mal über die Osteuropäer und die westlichen Institutionen herziehst. Denn deine Perspektive ist schlicht zu kurz, zu einfach.
Russland erreicht in diesen Ländern (fast) niemanden mehr, man interessiert sich im positiven Sinne nicht für Russland. Daher kann Russland dort nichts positives bewegen - der russischen Minderheit (sofern das dein Herzensanliegen ist) hilft daher nicht Russland, sondern nur die westlichen Werte und ihre weitere Stabilisierung und Einübung in den westlichen Institutionen. Ein anders auftretendes Russland - weder schwach wie bei Zeiten Jelzins, noch autokratisch und forsch und agressiv wie Putin - hätte allerdings auch andere Einflußchancen. Aber dazu müsste Russland "europäisch", also dialogbereit auftreten und ohne Säbelrasseln...

Daher macht eben auch die NATO und EU-Erweiterung auch so viel Sinn - und das nicht nur aus einem rein normativen Verständnis.
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