Geschichte und Ethnogenese der Juden
#46
Ich möchte dazu nur nocheinmal in den Raum stellen, dass diese späte Zeit des Exodus alles andere als sicher ist. Der späte Exodus mag Lehrmeinung sein, vllt weil man ihn mit der ganzen Seevölkergeschichte verwursten kann, folgt man der biblischen Zeitrechnung landet man eher 200 Jahre früher vor 1400BC. Diese Zeitperiode passt dann auch wesentlich besser zu dem was man von Ägypten in dieser Zeit meint zu wissen sowie zu archäologischen Ausgrabungen in Israel und etliche vermeidliche Widersprüche lösen sich auf.
Die Theorie des späten Exodus geht hauptsächlich auf einen Vers in Exodus zurück, wonach man die Stadt Ramses erbaut habe. Man schließt daraus, dass die Herbräer in ihrem Narrativ während des Regierungszeit Ramses II in Ägypten gelebt haben mussten. Genauso wahrscheinlich ist allerdings, dass man die während er Kodifzierung des Textes gebräuchlichen Namen verwendet hat. Das ist insofern eine naheliegende Erklärung, da gerade Ramses II dafür bekannt/berüchtigt ist, seine Kartusche auf noch jede ältere Statue und Steinwand gemeiselt und sich zum Besitzer erklärt zu haben.
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#47
Es ist sogar sehr fragwürdig, ob es je eine solche Einwanderung (Exodus) gab, bzw. ob dieser nicht völlig falsch verstanden wird. Aktuell gibt es eine Reihe führender israelischer Archäologen, welche durch ihre Ausgrabungen ganz klar eine durchgehende Besiedelungskontinuität nachweisen konnten.

Was sich veränderte, und zwar erst mit dem Seevölkersturm, war die Lebensweise. Vor diesem gab es eine klare Zweiteilung zwischen den Stadtstaaten in der Küstenebene, den flacheren Gebieten, und den Nomadisch / Halbnomadisch lebenden Kanaaitern im Hochland / in den Bergen. Beide Gruppen unterschieden sich durch die Lebensweise, und durch die Religion. Vor der Seevölkerwanderung dominierten die Stadtstaaten, nach dieser verfiel diese Kultur und erlangten die kanaaitischen Nomaden die Übermacht und begannen von Osten nach Westen Kanaan unter Kontrolle zu kriegen.

Auch wenn ich rein persönlich - wie beschrieben - von einer zusätzlichen Einwanderung nach Kanaan durch einen Stamm ausgehe, welcher vorher auf dem Sinai lebte, so muss man doch festhalten, dass die archäologischen Fakten klar belegen, dass die Proto-Hebräer in weiten Teilen Kanaaiter waren, und dass die Hebräer daraus entstanden, dass nomadische / halbnomadische Kanaaiter aus dem Hochland zusammen mit den aus dem Sinai eingewanderten Nomaden eine gemeinsame Religion teilten.

Beide kannten sich zudem schon vorher aus einer längeren gemeinsamen Geschichte, da entsprechende Söldner / Kämpfer / Räuber aus den Reihen dieser Nomaden sowohl aus dem Sinai als auch aus dem Osten von Kanaan (Hapiru) schon vorher lange in diesem Raum vorhanden waren.

Die Hebräer sind also entweder: Kanaaiter mit einer anderen Lebensweise (Nomaden statt Stadtkultur) oder: eine Mischung aus Kanaaitern mit einer anderen Lebensweise und eingewanderten Nomaden aus dem Sinai. Wobei beide in diesem Fall schon vorher eine längere gemeinsame Geschichte hatten und dazu die gleiche Religion teilten.

Wie man es dreht und wendet: es gibt eine ganz klare, eindeutige Besiedelungskontinuität. Hier wurde also selbst wenn man die Einwanderung (Exodus) annimmt eben nicht ein Volk durch ein anderes ersetzt, sondern von der Abstammung her entstammten die Hebräer größtenteils den Kanaaitern. Die Hebräer sind also praktisch gesehen in jedem Fall vor allem die Nachfahren der vor ihnen dort lebenden Kanaaiter.

So kurz wie möglich: die Hebräer sind Kanaaiter von der Abstammung her. Sie unterschieden sich von den anderen Kanaaitern nur durch ihre Lebensweise und ihre Religion. Damit sind die Hebräer keine Invasoren aus einem anderen Land, sondern sie sind die Ureinwohner. Was sich lediglich änderte war, dass die Religion auch in die Stadtstaaten hinein ausgebreitet wurde und dass diese wiederum durch die Seevölkerwanderung ihre vormalige beherrschende Stellung verloren.

Die Hebräer kann man daher überspitzt als die kanaaitische Landbevölkerung verstehen.

Werter Nightwatch:

Zitat:Die Theorie des späten Exodus geht hauptsächlich auf einen Vers in Exodus zurück, wonach man die Stadt Ramses erbaut habe. Man schließt daraus, dass die Herbräer in ihrem Narrativ während des Regierungszeit Ramses II in Ägypten gelebt haben mussten.

Wenn man mal die Bibel beiseite lässt, dann lässt sich aus rein ägpytischen Quellen nachweisen, dass Ramses der II explizit Nomaden vom Sinai und auch aus Kanaan in Ägypten als Arbeiter verwendet und diese zu seiner Zeit dort von ihm auch angesiedelt wurden. Unter seinen Nachfolgern aber sind diese dann verschwunden.

Das passt einfach so perfekt zum Exodus, dass eine frühere Verortung meiner Meinung nach deutlich unwahrscheinlicher ist.

Erich:

Zitat:die Philister oder "Seevölker" könnten - so die neuere These - auch aus der westlichen Küste Kleinasiens gekommen sein.

Vielen Dank dass du die sogenannte luwische These hier vernetzt hast. Ich wollte eigentlich schon selbst darauf hinweisen, aber dachte, es ginge eventuell zu weit weg vom eigentlichen Thema hier.

Die Luwier waren in viele Stämme und kleine Staaten aufgespalten. Das passt auch gut zu den Seevölkern, da diese ja aus vielen verschiedenen "Völkern" zusammen gesetzt waren. Entsprechend waren die Phillister nur eines dieser Völker. Zur luwischen These passt auch die Verbindung der späteren Etrukser (Tyrsener) nach Lemnos und die pelasgische Frage.

Spezifischer zu den Phillistern da diese ja bei der Ethnogenese der Hebräer eine gewisse Rolle spielten: hier ist der archäologische Bezug zu Zypern offensichtlich. Nun nahmen die Seevölker ja explizit Zypern ein und dem folgend die damals sehr bedeutende Metropole Ugarit. Deshalb waren die Phillister höchstwahrscheinlich Flüchtlinge aus Zypern mit einem gewissen Anteil an Luwiern unter ihnen.
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#48
So, entschuldigt, ich bin in letzter Zeit nicht wirklich groß zum Schreiben gekommen, nun aber der Fortsetzung dritter Teil...

Situation in Kanaan:

Um 1200 v. Chr.: Unser noch kleines Völkchen der Hebräer hatte sich also im Bergland Kanaans niedergelassen. Großartige Städte gab es keine, man muss sich die Siedlungen, die man archäologisch bestätigen konnte, als kleinere, unbefestigte Runddörfer vorstellen, d. h. die Gebäude waren kreisförmig um eine Art mittig liegendem Markt-/Versammlungsplatz angeordnet. Die Gebäude selbst besaßen steinerne Rundfundamente und beherbergten allenfalls fünf bis zehn Personen, vermutlich weniger, und es gab zumeist etwa 20 bis 30 Gebäude je Dorf, wobei die Archäologen bislang rund 30 Siedlungsorte lokalisieren konnten. Insgesamt sprechen wir also von grob 4.500 bis 5.500 Menschen.

Das muss eine Momentaufnahme sein. Und: Das Leben selbst muss äußerst hart gewesen sein. Im Osten, hin zur wasserreichen, aber schwer zugänglichen Jordansenke und dem Toten Meer, breitete sich eine stocktrockene Wüstenei aus, und wenn der - normal aus Westen blasende - Wind mal auf Ost drehte, wurden Sandstürme und Temperaturen von schnell über 40 Grad nach Kanaan getragen. Im Westen, am Mittelmeer, lag fruchtbares Land auf Meeresniveau, das zudem den Vorteil hatte, dass der Westwind Wolken gen Osten bließ, die dann an den Bergriegeln abregneten, was die Küstenareale mit Wasser versorgte. Die Niederungen des Jordangrabens einerseits und die Küstengebiete andererseits waren insofern zwar fruchtbarer (solange die Versalzung nicht überhand nahm) und wasserreicher, aber dort, in den sumpfigen, brackigen Gewässern schlummerten andere Gefahren - darunter einer der größten Feinde der Menschheit, die Malaria. (Und die westlichen Küstengebiete wurden zudem, wie bereits in vorangegangenen Beiträgen beschrieben, [noch] von kanaanitischen Staathaltern der Ägypter kontrolliert.)

Im Bergland selbst kam also wenig Niederschlag an. Viele denken bei Israel eher an Tel Aviv und Palmen bzw. den flachen Negev, aber man muss bedenken, dass das Land durchaus bergig ist; alleine der Ölberg bei Jerusalem steigt schon auf über 800 m an, bei Hebron liegt das Niveau bereits bei über 1.000 m - also fast deutsches Mittelgebirgsniveau. Die Winter waren durchaus kalt, die Sommer heiß und trocken.

Die Israeliten hatten es also mit schwierigen Bedingungen zu tun. Zumal es auch keine nennenswerten Bodenschätze gab, auch kein Zinn und kein Kupfer (für Bronze), und selbst Bauholz war knapp. Aber dennoch konnten sie sich mit einfachem Ackerbau, vor allem Viehzucht und - der große Schatz der Region - mit Oliven und Olivenöl über Wasser halten. Vor allem letzteres war in Ägypten und bei den Hethitern sehr gefragt.

Rückblende und ein historischer Ausflug zur Einordnung der weiteren Entwicklungen:

1259 v. Chr.: In einem aufsehenerregenden Vertrag beschließen die beiden Großreiche der Region, Ägypten und die Hethiter, einen Friedensvertrag, der ihre jahrhundertelange Fehde beendet (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%84gypt...ensvertrag). In der Folge entwickelten sich beinahe freundschaftliche Verhältnisse zwischen den Reichen, Ägypten unterstützte die Hethiter sogar mit Nahrungsmitteln. Ramses (II.) sandte mehrfach seine besten Ärzte nach Hattuscha, um zu unterstützen, wenn Krankheiten (oder Geburten) anstanden; und höhere Söhne und Töchter aus beiden Reichen wurden gerne verheiratet. Im Windschatten dieses Vertrages kommt nun Kanaan, das ja eine Schnittstelle zwischen den Reichen war, zeitweise zur Ruhe. Dieser Umstand dürfte die Besiedlung sicherlich erleichtert haben.

Um 1200 v. Chr. zeichnete sich aber eine Katastrophe ab. Was man sagen kann, ist, dass es vermutlich eine Verkettung von Ereignissen war. Innerhalb weniger Jahrzehnte zerbrach das Hethiterreich, ebenso die mykenische Kultur. Einstmals große und blühende Städte zerfielen zu Ruinen, etwa Hattuscha, Mykene, Tyrins oder Ugarit. Um 1180 v. Chr. bestand von den einstmaligen Reichen nur noch das ägyptische. Und auch dieses musste alle Kräfte zusammenfassen, um dem Untergang zu entgehen. Die spätbronzezeitliche Kultursphäre des östlichen Mittelmeerraumes war verwüstet und zerfallen.

Was war geschehen? Stichwort Verkettung: In ägyptischen Quellen und auch in hethitischen wird vor 1200 v. Chr. mehrfach niedergeschrieben, dass das Hethiterreich die Ägypter um Nahrungsmittel gebeten hatte. Es wird von ausgegangen, dass - vermutlich infolge Klimaveränderungen - das Hethiterreich schwere agrarische Versorgungskrisen durchlitt. Die Pharaonen halfen zwar, konnten aber die Krise beim Verbündeten nur bedingt mildern. In der Folge kam es zu inneren Unruhen bei den Hethitern, was u. a. unter deren letzten König, Suppiluliuma II., sogar zur Flucht des Hofes aus Hattuscha nötigte. (Möglicherweise war Karkemisch das Ziel?)

Und in diese labile Lage hinein platze das, was die Historiker heute den sog. "Seevölkersturm" nennen.

Um 1190 v. Chr. tauchten diese mysteriösen "Völker" erstmals vor Ugarit auf. Der dortige Statthalter, Ammurapi (bitte nicht verwechseln mit Hammurapi, der stammte nämlich aus Babylon), schlug Alarm und bat flehentlich das Königreich Alaschia (Zypern) um Hilfe, denn seine Soldaten standen tief in Anatolien, um das Hethiterreich gegen innere Unruhen zu stabilisieren, und er war fast hilflos. Alaschia konnte jedoch auch nicht helfen, da es selbst im Verteidigungskampf stand. Dennoch leistete Ugarit ca. fünf Jahre lang Widerstand, unterlag dann aber und wurde um 1185 v. Chr. eingenommen.

Bis etwa 1180 v. Chr. fallen den Seevölkern alle wichtigen Städte der Hethiter im westlichen Anatolien und entlang des Mittelmeeres und die mykenischen und frühgriechischen auf Zypern und Kreta zum Opfer. Das Hethiterreich zerbricht.

1177 v. Chr. kann Ramses III. die Seevölker in einer erbitterten Seeschlacht vor dem Nildelta abwehren. Auch wenn die (ägyptischen) Quellen von einem Sieg der Ägypter sprechen, so war es allenfalls ein Pyrrhussieg, denn die ägyptischen Verluste müssen schwer gewesen sein, so schwer, dass von einer Verfolgung des Gegners Abstand genommen wurde. Der Seevölkerangriff wurden zwar abgeschlagen, aber sie wurden nicht vernichtet. Und sie ließen sich nach 1177 v. Chr. in der fruchtbaren Küstenebene des heutigen Israel nieder - so sie von den geschwächten Ägyptern auch nicht behelligt wurden.

Die Ursprünge dieser Invasoren sind unsicher und in der Wissenschaft bis heute umstritten. Ohne nun allzu sehr auf die Seevölker eingehen zu wollen, eine kurze Beschreibung von Möglichkeiten: Die nebulösen Angreifer werden in hethitischen Texten als schiqalaya bezeichnet - was in etwa mit "Bootsbewohner" oder "die, die auf Schiffen hausen" gedeutet werden kann; zudem tragen manche Anführer der Seevölker indogermanische Namen. In ägyptischen Texten, die aber vermutlich erst deutlich nach 1200 v. Chr. entstanden, werden die Angreifer auch als Danaer bezeichnet, wobei dieser Begriff eigentlich auf Homer zurückgeht und die frühen Griechen definierte. Darüber hinaus nennen die Ägypter für die Eindringlinge noch die Namen (oder Namen von Volksgruppen?) der Schekelesch, Tjeker, Waschascha und ... Philister.

Die letztgenannten - die wichtigsten (nachweisbaren) Philisterstädte waren Aschdod und Gaza an der Küste und Ekron (etwas weiter im Landesinneren) - werden bald von noch von sich reden machen, denn sie gehen unseren in Kanaan siedelnden Israeliten alsbald auf die Nerven.

Fortsetzung folgt (und dann wieder näher an den Israeliten und der Bibel).

Schneemann
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