Frage zum Beginn des Ukraine Kriegs
#16
Das ist eine sehr schwierige Frage, insbesondere im Nachhinein, wo man dann viel mehr Informationen vorliegen hat als damals. Ich will daher darauf nur in Bezug auf meine Person antworten: ich habe es damals 2021 nicht erkannt und war der Überzeugung, dass es sich um eine bloße Machtdemonstration handelt, welche die eigene Verhandlungsposition in Bezug auf die Seperatisten stärken soll.

Ob und inwieweit westliche Geheimdienste dies als bereits laufende Kriegsvorbereitung hätten erkennen können, entzieht sich völlig meiner Kenntnis. Es ist ja nicht bekannt, was für Informationen aus Russland vorlagen. Rein von OSINT her aber würde ich es verneinen, dass dies erkennbar war.
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#17
(05.06.2025, 22:01)Quintus Fabius schrieb: Das ist eine sehr schwierige Frage, insbesondere im Nachhinein, wo man dann viel mehr Informationen vorliegen hat als damals. Ich will daher darauf nur in Bezug auf meine Person antworten: ich habe es damals 2021 nicht erkannt und war der Überzeugung, dass es sich um eine bloße Machtdemonstration handelt, welche die eigene Verhandlungsposition in Bezug auf die Seperatisten stärken soll.

Ob und inwieweit westliche Geheimdienste dies als bereits laufende Kriegsvorbereitung hätten erkennen können, entzieht sich völlig meiner Kenntnis. Es ist ja nicht bekannt, was für Informationen aus Russland vorlagen. Rein von OSINT her aber würde ich es verneinen, dass dies erkennbar war.

Ist es nicht völkerrechtlich so, dass keine "einschüchternden" Militärmanöver mit Ansammlung von grösseren Truppenverbänden unmittelbar in der Nähe der Grenze des Nachbarstaates durchgeführt werden dürfen und dies bereits als versteckte Kriegserklärung gesehen werden kann? Egal, ob dies nun als "Übung" deklariert wird oder nicht.

Ich kann ja auch keinen Panzer in meinen Garten vor den Zaun meines Nachbarn stellen und das Rohr auf sein Haus richten, mal eben so als "Machtdemonstration".
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#18
De facto erfolgte die Kriegserklärung ja schon 2014 und war bereits die Besetzung der Krim völkerrechtswidrig. Beide Staaten befanden sich seitdem ohnehin in einem de facto Kriegszustand.

Russische Streitkräfte haben zudem bereits vorher in den Seperatistengebieten gegen die Ukrainer gekämpft - wenn auch als Seperatisten getarnt. Ein Gros der Kampfhandlungen in der Ostukraine in den Jahren unmittelbar vor 2022 war bereits Russen vs Ukrainer. Ja sogar schon 2014 gab es den ersten massiven Angriff regulärer russischer Streitkräfte auf ukrainische Armeeeinheiten, damals wurden am 11 Juli 2014 bei Zellenopillia zwei mechanisierte ukrainische Bataillone im Donbass von den Russen mittels Artillerie vollständig zerschlagen. Von konventionellen russischen Armeeeinheiten, nur dass die Welt und insbesondere der Wertewesten TM dies einfach ignorierten, weil man ja ach so günstiges Gas von den Russen beziehen konnte etc.
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#19
@Quintus Fabius
2014 war es so, dass die Ukraine sich faktisch selbst gespalten hat - in einen russisch- und einen ukrainischsprachigen Teil. In deinen Worten könnte man sagen, die Ukraine hat es nicht vermocht, nach den Maidan-Proteste eine gemeinsame Meta-Idee zu schaffen, die auch die russischsprachigen Teile der Bevölkerung mitnahm.
Eine weitere Mitschuld gebe ich auch der EU mit ihrer ungebremsten Expansion, man wollte die Ukraine nicht als Brücke nach Russland (und seinen Ressourcen), sondern sich ganz einverleiben. Ich denke, man hat da seitens der EU gerade in Russland Misstrauen geschaffen.
Russland hat eine traditionell starke emotionale Bindung an die Ukraine, und der aktuelle Krieg ist hier auch - so verrückt es klingen mag - das Resultat von beleidigter Liebe.
Ich denke, Russland konnte nicht wirklich anders handeln. Die Krim ist traditionell russisches Gebiet, und ich wage sehr zu bezweifeln dass die Übergabe der Krim an die Ukraine 1955 völkerrechtlich legitim war, und ob sie mit den Gesetzen der Sowjetunion wirklich konform war. Die Mehrheit der Bevölkerung der Krim war schon damals gegen den Anschluss an die Ukraine.
Zudem hat die Krim für Russland noch einen emotional höheren Wert als die Ukraine an sich. Man hatte schon vor 160 Jahren einen Krieg um sie geführt, und noch davor das Osmanische Reich von dort verdrängt. Ich frage mich, warum ukrainische Politiker nicht erklären, im Falle eines Sieges die Krim an die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches zu übergeben. Wink
Russland konnte natürlich auch aus emotionaler Bindung nicht der Diskriminierung und schlechten Behandlung der russischsprachigen Bevölkerung zusehen. Franzosen, Briten und Deutschen würde es trotz gegenteiliger Beteuerung nicht anders gehen.
Wohl auch deshalb hat der Wertewesten TM nicht eingegriffen, Russland leistete eigentlich nur einer ihm zugewandten Bevölkerungsgruppe Unterstützung, wieviel davon russisch und wieviel russo-ukrainisch war sei dahingestellt. Es war einfach eine mehr oder weniger verdeckte Intervention.
Der Fehler, den Putin 2022 gemacht hat war der, den Krieg ohne wirklichen Kriegsgrund auszulösen. Die Empörung darüber kann ich etwas nachvollziehen. Wenn ich etwa auf offener Straße jemandem ohne einen offensichtlichen Anlass eine 'reinhaue heißt es ja auch: "Was hat der denn? Was ist Tiger für ein A....?"
Klüger wäre es von Putin gewesen, wenn er gewartet hätte bis die Ukraine sich selbst gehängt und ihm einen wirklichen Anlass für einen Krieg gegeben hätte.
Im Zweifelsfall hätte man mit den russischen Truppen an der Grenze und in Belarus noch Manöver abhalten können - damit hätte man sich mit ihnen gutgestellt, afaik mögen Soldaten nichts lieber als Manöver, man sitzt ja nicht in der Kaserne 'rum oder riskiert gerne seine Haut in einem echten Krieg. Zudem hätte man dadurch Misstände bei den eigenen Truppen aufdecken oder ihnen modernere Bewaffnung zukommen lassen - genug von ihnen waren ja aus dem Fernen Osten verlegt worden, und kaum besser ausgerüstet als zu Zeiten der Sowjetunion.
Ich war übrigens schon vor Kriegsbeginn 2022 der Meinung, dass sich Putin übernimmt.
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#20
(27.06.2025, 23:20)Tiger schrieb: Ich denke, Russland konnte nicht wirklich anders handeln.
In aller Kürze: Ich widerspreche heftig.
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#21
Diese Sichtweise deckt sich weitgehend mit jener der meisten Russen (und auch etlicher anderer Völker wie beispielsweise Serben etc). Sie lässt aber außer Acht, dass auch die russisch-sprachigen Bürger der Ukraine gespalten waren und sind. Und dass es umgekehrt in Russland viele Ukrainische-sprachige / ukrainisch-stämmige Russische Staatsangehörige gibt.

Es kämpfen jede Menge Russen auf Seiten der Ukraine, auch aus den Ostgebieten der Ukraine, in denen es keineswegs so war, dass dort die absolute Mehrheit gegen die Ukraine oder die Ukrainer gewesen wäre. Man war gegen die aktuelle Regierung, aber man wollte auch nicht die den Menschen dort aufoktroyierten Marionettenstaaten, welche künstlich von außen durch Russland und mittels russischer Truppen geschaffen wurden.

Und um das nochmal zu betonen: es kämpften schon 2014 auch in der Ostukraine reguläre russische Truppen gegen die Ukrainer.

Umgekehrt gibt es in Russland Ukrainer / ukrainischstämmige und ukrainisch sprechende russische Staatsangehörige, welche absolut treu zur Russland stehen.

Die perfide Ironie an diesem Komplex ist es also, dass beide Seiten eigentlich sich so nahe stehen und derart miteinander verwoben waren, wie dies überhaupt nur möglich ist. Es wäre für Russland ein leichtes gewesen, mit einer positiven Politik gegenüber ihren engsten Verwandten die Ukraine dauerhaft als treuen Verbündeten auf russischer Seite zu halten.

Es gehörte also ein immenses Ausmaß an Inkompetenz dazu, die Ukraine in den Konflikt und dem folgend in den Krieg mit Russland zu treiben. Bis dahin, dass heute der Bruch dauerhaft und nicht mehr umkehrbar ist. Dies hinzukriegen war der unwahrscheinlichste Ausgang in den Beziehungen dieser beiden Nationen.

Warum aber war das System Putin derart inkompetent in Bezug auf die Ukraine ?! Die Antwort liegt im Hochmut mit welchem Russen seit Jahrhunderten auf die Ukrainer herab geschaut haben. Die Kleinrussen wurden nie ernst genommen und man sah ihre "natürliche Position" immer als eine unter den Russen an, in welche sie sich zu fügen hätten.

Du schriebst hier von verschmähter Liebe: aber das trifft allenfalls für die Ukrainer zu. Die Russen empfanden nie Liebe für die Ukraine - sondern bezogen lediglich eine Selbsterhöhung aus der Erniedrigung der Ukrainer, welche sie nie für voll oder ernst nahmen und welche aus ihrer Sicht ihr Eigentum waren und sind.

Das ist übrigens meiner Ansicht nach auch der Grund, warum die Russen derart agressiv und verbittert auf die Veränderungen in der Ukraine reagierten, nicht aus verschmähter Liebe, sondern weil dies ihr Selbstverständnis, ihr Selbstwertgefühl und ihre Individuität in Frage stellt. Denn die Russen beziehen ihr Selbstwertgefühlt daraus, dass sie sich selbst über andere erhöhen. Man lebt arm, alles ist mehr schlecht als recht, aber man ist ein Russe und deshalb überlegen und weil man eine militärische Großmacht ist und stark und hart und die anderen einem gehorchen müssen. Das Selbstbewusstsein und die Identität welche man sich dadurch aufbaut werden durch eine Ukraine die eigene Wege geht so massiv gekränkt, dass man darauf mit Gewalt reagieren musste, weil man die innere Leere welche die Russen so zeichnet nur durch dieses auf geliehener Macht und Stärke beruhende Überlegenheitsgefühlt füllen konnte.

Eine erfolgreiche und eigenständige Ukraine ist daher nicht nur innenpolitisch für das System Putin ein großes Problem, weil sie aufzeigt, dass auch die Russen ohne dieses System besser dran wären, sondern vor allem nimmt sie den Russen das letzte bißchen Würde und Stolz dass sie noch haben, das einzige was sie noch aufrecht hält, und das löst natürlich massivste Agression aus. Man muss daher einfach beweisen, dass dieses eigene Selbstverständnis wahr ist und sich durchsetzen, weil das eigene Ego es sonst nicht aushalten würde.

Russland leistet daher keineswegs anderen Russen Unterstützung, sondern erträgt es nicht, dass selbst die Ukrainer, welche immer die Schwächeren waren, mit denen man immer gemacht hat was auch immer man wollte, nun eigene Wege gehen, nicht mehr gehorchen und sich als so stark erweisen, dass man sie nicht einfach wegfegen kann. Das kränkt das russische Selbstverständnis welches jedes Selbstbewusstsein nur daraus entleiht und deshalb muss man als Russe die "natürliche Ordnung" wieder herstellen, koste es was es wolle, denn sonst müsste man sich ja eingestehen, dass man ein Verlierer und ein Schwächling ist und es gibt in der russischen Kultur keine Gnade für die Schwachen.

Spezifisch zur Krim und zu Fehlern Putins:

Wie grenzenlos inkompetent das System Putin im Umgang mit diesem Konflikt ist zeigt sich allein darin, dass Russland mit Trump ernsthaft die Chance gehabt hätte, die Krim als russisches Gebiet anerkannt zu kriegen. De facto hätte Russland einen Sieg aus diesem Krieg heraus holen können, mit Anerkennung der Krim als russischem Staatsgebiet selbst durch den Westen, einfach nur die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen um damit Trumps Ego zu streicheln. Und selbst dieses strategische Wunder (eine Art zweites Wunder des Hauses Brandenburg) hat man einfach vertan weil man sich seiner Beschränktheit (wortwörtlich wie übertragen) derart in die Wahnidee verrannt hat, dass man die Ukraine umbedingt vollständig niederringen muss.

Es ist dabei komplett irrelevant, wem die Krim nun gehörte oder gehört oder wie sich dies rechtlich verhalten mag. Das aktuelle System Putin (welches zum Nutzen des Westens möglich lange erhalten bleiben möge) hätte die Krim ernsthaft dauerhaft für Russland gewinnen können. Aber selbst dafür war man zu unfähig.
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