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Russland vs. Ukraine - Druckversion

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RE: Russland vs. Ukraine - Schneemann - 04.06.2022

Das denke ich eher auch. Vermutlich wollte man die Stadt in der Hand haben, da man sie als Nachschubbasis, rückwärtige Drehscheibe etc. nutzen wollte. Nachdem man anfangs doch etwas unvorhergesehen rasch vorankam, stieß man eben flott nach (vielleicht unter Vernachlässigung des Flankenschutzes und der Aufklärung?) und rannte dann in einen ukrainischen Gegenangriff hinein. So etwas kann im Krieg nun mal passieren...

Weiterhin:
Zitat:Kiew glaubt an Kriegsende in zwei bis sechs Monaten

Kiew (dpa) - Die ukrainische Präsidialverwaltung prognostiziert, dass der russische Angriffskrieg noch bis zu einem halben Jahr dauern kann.

"Das kann sich noch zwei bis sechs Monate hinziehen", sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak im Interview mit dem oppositionellen russischen Online-Portal "Medusa" mit Blick auf die mögliche Kriegsdauer am Freitagabend. Am Ende hänge es davon ab, wie sich die Stimmung in den Gesellschaften Europas, der Ukraine und Russlands verändere. [...]

Er warnte dabei einmal mehr vor territorialen Zugeständnissen an Russland. Das werde den Krieg nicht beenden. "Weil es für die Russische Föderation - und das hat Herr (Wladimir) Putin mehrmals gesagt - prinzipiell ist, dass allein die Existenz der ukrainischen Staatlichkeit schädlich ist." Der russische Vormarsch ziele daher weniger auf die Eroberung konkreter Gebiete als auf die Zerstörung der Ukraine an sich.

Podoljak schätzte die russischen Verluste auf insgesamt 80.000 Menschen. Das seien Tote und Verwundete bei der regulären Armee, den Separatisten und der Söldnertruppe "Wagner". Allerdings räumte er ein, dass nach einer für Moskau katastrophalen Anfangsphase des Kriegs mit bis zu 1000 Kriegstoten pro Tag die derzeitigen Verluste der russischen und ukrainischen Truppen "vergleichbar" seien. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte die eigenen Verluste jüngst auf täglich bis zu 100 Tote und 500 Verletzte beziffert.
https://www.sueddeutsche.de/politik/krieg-kiew-glaubt-an-kriegsende-in-zwei-bis-sechs-monaten-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220604-99-545021

Zunächst halte ich die Einschätzung, der Krieg könne in zwei bis sechs Monaten enden, durchaus für realistisch. Ich mache das nicht mal unbedingt an Gebietseroberungen fest, sondern sehe erstens den Abnutzungsgrad und zweitens (wieder mal) das Wetter als entscheidend an. Wir werden vermutlich noch eine gewisse Heftigkeit der Kämpfe in den Sommermonaten sehen, wenn beide Parteien sich entsprechend gut im freien Feld bewegen können. Aber ab dem Herbst, wenn der Boden wieder grundlos wird, grob etwa ab September, werden die beiden abgekämpften Kontrahenten im Stillstand und im Schlamm verharren.

Gut möglich also, vor allem wenn die hier genannten Verlustzahlen stimmen - und interessant ist auch, dass die Ukrainer einräumen, dass sie ebenso hohe Verluste wie die Russen erleiden (dass die Verluste sich angleichen, war schon mein Eindruck vor rund einer Woche) -, so wird dies schlicht und einfach zu einem immer stärkeren personellen Engpass führen. Man wird die Sommermonate noch nutzen und es wird den einen oder anderen blutig erkämpften Gebietsgewinn geben, aber spätestens wenn der Herbstregen kommt, werden diese Verluste in Kombination mit dem Schlamm und Nachschubthemen zu einem Erstarren der Front führen - allenfalls gekennzeichnet noch von sporadischen Artillerie- und Mörserduellen über die Linien hinweg und ggf. kleineren Infanterieaktionen

Und dann, in dieser Agonie des Grabenkampfes, werden beide Seiten überlegen, was man noch machen bzw. gewinnen kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass dann mit dem Verhandlungstisch geliebäugelt wird, ist durchaus hoch. Bleibt höchstens noch die Frage, was die Ukrainer bereit wären aufzugeben in diesen Verhandlungen bzw. was die Russen einfordern.

Schneemann


RE: Russland vs. Ukraine - Nightwatch - 04.06.2022

(04.06.2022, 07:24)lime schrieb: So schnell wie Rußland die Stadt fast komplett besetzt hatte sieht es eher danach aus, als ob sie den sich zurückziehenden ukrainischen Truppen einfach gefolgt wären ohne große Kämpfe. Und dabei ist man halt in den Gegenstoß hineingelaufen. Ob sich das für die Ukraine wirklich rentiert wird sich zeigen, zumindest war es eine Aktion mit der die russischen Truppen wohl nicht mehr gerechnet hatten.

Lage zum Beginn des Vorstoßes ins Stadtgebiet Sievierodonetsk:
https://militaryland.net/wp-content/uploads/2022/05/day_91_Siverskyi-Donets.png
Erkläre mir bitte den tieferen Sinn dieser Aktion. Ich drücke den Kessel doch nicht ein bevor er geschlossen ist! Das letzte was ich tun will ist, den Feind aus Sievierodonetsk zu werfen bevor ich die Rückzugsrouten aus Lysychansk nicht kontrolliere.
Der Schlüssel zum Sieg liegt hier ganz schlicht und eindeutig im Durchbruch über Popasna. Die Russen hätten dort alle lokal verfügbaren Kräfte konzentrieren müssen anstatt sie in einem Angriff auf Sievierodonetsk zu verzetteln. Ein letzer Vorstoß auf Siversk und das wäre es für alle ukrainischen Verbände östlich davon gewesen.
Stattdessen 9 verlustreiche Tage später:
https://militaryland.net/wp-content/uploads/2022/06/day_100_Siverskyi-Donets.png
Der Durchbruch ist auf halber Strecke steckengeblieben und man hat sich in Sievierodonetsk derart verausgabt, dass die Ukrainer auf der östlichen Seite des Donez (IMO ziemlich sinnbefreit btw) vagabundieren.

Meines Erachtens sieht man hier wieder einmal, dass die Russen völlig unfähig sind ihre vorformulierten Pläne der Realität anzupassen. Offensichtlich war neben dem südlichen Durchbruch über Popasna ja geplant, bei Bilohoriwka im Norden über den Donez zu setzen. Dann hätte man in einer schönen Zangenbewegung den Kessel schnell schließen und anschließend eindrücken können. Bekanntermaßen scheiterte die Flussüberquerung im Norden spektakulär im ukrainischen Artilleriefeuer, sodass sich der nördliche Teil der Zangenbewegung nicht manifestierte. Trotzdem wurde dann in der Folge das Drehbuch stur weiter abgespielt. Der Durchbruch über Popasna wurde weiter ausgebaut, bleibt mangels Unterstützung aus dem Nordne jedoch auf halber Strecke liegen. Und ungeachtet dieser Tatsache startet dann der Angriff auf Sievierodonetsk; ich würde wetten zum vor Operationsbeginn bereits fest festgelegten Zeitpunkt.
Kann man so bringen. Wenn die Geschichte allerdings mangels ausreichender eigener Kräfte eh schon Spitz auf Knopf steht sollte schon etwas mehr kommen.

@Schneemann
Ich glaube du übersiehst den kommenden Impact der laufenden ukrainischen Mobilisierungsbemühungen und überschätzt so den Impact der Verluste. Die Zahlen diesbezüglich gehen von 700.000 Mann im Moment über eine Million bis zum Jahresende auf bis zu 1.5 Millionen nächstes Jahr.
Wenn die Ukraine davon nur einen Bruchteil an einer Front in die Wagschale wird werfen können ist ein Zusammenbruch der russischen Verteidigung unvermeibar.
Ich rechne da für die zweite Jahreshälfte weniger mit Grabenkämpfe als neuen, plötzlichen Rückzügen der Russen analog Kiev und Kharkiv. Ich kann mir ohne weiteres Vorstellen, dass Ende des Jahres die Russen alle besetzen Gebiete jenseits des Donbas wieder verloren haben.


RE: Russland vs. Ukraine - Pmichael - 04.06.2022

Was für eine Überraschung dass eine Armee geführt von fachfremden Geheimdienst Personal die einfachsten Grundlagen der Kriegsführung nicht beherrschen. Es ist halt ein Haufen Schauspieler.


RE: Russland vs. Ukraine - Quintus Fabius - 04.06.2022

Ergänzend zu:

Zitat:Meines Erachtens sieht man hier wieder einmal, dass die Russen völlig unfähig sind ihre vorformulierten Pläne der Realität anzupassen. Offensichtlich war neben dem südlichen Durchbruch über Popasna ja geplant, bei Bilohoriwka im Norden über den Donez zu setzen. Dann hätte man in einer schönen Zangenbewegung den Kessel schnell schließen und anschließend eindrücken können. Bekanntermaßen scheiterte die Flussüberquerung im Norden spektakulär im ukrainischen Artilleriefeuer,

Diese extreme Unfähigkeit von vorgefassen Operationsplänen abzuweichen sieht man auch schon bei den Versuchen der Flussüberquerung im Norden. Den die haben ja nicht einmal oder zweimal versucht da eine Brücke zu schlagen und überzusetzen, sondern tatsächlich in Wahrheit sogar mindestens fünf mal. Immer wieder und wieder, an wechselnden Stellen zwar, aber doch räumlich nahe beieinander. Spätestens nach dem zweiten mal hätte man zwingend etwas völlig anderes versuchen müssen, ach was, schon nach dem ersten Mal hätte es offenkundig sein müssen.

Allgemein:

Die einfachen russischen Soldaten sind eigentlich das beste Menschenmaterial dass sich eine Armee überhaupt wünschen kann. Unter derart schlechten Verhältnissen wäre keine westliche Armee überhaupt mehr kampfähig. Was für eine Ironie, dass derart zähe, verbissene und lebensverachtende Kämpfer von einer derartigen Führung so dermaßen ins Verderben "geführt" werden. Wenn man diese Soldaten richtig ausbilden und führen würde, wäre die sich daraus ergebende Kampfkraft immens. Die von der Ukraine regelmässig abgefangenen und veröffentlichen Telefonate und "Interviews" mit Kriegsgefangenen zeigen klar auf, welch schier unfassbare Leistung hier seitens der einfachen russischen Soldaten im Feld erbracht wird. Die halten unter Bedingungen durch, die so extrem sind, dass man dergleichen seit sehr langer Zeit nicht mehr irgendwo gehört hat. Ein Soldat berichtete beispielsweise davon, dass seine Einheit seit Kriegsbeginn (zu diesem Zeitpunkt also seit 92 Tagen) keinerlei Verpflegung erhalten hat und man bei den Ukrainern inzwischen auch nichts mehr zum Essen plündern könne, weshalb er und seine Kameraden jetzt einen toten Hund der da auf der Straße lag gegessen haben weil der noch Zitat: halbwegs frisch war. Ein anderer berichtete, dass seine Einheit ohne Unterlass und Pause seit mehr als einem Monat durchgehend im Gefecht stand, bis von seinem ganzen Bataillon nur noch 13 Mann unverwundet übrig waren. Daraufhin habe man sie als "Zug" einer anderen Einheit zugeteilt und sie sollten wieder unmittelbar ins Gefecht, obwohl sie davor mehrere Tage de facto nicht geschlafen hätten. Andere berichten davon, dass sie vollkommen unsinnige Befehle verweigerten und dann ein Offiziere eine Handgranate auf sie geworfen habe, oder dass man keine Aufklärungseinheiten hat weil diese als Leibwache der höheren Offiziere abgestellt sind, wofür diese Offiziere geplünderte Güter und Geld beschlagnahmten von den einfachen Truppen um diese als Bestechung eben jenen Aufklärern zu geben, dass Tschetschenen einfache russische Soldaten überfallen und ausrauben um ihnen ihre Beute abzunehmen (das führte sogar schon nachweislich zu Schießereien zwischen Tschetschenen und russischen Soldaten) usw usw usf

Das sind Bedingungen die einfach nur noch lächerlich sind. Wie kann irgendeine Armeeführung, überhaupt irgendein Offizier so mit seinen Truppen umgehen? Nicht einmal aus irgendwelchen ethisch-moralischen Gründen, allein schon aus rein praktischen Gründen ist das absurd falsch. Wie soll man so jemals gewinnen, wenn man die eigenen Truppen derart verschleißt ?! Wie kann man überhaupt noch erwarten dass irgend jemand so auf Dauer kampffähig bleiben kann? Und wie ist es möglich dass die Soldaten überhaupt noch Befehle entgegen nehmen und es nicht längst eine allgemeine Meuterei bei den russischen Soldaten gibt?

So weit man es beurteilen kann ist die Kampfmoral ziemlich schlecht, aber sie sollte angesichts der Umstände eigentlich gar nicht mehr vorhanden sein.


RE: Russland vs. Ukraine - Schneemann - 05.06.2022

@Nightwatch
Zitat:Ich glaube du übersiehst den kommenden Impact der laufenden ukrainischen Mobilisierungsbemühungen und überschätzt so den Impact der Verluste. Die Zahlen diesbezüglich gehen von 700.000 Mann im Moment über eine Million bis zum Jahresende auf bis zu 1.5 Millionen nächstes Jahr.
Wenn die Ukraine davon nur einen Bruchteil an einer Front in die Wagschale wird werfen können ist ein Zusammenbruch der russischen Verteidigung unvermeibar.
Ich rechne da für die zweite Jahreshälfte weniger mit Grabenkämpfe als neuen, plötzlichen Rückzügen der Russen analog Kiev und Kharkiv. Ich kann mir ohne weiteres Vorstellen, dass Ende des Jahres die Russen alle besetzen Gebiete jenseits des Donbas wieder verloren haben.
Das ist eine sehr optimistische Rechnung. Was ich für möglich halte, wenn man sich im Herbst nicht auf einen Waffenstillstand einigen wird und wenn der Zustrom westlicher Ausstattung so anhält und wenn die Zahl der Rekruten wirklich so stark werden wird, ist, dass die Ukrainer im nächsten Frühjahr, grob ab Mai, zur Rückeroberung des Donbass ansetzen könnten. Darüber hinaus jedoch rate ich zur Vorsicht. Selbst wenn man bis Ende 2022 eine Million Mann auf die Beine stellt, sind davon die meisten ohne Erfahrung (die Ausrüstung dürfte auch kaum reichen für diese Anzahl) und der Großteil in Logistik, Instandsetzung, Kommunikation, Sanitätswesen (das derzeit übrigens jeder Beschreibung spottet) gebunden.

Grob wären es im günstigen Fall also 300.000 Neuzugänge für den direkten Fronteinsatz bis Jahresende. Wenn es stimmt, was Selenskyj kürzlich sagte, dass die ukrainischen Streitkräfte derzeit schon pro Tag rund 300 bis 400 Mann verlieren - und die Intensität der Gefechte dürfte im Sommer eher noch zunehmen -, so wären dies zehntausende von Ausfällen bis Jahresende. Ich denke also, dass a) sich diese Neuzugänge nicht so stark auswirken werden, eher werden nach und nach Lücken gestopft, und b) dass beiden Akteuren davor die Kraft ausgehen wird, noch ehe sich die Verstärkungen signifikant bemerkbar machen würden. Man sollte aber nicht dem Irrtum aufsitzen zu meinen, dass diese "eine Million Mann zu Jahresende" urplötzlich am 31. Dezember aus dem Nebel auftauchen wie einstmals die Chinesen am Yalu.

Was aber möglich wäre, ist, dass man sich im Herbst in einen Waffenstillstand flüchtet, um die eigene Streitkraft zu konsolidieren und neu aufzufüllen und dass man dann nach sechs, sieben Monaten Kampfpause im Frühsommer 2023 wieder antritt zur zweiten Runde. Ist aber nun sehr spekulativ meinerseits.

@Quintus
Zitat:Ein Soldat berichtete beispielsweise davon, dass seine Einheit seit Kriegsbeginn (zu diesem Zeitpunkt also seit 92 Tagen) keinerlei Verpflegung erhalten hat und man bei den Ukrainern inzwischen auch nichts mehr zum Essen plündern könne, weshalb er und seine Kameraden jetzt einen toten Hund der da auf der Straße lag gegessen haben weil der noch Zitat: halbwegs frisch war. Ein anderer berichtete, dass seine Einheit ohne Unterlass und Pause seit mehr als einem Monat durchgehend im Gefecht stand, bis von seinem ganzen Bataillon nur noch 13 Mann unverwundet übrig waren. Daraufhin habe man sie als "Zug" einer anderen Einheit zugeteilt und sie sollten wieder unmittelbar ins Gefecht, obwohl sie davor mehrere Tage de facto nicht geschlafen hätten. Andere berichten davon, dass sie vollkommen unsinnige Befehle verweigerten und dann ein Offiziere eine Handgranate auf sie geworfen habe, oder dass man keine Aufklärungseinheiten hat weil diese als Leibwache der höheren Offiziere abgestellt sind, wofür diese Offiziere geplünderte Güter und Geld beschlagnahmten von den einfachen Truppen um diese als Bestechung eben jenen Aufklärern zu geben, dass Tschetschenen einfache russische Soldaten überfallen und ausrauben um ihnen ihre Beute abzunehmen (das führte sogar schon nachweislich zu Schießereien zwischen Tschetschenen und russischen Soldaten) usw usw usf
Vorab: Ich denke, dass solche Begebenheiten durchaus möglich sind und auch vorkommen. Und dass die Russen in einem äußerst desolaten Zustand sind, wird wohl niemand anzweifeln. Allerdings rate ich auch ein wenig zur Vorsicht bei solchen Geschichten. Manches mag sicherlich auch übertrieben sein und diese Horrorgemälde werden von den moralisch angeschlagenen jungen Soldaten nach Hause gemeldet, nur um aufzuzeigen, wie grausig der Dienst in der Ukraine ist und um eben zu vermeiden, dass der Bruder oder der Onkel vielleicht auch noch losziehen. Quasi eine Art verdeckte Kritik an der Führung und ein Versuch, diesen Krieg, auf den eh niemand mehr großartig begierig ist, völlig in Misskredit zu bringen. Quasi also eine Art von "Wehrkraftzersetzung" der etwas subtileren Vorgehensweise.

Nur um kein Missverständnis entstehen zu lassen: Der Grad der Zersetzung und Unterversorgung in den russischen Streitkräften ist enorm, da möchte ich gar nicht widersprechen, aber ich denke, dass der Umstand, dass solche Berichte recht ungefiltert nach außen dringen können, obgleich gerade in Kriegszeiten das eigentlich auf das schärfste unterbunden werden müsste, es aufzeigt, dass auch höhere Chargen eben dies gewähren lassen, weil sie ebenso unzufrieden sind wie ihre Untergebenen. Und dies wiederum kann ein Hinweis darauf sein, dass die Unzufriedenheit in der Truppe enorme Ausmaße angenommen hat - von den unteren bis zumindest zu den mittleren Rängen (ggf. auch darüber hinaus). Und dies wiederum kann Putin wesentlich gefährlicher werden als irgendwelche zivile Oppositionelle wie Nawalny und Co.

Man erinnere sich: Die Revolution von Februar 1917 wurde eingeleitet, als von der Front abgezogene bzw. zurückkehrende Soldaten in St. Petersburg überraschend meuterten und sich weigerten, auf Demonstranten zu schießen, die gegen die den Krieg und Hunger bzw. den Zaren und seine Kriegspolitik demonstrierten. Es war bekanntlich der Anfang vom Ende des Zarenreiches. Gut möglich, dass es rund 100 Jahre später bald zu einer ähnlichen Entwicklung kommt...

Hierzu (wenngleich auch durch die Ukraine eingesteuert) ein Bsp. für eine offene Befehlsverweigerung - aber wenn von 600 Mann eines Bataillons nur 215 übrig sind, so mag man es verstehen:
Zitat:Intercepted audio said Russian soldiers almost blew up a top general for ordering them to the front line, Ukraine says

An intercepted phone call indicated that Russian soldiers were moments from killing a top general who ordered them to the front line, Ukrainian intelligence said. On Tuesday, Ukraine's Security Services published audio it said was from an intercepted call describing the situation.

The call, said to be made by a soldier calling his wife, described a unit in Donetsk getting into a standoff with Gen. Valeriy Solodchuk, the commander of the 36th Army, after he ordered them to fight. Almost all the remaining 215 troops in the 600-person battalion refused to follow Solodchuk's instructions, the soldier is heard saying, even though their contracts with the Russian military obliged them to follow orders. [...]
https://www.businessinsider.com/russian-troops-nearly-kill-own-general-mutiny-intercepted-audio-ukraine-2022-5

Darüber hinaus soll die Lage in den Feldlazaretten katastrophal sein, es fehlt oftmals an Schmerzmitteln und Verbandsmaterial. Berichten zufolge (ich verlinke sie hier nicht) werden lebenserhaltende Operationen entweder nicht vorgenommen oder aber es wird amputiert wie zu Zeiten des Sezessionskrieges in den Vereinigten Staaten vor 160 Jahren...

Schneemann


RE: Russland vs. Ukraine - voyageur - 05.06.2022

Was Zahlen ???? angeht, und die Situation erinnert mich an Faustkämpfe in alten Hollywoodwestern. Beide Boxer hauen sich auf die Fresse, stehen irgendwie noch auf den Beinen, aber wer fällt als erster um.
Davon abgesehn, Bleibt doch die Frage :
* wer soll das liefern
* wer soll das bezahlen.
Zum liefern, all das was in de Depots verstaubte, verrotte ist doch langsam in die Ukraine transportiert. Bleiben halt die Kampfpanzer.
Zum Bezahlen.
Zur Zeit braucht das ukrainische Budget 5 Millarden Euro monatlich, die letzte 3 Monatsfinnanzierung war schon schwierig. Warten wir mal die nächste ab.
Dazu kommen ukrainische Drohungen wie das in der russischen "Besatzungzone" liegende Atomkraftwerk abzuschalten. Das heißt Europa muss den Strom liefern !
Und die Auswirkungen innerhalb Europa der "russischen" Sanktionen.
Da braut sich viel zusammen. Zur Zeit ist jedenfalls in FR vorrangig erst mal entspannen und Urlaub machen. Bloss was hier die "rentree" (die letzten zurück aus dem Urlaub Ende August) genannt wird kommt bestimmt.
Also ein Abnutzungskrieg über den Winter, bezahlt von Europa ???


RE: Russland vs. Ukraine - Pmichael - 05.06.2022

Bestes Menschenmaterial sind übrigens Soldaten die taktisch geschult sind, die ihre Rolle innerhalb einer funktionierenden Befehlsstruktur wissen, die sich nicht durch Siedlungen, auf der Suche nach Essen und Waschmaschinen, plündern. Mal von den ganzen Vergewaltigungen (Dedovshchina) in der eigenen Truppe ganz zu schweigen.
Ich weiß diese maskuline russischen TV Werbespots über die russische Armee vs. woke West sind ganz lustig aber halt wertlos. Davon abgesehen gibt es genug Beispiele von Amerikanischen und Britischen Soldaten die über einen langen Zeitraum unter extremen Bedingungen standen aber im Unterschied zu den Russen in der Ukraine halt wirklich noch funktioniert haben, im Dreck liegen ist eine Sache aber im Dreck liegen und diszipliniert sein ist eine andere Sache.


RE: Russland vs. Ukraine - Nightwatch - 05.06.2022

@Schneemann
Apropos Sanitätswesen:
https://twitter.com/CanadianUkrain1/status/1533364187560390657

Natürlich werden die Ukrainer kaum eine irgendwie siebenstellige Zahl im Fronteinsatz haben. Ich schrieb ja auch nur von Bruchteil und würde mit 300.000 Neuzugänge im günstigen Fall durchaus mitgehen. Nur würde das doch auch mehr als ausreichen um an ausgewählten Frontabschnitten drückende Überlegenheit herzustellen. Mit den kolportierten 300 bis 400 Mann Verlust pro Tag landet man bei vielleicht 50.000 Ausfällen in sechs Monaten. Schließlich wird ein nicht unerheblicher Teil der Verwundeten auch wieder in den aktiven Dienst zurückkehren können und sei es auch nur in der Etappe.

Insofern scheint in der zweiten Jahreshälfte ein substantieller Aufwuchs der ukrainischen Streitkräfte an ausgewählten Frontabschnitten nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich. Zumal eben auch davon auszugehen ist, dass die Kämpfe und damit einhergehenden ausfälle nicht in der jetzigen Intensität weitergehen können sofern die Ukrainer nicht bald selbst kompromisslos auf Offensive setzen. Schlicht weil die Russen aktuell Verlust im mindestens gleichen Ausmaß (und im ersten Kriegsmonat deutlich höhere) zu verzeichnen haben und im Gegensatz zur Ukraine ohne eigene Mobilisierung nicht ansatzweise in der Lage sind diese auszugleichen. Ich kenne da keine seriösen Zahlen zu, aber angesichts der starken Limitierung der russischen Reserven und dem offensichtlichen Fehlen jeder Mobilisierungsbemühung in Russland könnten die Ukrainer leicht mit fünf Mann für jeden den die Russen an die Front schieben können aufwarten. Wohin soll das bei annähern gleichen Verlusten führen wenn nicht zu drückender ukrainischer Überlegenheit? Die Russen können nun mal ihre Verluste nicht so ersetzen wie die Ukrainer!

Ich glaube ja das dieser Punkt vollkommen unterschätzt wird. Die Ausfälle der Russen sind auch in den Verbänden die mittlerweile nicht vollkommen aufgerieben wurden extrem. Man mag hier mit noch so viel Bewunderung ob deren Kampfeswillen, Opferbereitschaft und Durchhaltefähigkeit aufwarten wollen, wenn einzelne Brigaden auf Kompaniestärke (!) zusammengeschmolzen sind reißen die halt auch nichts mehr. Um ehrlich zu sein halte ich es mittlerweile nicht nur für wahrscheinlich, dass der Kulminationspunkt mit dem Angriff auf Severodonetsk erreicht wurde, sondern würde einen schnellen Zusammenbruch der russischen Offensivbemühungen alles andere als ausschließen. Für mich verfestigt sich der Eindruck, dass die Russen zumindest im Frontabschnitt Severodonetsk – Popasna mit ihren letzten Reserven agieren. Nördlich zwischen Izium und Lyman scheint man mit noch mehr Kampfkraft zu agieren, aber das sind eh Vorstöße ins operative Nichts vor Slovyanks.

Ich schrieb das zwar schon vor Wochen und bleibe bei der Einschätzung das die Russen so nicht mehr weitermachen können. Die sind dabei sich völlig zu Verausgaben und laufen Gefahr mit dem absehbaren Ende der Offensive (völlig gleich wo die Front genau laufen wird) zu wenig Kräfte für die Verteidigung übrig zu haben.


RE: Russland vs. Ukraine - lime - 05.06.2022

@Nightwatch

Für mich sieht es beim Kampf um Severodonetsk einfach nicht nach der großen Schlacht aus. Ich bleibe bei der Ansicht dass da eine rus. Truppe einfach nachgesetzt hat, weil man eben davon ausging dass die ukr. Soldaten sich lieber zurückziehen werden. Auf Grund dieser Fehlannahme gelang der ukr. Gegenangriff zumindest als Teilerfolg, denn nachdem die Stadt kurz zu 80% von der rus. Armee besetzt war steht es nun etwa 50:50. Das zeigt aber auch dass der ukr. Gegenangriff eben keineswegs von durchschlagender Kraft war, sondern schnell ins Stocken geraten ist. Die ukr. Führung hat also weitere Truppen in ein Gebiet geschickt welches immer noch akut von einer Einkesselung bedroht ist. Ob sich dieser Schachzug also wirklich als klug herausstellt wird sich noch zeigen. Sinn der Aktion war wohl auch eher die letzte größere Stadt der Region Luhansk nicht einfach so aufzugeben und damit positiv auf die Moral der eigenen Truppe einzuwirken, auch weil die Gegenoffensive bei Cherson bisher nicht nach Wunsch gelaufen sein dürfte.
Die Zukunftsprognosen halte ich auch für sehr gewagt. Meines Erachtens wird die Mobilisierung der Ukraine über- und die verdeckte Mobilisierung Rußlands unterschätzt. Auch ist überhaupt nicht klar ob Rußland ab Herbst nicht doch noch regulär mobilisieren wird. Genauso steht in den Sternen ob die Unterstützung aus dem Westen in der aktuellen Größenordnung weiter gehen wird oder weiter steigende Rohstoffpreise zu einem Umdenken führen.


RE: Russland vs. Ukraine - Schneemann - 06.06.2022

Aktuelle Entwicklungen - offenbar ist ein weiterer russischer General getötet worden:
Zitat:Kiew bestätigt Tod

Russischer General fällt an Front in Ostukraine

Generalmajor Roman Kutusow starb im Gebiet Luhansk. Zuvor hatte ein russischer Journalist dessen Tod publik gemacht. [...] Über den Tod Kutusows hatte zuerst ein Korrespondent des russischen Staatsfernsehens berichtet. Wann und wo genau der Generalmajor ums Leben kam, teilte der russische Fernsehreporter Alexander Sladkow in seiner Mitteilung auf Telegram nicht mit. Vom russischen Verteidigungsministerium lag keine Stellungnahme vor. [...] Kutusow soll ukrainischen Angaben zufolge gefallen sein, während er einen russischen Angriff auf eine Ortschaft nahe Popasna im Gebiet Luhansk im Osten der Ukraine leitete. Die ukrainische Seite hatte zuvor berichtet, die russische Attacke sei abgewehrt worden und der Feind habe sich unter "erheblichen Verlusten" zurückziehen müssen.
https://www.n-tv.de/politik/Russischer-General-faellt-an-Front-in-Ostukraine-article23379653.html

Um Slowjansk und v. a. um Sjewjerodonezk toben weiterhin schwere Gefechte:
Zitat:+++ Live-Ticker +++

[...] Die russischen Truppen rücken nach britischen Angaben auf die Stadt Slowjansk in der Region Donezk vor. Zudem gingen die schweren Kämpfe in Sjewjerodonezk in der Nachbarregion Luhansk weiter, teilt das Verteidigungsministerium per Twitter aus dem aktualisierten Geheimdienstbericht mit. [...] In der umkämpften Stadt Sjewjerodonezk greifen russische Truppen nach Angaben des ukrainischen Generalstabes weiter massiv mit Artillerie und Mörsern an. Der Sturm der Besatzer auf die im Osten gelegene Industriestadt halte an. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden. [...]
https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-montag-133.html

Weiterhin will Spanien anscheinend Leopard-Panzer an die Ukrainer liefern:
Zitat:Ukraine to get anti-aircraft missiles and tanks from Spain, report says

MADRID, June 5 (Reuters) - Spain is to supply Ukraine with anti-aircraft missiles and Leopard battle tanks in a step up of its military support to the country, according to government sources cited by newspaper El Pais on Sunday. [...] A second phase of training could take place in Spain, according to the sources cited by El Pais.

The paper said Spain's defence ministry is finalising a delivery to Kyiv of low-level Shorad Aspide anti-aircraft missiles, which the Spanish Army has replaced with a more advanced system. [...] Sources told El Pais the offer of increased support was raised when prime minister Pedro Sanchez visited Ukraine and met President Volodymyr Zelenskiy on April 21, but had been delayed by the complexity of the operation.
https://www.reuters.com/world/europe/spain-deliver-anti-aircraft-missiles-tanks-ukraine-el-pais-2022-06-05/

Und noch eine Einschätzung bzgl. der Verfassung der ukrainischen Einheiten, auch vor dem aktuellen Hintergrund. Es zeigt sich klar, dass es auch hier Erosionserscheinungen gibt, obgleich der hier geschilderte Umstand sogar eher noch schmeichelhaft als pazifistische Wandlung angesehen werden kann (teils hinter Bezahlschranke):
Zitat:EINE BEGEGNUNG IN ODESSA

Ihr schickt uns in den sicheren Tod

Auch die ukrainische Armee hat Probleme. Doch diese Wahrheit wird hierzulande gerne ausgeblendet. Eine Begegnung in Odessa mit einem früheren Soldaten, der keine Waffe mehr in die Hand nehmen würde. [...]

Vom Krieg hat Serge genug. Sein Land hat ihn im Stich gelassen und dem russischen Feind zum Fraß vorgeworfen. Im Donbass, wo die Russen gerade ihre militärische Kraft bündeln, wo sie Bomben regnen lassen, Dörfer plattwalzen und Städte unterwerfen, hat Serge 2014 gekämpft, nach der Annexion der Krim. Weil er den Russen den Raub der Halbinsel nicht ohne Widerstand durchgehen lassen wollte, ist er zum Militär gegangen und für eine Spezialeinheit aus Hubschraubern gesprungen.

Für die Ukraine würde er heute keine Waffe mehr in die Hand nehmen und nur noch töten, sollte jemand seine Familie bedrohen. Serge fährt jetzt Taxi in Odessa. Lieber würde er wie früher in einem Nachtclub auf der Bühne stehen, moderieren, singen, die Menschen mitreißen. Aber der Krieg hat auch sein Leben verändert. Gerade wurde das Kriegsrecht verlängert, die Ausgangssperre gilt jetzt von 23 Uhr bis 5 Uhr. Die Odessiten haben sich daran gewöhnt, genauso wie an den Luftalarm und die Bedrohung vom Meer, auf dem russische Kriegsschiffe kreuzen. Daran, dass sie nicht mehr an den Strand dürfen. Es hat den Anschein, als setzten sie der Kriegsgefahr mediterrane Gelassenheit entgegen.
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ukraine-krieg-frueher-soldat-jetzt-taxifahrer-mit-serge-in-odessa-18076346.html

Schneemann


RE: Russland vs. Ukraine - Quintus Fabius - 07.06.2022

Pmichael:

Die mir natürlich auch bekannten Werbespots sind mir völlig egal, sie spielen für die Bewertung der realen Umstände auch gar keine Rolle. Fakt ist, dass die russischen Soldaten, darunter inzwischen auch mir persönlich Bekannte unter Umständen noch weiter kämpfen, unter denen aktuelle KEINE westliche Armee überhaupt noch kampffähig wäre, nicht im Ansatz. Und es gab seit Dekaden keine Situation mehr in welcher britische oder amerikanische Soldaten auch nur Ansatzweise unter derartig schwierigen Umständen gekämpft hätten, mit weitem Abstand.

Natürlich hast du Recht, dass ernsthafte militärische Disziplin und handwerkliches Können ausschlaggebend sind, aber genau genommen ist dies exakt das was ich geschrieben hatte, dass die russischen Soldaten so wie sie jetzt da kämpfen das beste denkbare Material sind und man sie lediglich disziplinieren und richtig ausbilden müsste, oder um mich bildhaft auszudrücken: sie sind ein ungeschliffener Rohdiamant. Was da noch fehlt könnte man hinzu fügen. Was sie aber bereits mitbringen, dass lässt sich so in westlichen Ländern heute nicht mehr in ausreichender Menge finden, nicht im Ansatz.

Und natürlich hat Nightwatch ganz genau so recht, dass dies für sich allein unzureichend ist, weil irgendwann simple physikalische Faktoren dies überwiegen, und eine auf Kompaniegröße oder weniger abgeschmolzene BTG halt einfach aus rein physikalischen und technischen Gründen nichts mehr reißen kann, aber wie auch andere es hier schon geschrieben haben, ist Russland hier und heute immer noch de facto in einer Art Friedensbetrieb und liegt da immer noch ein immenses Potential brach. Ob und wie dieses mobilisierbar ist und wie man es dann einsetzen würde, sind demgegenüber ganz andere Fragen.

Dessen ungeachtet ist die bloße Leistung des einfachen russischen Soldaten was die militärische Seite des ganzen angeht jeder Bewunderung wert, trotz aller von einigen begangenen Kriegsverbrechen oder anderer Fehlentwicklungen. Was da unter bizarr schlechten Verhältnissen immer noch geleistet wird ist herausragend.

Und darin liegt auch meiner Auffassung nach ein großes politisches Potential. Die Soldaten machen dies nur und wirklich allein deshalb noch mit, weil sie davon ausgehen, dass die Mobilmachung in Kürze kommt, dass man in jedem Fall die Ukraine fertig machen wird und dass man siegen wird. Wenn diese Auffassungen enttäuscht werden, wird meiner Einschätzung nach das Risiko für eine Meuterei der Truppen oder gar einen Militärputsch ultrarechter Kräfte innerhalb der Streitkräfte sehr hoch. Deshalb halte ich jeden Verhandlungsfrieden für äußerst problematisch bzw. schwierig, weil nicht nur die Ukraine einen solchen nicht akzeptieren will, sondern auch weil die russischen Truppen und die Bevölkerung in Russland dann in Revanche Denken verfallen werden und sich daraus dramatische politische Umwälzungen in Russland ergeben könnten.


RE: Russland vs. Ukraine - Schneemann - 08.06.2022

@Quintus
Zitat:...dass die Mobilmachung in Kürze kommt...
Ich habe das Gefühl, dass diese verdeckt schon am laufen ist.

Hierzu:
Zitat:Offiziere werden bestraft

Russland gesteht Ukraine-Einsatz von Wehrpflichtigen

Lange verspricht der russische Präsident Putin, nur professionelle Militärs in der Ukraine einzusetzen. Nun räumt Moskau die Entsendung von rund 600 Wehrpflichtigen ein und bestraft die verantwortlichen Offiziere. Bürgerrechtler vermuten, dass die Zahl der dienstleistenden Soldaten aber deutlich höher ist.

Wegen der unerlaubten Entsendung von Wehrdienstleistenden in den Krieg gegen die Ukraine haben die russischen Behörden zwölf Offiziere bestraft. "Etwa 600 Wehrdienstleistende sind zur militärischen Spezialoperation herangezogen worden, alle wurden innerhalb kürzester Zeit wieder zurückgeschickt", sagte der Militärstaatsanwalt des russischen Wehrkreises West, Artur Jegijew, der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. [...]

Die Frage ist von großer symbolischer und politischer Bedeutung in Russland. Der Kreml hat den Krieg in der Ukraine als "militärische Spezialoperation" deklariert und zu verstehen gegeben, dass nur professionelle Militärs freiwillig dort kämpfen. Der Einsatz gewöhnlicher Soldaten, die zum Wehrdienst eingezogen wurden, birgt für die russische Führung die Gefahr, dass der Rückhalt in der Bevölkerung schwindet. Befürchtet wird, dass die Angst vor einer Mobilmachung wächst und der Krieg in der Ukraine ähnlich unbeliebt wird wie der in Tschetschenien oder in Afghanistan. [...]

Nach Einschätzung von Bürgerrechtlern könnte die Zahl der tatsächlich in der Ukraine kämpfenden Wehrpflichtigen deutlich höher sein als offiziell angegeben. Allein auf dem Raketenkreuzer "Moskwa" haben einige gedient. Nach dem Untergang des Flaggschiffs der Schwarzmeerflotte erklärte das russische Verteidigungsministerium den Angehörigen der vermissten Matrosen, dass das Kriegsschiff nicht am Einsatz gegen die Ukraine beteiligt gewesen sei. Am Dienstag wurde immerhin bekannt, dass die Crew nun doch zu den Kriegsteilnehmern gerechnet wird.
https://www.n-tv.de/politik/Russland-gesteht-Ukraine-Einsatz-von-Wehrpflichtigen-article23382573.html

Offenbar hat die Ukraine Interesse am israelischen Iron Dome - und via Deutschland sollen Spike ATGMs an die Ukraine gehen:
Zitat:Ukraine requests Israel the purchase of Iron Dome counter artillery missile systems

According to information published by "The Jerusalem Post" on June 7, 2022, Ukraine has requested Israel the purchase of Iron Dome counter artillery air defense missile systems and also requested receive approval for the transfer of the Israeli-made Spike anti-tank missile from Germany to Ukraine. [...]

Last week, Israel informed Ukraine that it did not want to give the green light for the transfer of anti-tank missiles to Ukraine. Israel wants to keep its neutrality regarding the conflict in Ukraine, and for now, does not want to provide military aid in order to maintain a good political relationship with Ukraine and Russia.

Citing information from Israel, the Iron Dome is not seen as a weapon but as a means that can save lives in a defensive setting. The Iron Dome is in service with the Israeli armed forces since 2011 and successfully intercepted thousands of rockets. Citing Israeli military sources, the Iron Dome has achieved over a 90% success rate. The system has saved lives and prevented damage to property.
https://www.armyrecognition.com/defense_news_june_2022_global_security_army_industry/ukraine_request_israel_the_purchase_of_iron_dome_counter_artillery_missile_systems.html

Zur Lage vor Ort - offenbar gibt es in Sjewjerodonezk einen ziemlich unübersichtlichen Häuser- und Straßenkampf, wobei die Locations mehrfach den Besitzer wechseln...
Zitat:Russian assault on Sievierodonetsk redoubled after counterattack

Non-stop street fighting and bombardments as Kremlin seeks full control of Luhansk province. [...]

After a Ukrainian counterattack over the weekend, Russian soldiers were seeking to regain the initiative. They were trying to move forward to dislodge Ukrainian fighters from their last stronghold in an industrial zone. Between 10,000 and 11,000 civilians remain in the city.

The regional governor, Serhiy Haidai said tough street battles were continuing with varying degrees of success. “The situation constantly changes, but the Ukrainians are repelling attacks,” he said. The neighbouring city of Lysychansk, a few kilometres south of Sievierodonetsk, was being “totally destroyed”, he added. “Russian shelling has intensified significantly over the past 24 hours. [...]

The Kremlin is keen to declare victory in Sievierodonetsk, which would give it full control of Luhansk province. Russia’s defence minister, Sergei Shoigu, on Tuesday said 97% of the latter region was under Kremlin control. He said his troops were pushing forward from Popasna, 30km south of Sievierodonetsk. They had taken control of Lyman, Sviatohirsk and 15 other towns, he said. Nevertheless, Moscow is making slow progress overall. Seven weeks after beginning a full-scale military operation in Donbas, it has been unable to capture the key cities of Slavyansk and Kramatorsk, or to encircle Ukraine’s eastern army, as it had hoped. [...]

So far, though, it had not achieved a breakthrough or been able “to translate tactical gains to operational level success”, the ministry said. With neither side prevailing on the battlefield, there seems little prospect of negotiations. Most observers in Kyiv now expect the war to continue through the summer until at least the end of the year.
https://www.theguardian.com/world/2022/jun/07/russian-assault-on-sievierodonetsk-redoubled-after-counterattack

Schneemann


RE: Russland vs. Ukraine - Schneemann - 09.06.2022

Zwar haben vor der UN die meisten Mitgliedstaaten den russischen Angriffskrieg verurteilt (von einer Handvoll "üblicher Verdächtiger" einmal abgesehen), dennoch ist die Lage in bspw. Südamerika etwas differenzierter zu betrachten, hier hat man sich bislang eher auf humanitäre Hilfe und verhaltene Kritik konzentriert; auch in Asien schleichen einige Länder wie die Katze um den vielfach bemühten heißen Brei bzw. um diesen Krieg herum und suchen eher nach dem eigenen Vorteil, etwa Indien oder China (also die beiden größten).

Ein Blick auf Afrika und wie sich die dortigen Länden positionieren, ist bislang aber eher stiefmütterlich angegangen worden, was vermutlich auch daran liegt, dass Afrika wirtschaftlich eben schwächer ist. Dabei ist es gerade der Kontinent, der von der Getreidelieferungsproblematik mit am stärksten betroffen ist.

Dazu ein recht interessanter Artikel:
Zitat:Africa: The War in Ukraine Through an African Lens

African policymakers and civil society opinion makers, like their counterparts around the world, share no consensus on the war in Ukraine. [...]

The head of the African Union, Sengalese President Macky Sall, is meeting with Russian President Vladimir Putin on Friday, June 3, to discuss the war and how to resolve these issues for the African continent. This involves wheat exports from Ukraine, which must pass through Russian-controlled ports or the port of Odessa on the Black Sea. Russia has also limited grain exports except to its top customers. Less noted but also vital for Africa are fertilizer exports from Belarus, blocked by closure of the export route through Lithuania. [...]

But the reluctance of African governments to vote for Western resolutions at the United Nations, or take sides with Washington and its policy of military escalation, should not be seen as support for the Russian invasion or for Vladimir Putin.

Yet both the Biden administration and Congress continue to demand that African leaders take sides. On April 27, for example, the House of Representatives passed the “Countering Malign Russian Activities in Africa Act” by a margin of 415 to 9. The bill essentially mandates a new Cold War in Africa, including action against African governments that “facilitate the evasion of United States sanctions against Russia.”

The debate about causes and responsibility for the war in Ukraine will undoubtedly continue. Some in Africa, as elsewhere around the world, may resist Washington’s demands to take sides because they approve of the Russian invasion of Ukraine. Governments in a few African countries, notably Mali and the Central African Republic, may do so because of Russian military support they have been receiving since the Wagner Group joined the host of French, U.S., and international agencies providing training and “advice” to African security forces. [...]

As President Julius Nyerere of Tanzania commented in the late 1990s, wars waged by big powers, hot or cold, have not been good for Africans. [...] Peacemaking is essential. Wars must eventually end, and negotiation is essential even with those who have committed atrocities. As Africans know, the causes of war and who was the aggressor or who committed the worst atrocities can be debated endlessly among historians, active participants, and innocent civilians and victims and their descendants for generations. But Africans also know from experience, the vast majority of those involved in wars want peace and the freedom to go about their lives. [...]

That caution is even more critical in the age of social media as both information and disinformation propagate around the world at Internet speed. This is particularly true of Ukraine, in which the disinformation wars have been well rehearsed by all parties since the first Cold War ended in the early 1990s. For Africans, the war in Ukraine is a painful reminder that Western foreign policy priorities, in part as reflected by mainstream Western media outlets, are still shaped primarily by racial bias and geopolitical rivalries rather than the urgent global issues that face Africa and the world. [...]

Although news attention to Ukraine dropped significantly in April and May, it was still much more prominent in news in the United States than comparable conflicts in Africa or elsewhere in the Global South, according to Google Trends. [...] Africans focused on world affairs, less blinded by the Washington-insider tilt towards the Biden administration’s hawkish foreign policy than pundits in the West, should be emulated rather than scorned for their critical analysis of yet another “white people’s war” in Europe.
https://allafrica.com/stories/202206080280.html

Und wenn ich schon Indien oben kurz anspreche - auch hier eine Einschätzung:
Zitat:Modi’s Multipolar Moment Has Arrived

India, now courted by all sides, is the clear beneficiary of Russia’s war.

In every crisis, someone always benefits. In the case of Russia’s invasion of Ukraine, that someone is Indian Prime Minister Narendra Modi. By refusing to condemn Moscow and join Western-led sanctions, Modi has managed to elevate India’s global stature. Each of the other major powers—the United States, Russia, and China—are intensely courting India to deny a strategic advantage to their adversaries. Relishing the spotlight, Modi and his Hindu-nationalist government will surely look to keep the momentum going. Their likely goal is to carve out an independent superpower role for India, hasten the transition to a multipolar international system, and ultimately cement its new status with a permanent United Nations Security Council seat for India. [...]

Since 2018, New Delhi and Washington have held annual summits and signed numerous groundbreaking security agreements. Both nations are part of the Quadrilateral Security Dialogue (known as the Quad), along with Australia and Japan. At the Quad summit in Tokyo last month, Modi met U.S. President Joe Biden in person for the second time, complementing the two nations’ ongoing virtual discussions. New Delhi also joined Washington’s recently unveiled Indo-Pacific Economic Framework for Prosperity, which aims to intensify economic relations in the region short of a formal trade treaty. [...]

But when Russia invaded Ukraine, India decided to pursue an ultra-realist policy and protect Indian interests above all else—not least its deep dependence on Russia for military equipment. Rather than condemning one sovereign nation for invading and seeking to destroy another—an indisputable violation of the rules-based order—India demurred. At first, the Modi government’s strategy appeared destined to damage the U.S.-India partnership. In March, Biden described India’s commitment on punishing Russia as “somewhat shaky.” In early April, U.S. Deputy National Security Advisor Daleep Singh visited New Delhi and warned of potential “consequences” for countries that attempt to undermine U.S. sanctions. [...]

Over the last few months, India has also preserved its close ties to Russia by repeatedly abstaining at the United Nations when Western countries tabled resolutions against Russia. Russia and India have a long-standing partnership that dates back to the Cold War, when New Delhi believed Washington was actively supporting archrival Pakistan. India has always appreciated Russian support, particularly in the U.N. Security Council, where the territorial status of Jammu and Kashmir has routinely come up. India also has a long history of leveraging its partnership with Russia against its other archrival, China, with which it has ongoing border tensions. For decades, India has purchased Russian arms. According to one recent estimate, approximately 85 percent of India’s military hardware is Russian. [...] New Delhi’s oil imports from Russia rose sharply following Western-led sanctioning of Moscow. The same is true for coal, where India’s stocks may be running alarmingly low. India is certainly grateful to have Russian energy to fuel its development. [...]

Because India’s neutral stance is so obviously at odds with U.S. policy, Beijing has also sensed a strategic opportunity to engage New Delhi—with the primary goal of prying it from Washington’s tightening embrace. In March, Chinese Foreign Minister Wang Yi was the first senior Chinese official since 2019 to visit India, where he made Beijing’s courtship explicit. “If the two countries join hands, the whole world will pay attention,” he said. In the runup to Wang’s visit, the Chinese Communist Party’s English-language mouthpiece, the Global Times, also struck an unusually conciliatory tone, writing: “China and India share common interests on many fronts. For instance, the West recently pointed the finger at India for reportedly considering buying Russian oil at a discounted price. But it is India’s legitimate right.” [...] Russia’s war in Ukraine has undoubtedly benefited India as great powers are competing more vigorously for New Delhi’s affection, particularly the United States and China.
https://foreignpolicy.com/2022/06/06/modi-india-russia-ukraine-war-china-us-geopolitics-multipolar-quad/

Schneemann


RE: Russland vs. Ukraine - lime - 09.06.2022

(09.06.2022, 05:18)Schneemann schrieb: Zwar haben vor der UN die meisten Mitgliedstaaten den russischen Angriffskrieg verurteilt (von einer Handvoll "üblicher Verdächtiger" einmal abgesehen), dennoch ist die Lage in bspw. Südamerika etwas differenzierter zu betrachten, hier hat man sich bislang eher auf humanitäre Hilfe und verhaltene Kritik konzentriert; auch in Asien schleichen einige Länder wie die Katze um den vielfach bemühten heißen Brei bzw. um diesen Krieg herum und suchen eher nach dem eigenen Vorteil, etwa Indien oder China (also die beiden größten).
Schneemann

Was sind solche Verurteilungen durch UN-Institutionen schon wert? Man schaue sich diese Statistik an:

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/995237/umfrage/laender-mit-den-meisten-verurteilungen-durch-den-un-menschenrechtsrat/


RE: Russland vs. Ukraine - Schneemann - 09.06.2022

Die Bewertungen des Menschenrechtsrates kann man getrost ignorieren, bindend sind sie auch nicht. Allerdings fand dort gar keine Verurteilung des Angriffskrieges Russlands statt, sondern dies geschah in der UN-Generalversammlung. Und da haben 140 Staaten den Überfall verurteilt (was ausnahmsweise mal erstaunlich war)...

Schneemann