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RE: Russland - Quintus Fabius - 28.03.2021

Du hast schon recht, dass der Vergleich von CDU/CSU mit der Staatspartei in Russland de facto nicht möglich ist. Die Unterschiede solltem jeden Laien sofort auffallen. Auch ist das Ausmaß der institutionellen Korruption vollkommen verschieden.

Ich selbst wollte mit der Nennung der CSU nur darauf hinaus, dass die wahre Agenda einer Parteielite und dass was die Partei offiziell als ihr Programm verkündet und wofür sie gewählt wird ganz verschieden sein können. Das betrifft systemisch sehr viele Parteien, auch solche des linken Spektrums. Es macht daher keinen Sinn - wie es hier das Institutut und die BpB getan haben - aufgrund dieser Divergenz zwischen der wahren Agenda und dem was die Partei offiziell vertritt heraus zu erklären, diese Partei sei per definitionem nicht konservativ.

Ungeachtet der korrupt-parasitären Parteielite und ihres zynischen Nihilismus vertritt die Partei Einiges Russland offiziell als Parteiprogramm eben astreine nationalkonservative Werte und wird genau wegen dieser gewählt. Sie ist daher per definitionem eine konservative Partei, wie auch die BpB in dem von mir vernetzten Artikel ja selbst klar heraus stellt. Die korrupte zynische Führung ändert ja nichts daran, dass die Mehrheit der Russen konservative Einstellungen hat und auf dem Land die absolute Mehrheit National-Konservativ ist.

Die nihilistischen Eliten mussten sich daher in ihrer Propaganda und Selbstdarstellung an diese sozialkulturelle Grundströmung angleichen. Die Ironie dabei ist eben, dass sie zum Machterhalt diese Grundströmung überhitzt haben und hier teile ich eben nicht mehr die Ansicht dieses Instituts dass das mit dem Fall des Systems Putin wieder nachlassen und weggehen würde. Das ist Wunschdenken. Den wer sollte das System Putin stürzen? Es wird von Rechts her gestürzt werden.


RE: Russland - lime - 28.03.2021

(27.03.2021, 23:45)Quintus Fabius schrieb: lime:

Putin (und die Eliten an der Spitze der Partei) haben über viele Jahre hinweg mit einer Unzahl von Handlungen bewiesen, dass sie in Wahrheit keine konservative Einstellungen haben und es nur um Geld und Macht geht und man dafür bereit ist jeden nur denkbaren Wert praktisch zu verraten. Das kann jeder Laie einfach an den realen Handlungen dieser Personen ersehen. Sieh dir nur mal die Datschen-Kooperative Osera an und was aus ihren Mitgliedern geworden ist. Und sieh dir deren wahres Privatleben an. Das sind keine Konservativen. Das ist eine dekadente und durch und durch korrupte Kleptokratie welche die besten Charakterzüge des einfachen russischen Volkes ausnützt.

Ich glaube außerdem durchaus, dass die Staatspartei selbst in Russland in der Basis und durchaus auch in weiten Teilen im mittleren Bereich wirklich echt und aus Überzeugung national-konservativ ist. Die Führung dieser Partei aber ist gesichert einfach nur korrupt und parasitär und ihrem praktischen realen Leben alles andere als konservativ.

Natürlich ist es Heuchelei selbst nicht die bzw. alle Werte der eigenen Partei zu vertreten, vor allem wenn man auch noch in deren Vorstand sitzt bzw. deren Präsidentschaftskandidat ist. Das Problem wird es aber in sehr vielen Parteien auf der Welt geben. Wenn ich die CDU/CSU nun aber als Vergleich nehme so hat man etliche Punkte die man Jahrzehnte vertreten hat aufgegeben und teils ins genaue Gegenteil verkehrt. Zum Beispiel bei Atomkraft, Mindestlohn, Asyl, Einwanderung, Staatsbürgerschaft, Homoehe, Klima usw. So eine Wandlung sehe ich bei der Putinpartei eben nicht. Die Partei macht konservative Politik auch wenn sich die Protagonisten an der Spitze vielleicht selbst nicht immer konservativ verhalten.


RE: Russland - Ottone - 28.03.2021

Ein sehr schönes Beispiel für Heuchelei war das berühmte Foto von Patriarch Kirill mit seiner Rolex. Es hat hohe Wellen geschlagen.

Konservativ heisst nicht unbeweglich: Das Klimaproblem ist sehr real, und konservativ ist, Massnahmen zu ergreifen um unser Leben auf dieser Erde zu bewahren. Wenn sich Politik nicht bewegen und an verändernde Rahmenbedingungen anpassen kann, dann ist sie gescheitert und dient nicht dem Wohl des Volkes. Wer stur beharrt der geht unter.


RE: Russland - Quintus Fabius - 28.03.2021

lime:

Die Politik dieser Partei erfolgt in dieser Form nur aus dem Grund, weil man sonst die Macht verlieren würde. Sie ist also lediglich eine Anpassung an die deutlich konservativere sozialkulturelle Grundströmung in Russland. Der Grund warum also diese Politik in den letzten Jahren immer stärker werdend national-konservativ war liegt einfach darin begründet, dass eine Mehrheit der Russen heute sozialkulturell genau so eingestellt ist. Weil diese Einstellung bei einer Mehrheit vorhanden war, entwickelte sich daraus eine dialektische Entwicklung: Die Regierung griff auf was bereits vorhanden war und nutzte es, verstärkte aber dadurch zugleich diese Einstellungen bei der Mehrheit der Russen. Musste dem folgend wieder nachsteuern und verstärkte erneut diese Sozialkultur.

Die Politik ist daher nicht so stabil wie du es hier sagst, sondern sie entwickelt sich auch weiter, nur in eine völlig gegenteilige Richtung zu dem was wir hierzulande als gesellschaftlichen Fortschritt verstehen. So wie die CDU/CSU ihre politischen Auffassungen in den letzten 20 Jahren deutlich geändert hat (man sehe sich mal Reden von Merkel um das Jahr 2000 herum an), so änderte sich auch in Russland die Politik hin in Richtung von mehr und mehr Nationalkonservatismus.

Genau genommen wird Putin heute die Geister welche er da rief nicht mehr los. Man heizt den Nationalismus immer weiter an um sich an der Macht zu erhalten, gleichzeitig gefährdet man damit zunehmend ebenfalls die eigene Stellung. Diese Ironie beschreibt der BpB Artikel durchaus sehr gut und weißt auch auf die Gefahren hin welche sich daraus ergeben.


RE: Russland - lime - 28.03.2021

(28.03.2021, 00:19)Ottone schrieb: Ein sehr schönes Beispiel für Heuchelei war das berühmte Foto von Patriarch Kirill mit seiner Rolex. Es hat hohe Wellen geschlagen.

Konservativ heisst nicht unbeweglich: Das Klimaproblem ist sehr real, und konservativ ist, Massnahmen zu ergreifen um unser Leben auf dieser Erde zu bewahren. Wenn sich Politik nicht bewegen und an verändernde Rahmenbedingungen anpassen kann, dann ist sie gescheitert und dient nicht dem Wohl des Volkes. Wer stur beharrt der geht unter.

Und Du glaubst unsere Bischöfe usw. leben in Askese? Was ist schon eine Rolex? Habe selbst welche. Und es ist ein Unterschied ob man sich in seinen wichtigsten Kernthemen um 180 Grad wendet oder über die Jahre nur leichte Anpassungen vornimmt. Das Klimaproblem mag real sein, aber nur für die westliche Welt und für die Staaten die jetzt noch Geld aus dem Klimatopf bekommen. Wenn dies versiegt wird außerhalb der westlichen Welt keiner mehr mitmachen beim sogenannten Klimaschutz.


RE: Russland - Quintus Fabius - 28.03.2021

lime:

Die Politik der russischen Regierungspartei hat keineswegs über die Jahre nur kleine Anpassungen vorgenommen. Es gab auch in Russland deutliche Veränderungen in der langen Zeit welche das System Putin dieses Land nun im Griff hat. Deine Vorstellung dass Russland politisch statisch konservativ war und ist - ist falsch.

Die Veränderung ist eben nur eine ganz andere als hierzulande. Während hierzulande de facto gar keine ernsthafte politisch relevante Partei mehr tatsächlich wirklich konservativ ist (in Anteilen noch die CSU, die Freien Wähler und die AfD, aber wie gesagt nur in Anteilen) - geht die Entwicklung in Russland in Richtung von mehr Nationalkonservatismus. Also rechtem Konservatismus. Die Zustände welche das zur Folge hat waren noch vor 20 Jahren so nicht gegeben. Das ist eine sich wechselseitig verstärkende Bewegung.

Und das war eben meine Kritik an der Analyse des besagten Instituts, dass dies nur eine künstliche von oben aufoktroyierte Haltung sei die von selbst verschwinde wenn die Propaganda aufhören würde, dass diese Haltung also keine echte Tiefe hätte und nicht nachhaltig sei. Dem ist nicht so.

Russland wird eben mehr und mehr rechtskonservativ und konservative Werte nehmen dort zu, während sie bei uns weitgehend verschwunden sind. Das was heute in dieser Bundesrepublik als konservativ bezeichnet wird, ist alles andere als das und das was hierzulande heute als rechts bezeichnet wird war noch in den 90ern ganz normale CDU/CSU Position der konservativen Mitte.

Das also hierzulande Parteien wie die CDU sich vollständig von konservativer Politik abgewandt haben, heißt in Bezug auf Russland gar nichts und ich verstehe daher auch nicht, warum du diese Verknüpfung fortwährend bringst und wiederholst. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?

Russland ist wiederum nicht so statisch wie du es hier darstellst, die Veränderungen sind offensichtlich. Dass Kosaken in zaristischen Uniformen öffentlich vor laufender Kamera eine Girl-Punk Band mit der Knute durchprügeln wäre bei der Amtsübernahme durch Putin für die Mehrheit unvorstellbar gewesen. Und wird heute von einer Mehrheit dort gefeiert und für richtig befunden.


RE: Russland - Schneemann - 29.03.2021

Zitat:Und zum Thema Familie als Begriff für Vater, Mutter und mindestens drei Kinder. Es ging darum was 90% der Bevölkerung als normal betrachten und was von der BPB hier lächerlicherweise als "ultrakonservativ" bezeichnet wird. Da stört mich klar das "ultra" denn es ist klar was damit suggeriert werden soll. Ich bin in meinem Leben auf der Welt bisher sehr viel herum gekommen und da ist benanntes Familienmodell einfach fast immer die Norm, auch wenn es viele nicht erreichen, so wird es doch von ihnen angestrebt. Einzig und allein in der westlichen Welt sieht man das teilweise anders, aber selbst in den westlichen Staaten glaube ich dass es auch dafür noch eine Mehrheit in der Gesellschaft gibt. Die sogenannte "westliche Welt" ist aber rein von der Bevölkerungszahl global gesehen auch ein Winzling. Nicht einmal 10% der Weltbevölkerung kann man dieser zurechnen und die Tendenz ist weiter klar sinkend. Ihr Einfluß wird weiter abnehmen, soviel ist sicher.
Ich denke, dass hier definitiv die Religiosität eine Rolle spielt: In Russland war die Orthodoxie zu Sowjetzeiten stets unterdrückt, zugleich jedoch wurde in der Anfangsphase der Sowjetunion genau diese Normenvorgabe bzgl. Familie etc. extra ausgehebelt. Interessant hierbei: In den frühen Jahren Sowjetrusslands und der Stalinzeit etwa galten "Ehe" und "klassische Familientradition" als Relikte eines überkommen-moralisierenden und verteufelten Bourgeoisie-Gedankentums. In der Folge stellten sich allerdings erhebliche Schwierigkeiten ein - u. a. verzeichnete man landesweit zu Beginn der 1930er Jahre eine sechsstellige Zahl von Straßenkindern, auch die Syphilis-Fälle gingen durch die Decke. Die Sowjetbehörden versuchten darauf, durch rigide Vorgaben dieser "freien Liebe" wieder entgegenzuwirken. Da sie aber damit wieder in die Nähe der Kirche kamen, die sie ja ebenso ablehnten, machten sie einen ideologischen Spagat, der dem dem "freien" Sowjetmenschen nahelegte, er solle mehr oder minder bitteschön keusch die Familie achten und zugleich aber nicht in die "Versuchungen" der Popen mit ihrer ähnlichen Ideologie kommen. Diese gehörige geistige Verwirrung, die den einfachen Sowjetmenschen vom Lande sicherlich heillos überforderte, in Kombination mit von oben vorgegebener sexueller Enthaltsamkeit soll - so mutmaßen manche Autoren (z. B. Beevor) - auch die Exzesse zu Ende des Zweiten Weltkrieges in den deutschen Ostgebieten und in Polen, als die Rote Armee nach Westen vorstieß, zumindest negativ mitbeeinflusst haben.

Abgesehen davon macht die Bevölkerung der westlichen Hemisphäre deutlich mehr als nur 10% der Weltbevölkerung aus. Wink

Darüber hinaus ist erstaunlich, welches Revival die Orthodoxie nach dem Kollaps des Sowjetimperiums erlebte. Es zeigte sich, dass die Masse der russischen Bevölkerung nachwievor, trotz sieben Jahrzehnten Bolschewismus und religiöser Unterdrückung, ihrem Glauben und - wenn man so möchte - religiösem Konservativismus treu geblieben war. Dass dies so war, lag allerdings auch daran, dass die 1990er Jahre ein Jahrzehnt der blanken Verzweiflung für die Menschen in Russland waren und dass viele Menschen, da der erodierte Jelzin-Staat quasi keinerlei Verantwortung mehr zu übernehmen gedachte (und wohl auch gar nicht konnte), einen letzten Halt in dieser alten Tradition sahen. Putin hat durchaus geschickt an dieses Empfinden angeknüpft (wobei er vermutlich gegen dieses Empfinden auch gar nicht hätte agieren können).

Schneemann.


RE: Russland - Quintus Fabius - 30.03.2021

Die "Religiösität" (Bekenntnis zur russische Orthodoxen Kirche / rigide Einhaltung derer Bräuche und Kirchenkultur) hat dabei - so seltsam das klingen mag - weniger religiöse als vielmehr nationalistische Gründe. Man definiert sich kulturell sehr stark über die orthodoxe Kirche und ihre Sitten (auch weil andere kulturelle Traditionen und Wurzeln durch die Sowjetunition zerstört wurden). Das ist recht ähnlich wie in Griechenland, wo ebenfalls das Bekenntnis zur griechischen Orthodoxie mehr Teil des nationalen Selbstverständnisses ist als tatsächlich rein religiöses Bekenntnis.


RE: Russland - lime - 31.03.2021

(30.03.2021, 22:57)Quintus Fabius schrieb: Die "Religiösität" (Bekenntnis zur russische Orthodoxen Kirche / rigide Einhaltung derer Bräuche und Kirchenkultur) hat dabei - so seltsam das klingen mag - weniger religiöse als vielmehr nationalistische Gründe. Man definiert sich kulturell sehr stark über die orthodoxe Kirche und ihre Sitten (auch weil andere kulturelle Traditionen und Wurzeln durch die Sowjetunition zerstört wurden). Das ist recht ähnlich wie in Griechenland, wo ebenfalls das Bekenntnis zur griechischen Orthodoxie mehr Teil des nationalen Selbstverständnisses ist als tatsächlich rein religiöses Bekenntnis.

Welche sollen das denn sein? Das Zarentum? Das basierte doch auch auf der orthodoxen Kirche. Es gibt auch eine wachsende Minderheit die sich für diese Herrschaftsform noch stark macht.


RE: Russland - Quintus Fabius - 31.03.2021

Es gab in Russland viel mehr als nur Zarentum und Orthodoxie - ad extremum könnte man als totale Gegenseite dazu beispielsweise den spezifisch russischen Nihilismus des 19 Jahrhunderts und seinen Einfluss auf die russische Hochkultur anführen - und die Sowjetzeit hat da immens viel an traditionellem Brauchtum und früheren sozialkulturellen Strömungen nachhaltig beschädigt oder ganz gekappt. Gerade deshalb die heutige Sehnsucht nach dem späten Zarenreich, weil in der Sowjetunion so viel von den eigenen Wurzeln zerstört wurde. Da es aber hier eben keine durchgehende sozialkulturelle Linie gibt, erschafft man sich heute seine Vorstellung vom späten Zarenreich eben neu, als Zerrbild dessen was real einst da gewesen ist. Das gleiche beispielsweise für die Widerauferstehung der Kosaken und ihrer eigenen Kultur, diese wurden in der Sowjetunion brutal unterdrückt und ihre Kultur völlig zerschlagen. Nun wird diese de facto künstlich wieder aufgebaut, beruft sich auf die damaligen Vorbilder und ist dennoch mehr eine Art Reenactment als eine echte Kultur-Linie. Man hält da Ideale hoch die so wie sie heute gesehen werden damals gar nicht gelebt wurden.


RE: Russland - Schneemann - 01.04.2021

Das ist ja gerade das bittere Element hieran. Da sich Sowjetunion - auch wenn Putin deren Zusammenbruch mal bedauert hatte - und Revolution mehr oder minder selbst diskreditiert haben, findet eine Hinwendung zum Davormaligen statt, wobei diese Hinwendung nicht im Rahmen eines kritischen Diskurses oder einer zumindest weitgehend historisch fundierten Erinnerung allgemein sich herausbildet, sondern als eine idealisierte Verzerrrung an den Tag tritt, die die Lücke des eigenen, patriotischen Fühlens in der heutigen Zeit schließen und ergänzen soll.

Allerdings muss man fairerweise auch die Frage stellen, inwieweit es der russischen Seele angesichts der bisherigen "Biographie" des Landes überhaupt noch zuzumuten (bzw. abzuverlangen) wäre, dieses zaristische Erbe ebenso - besser: auch noch - negativ-kritisch zu deuten, nachdem Bolschewismus, die marode Sowjetunion und das Jahrzehnt der protokapitalisch-oligarchischen "Halbwegs-Demokratie" danach ja völlig desavouiert sind. An was soll man sich als Russe denn sonst heutzutage noch anlehnen in einem Gebiet, in dem es 200 verschiedene Ethnien gab?

Weil: Selbst in einer gefestigten, wohlhabenden und kritisch-demokratisch ausgebildeten Zivilgesellschaft wäre diese Forderung nach Eigen- und Neudefinition schon eine Herausforderung. In einem Staat, der noch nie eine wirkliche Demokratie und eine demokratisch-tolerante Zivilgesellschaft verfestigen konnte und der sich tragischerweise von Monarchie über totalitäre Diktaktur zu Oligarchentum und wieder zur Autokratie entwickelt hatte, ist es quasi unmöglich, dies zu verlangen, weil die Gesellschaft es ohne gravierende Brüche schlicht nicht bewältigen könnte (und vermutlich es deswegen auch nicht wagen will - auch wenn sie es ahnen mag). Leider...

Schneemann.


RE: Russland - hunter1 - 01.04.2021

Rezepte gäbe es genug, wenn man von Russland aus nach Westen schielt. Das Problem ist nur, dass Demokratie in jedem Fall harte Arbeit voraussetzt und viel Geduld erfordert. Voraussetzung ist eine Staatsform, die Law-and-Order sicherstellt. Vielleicht wünschen sich Menschen in Russland ja auch deshalb einen Zaren: Eine Integrationsfigur, die Gutes tut (im Kontrast zu den ehemaligen Zaren). Während dieser Zeit haben Grundrechte sowie das Dreinreden von allen möglichen Gruppen halt einfach nichts in dem Gebilde verloren. Der Bürger will einen normalen Tagesablauf und Sicherheit. Erst wenn diese bestehen, kann man eine westliche Demokratie erstellen.
Putin ist auf diesem Weg irgendwo gescheitert, falls er überhaupt je in die Richtung wollte. Zu Beginn gab es durchaus Hoffnung, dass er den Sauhaufen, den Jelzin hinterliess, in Ordnung bringen würde um erst obiges Fundament zu schaffen. Russland hat sich tatsächlich ein Stück weit stabilisiert, bevor dieser Zug dann endgültig von den Schienen sprang. Inzwischen hat Putin ja nur noch den Ruf, sich auf Kosten des russischen Volkes schamlos zu bereichern. Die Oligarchen tragen heute einfach andere Namen als zu Jelzins Zeiten. Die Frage ist, ob nach Putin endlich mal kein egoistisches Staatsoberhaupt in Erscheinung tritt, das für die Russen arbeitet, statt für ein paar Günstlinge und sich selbst.
Den Russen selber attestiere ich durchaus die Fähigkeit und den Willen, sich zu wandeln. Im Verlauf der letzten 120 Jahre sind dort viele Revolutionen passiert.


RE: Russland - Quintus Fabius - 02.04.2021

Das primäre Problem woran das ganze Land krankt ist heute die Korruption. Eine Mehrheit der Russen träumt zwar von einem (autokratischen) Staat der diese rigoros ausmerzt, praktiziert aber im Alltag selbst Korruption. Als (moralische) Legitimation dafür wird dann explizit genannt, dass die Regierung ja selbst hochgradig korrupt ist und man deshalb auch korrupt sein kann, während man unter einem richtigen Herrscher nicht korrupt wäre.
Man wartet in weiten Teilen des Volkes eigentlich auf eine Art Führer, und eine Mehrheit versteht heute dass Putin dieser herbei gesehnte Autokrat nicht ist. Dieser Erlösungswunsch durch einen Führer wird in Russland durchaus öffentlich diskutiert, beispielsweise wurde Nawalny schon von anderen Politikern als dieser bezeichnet und die Schärfe der Reaktionen des Systems Putin auf Nawalny bis hin zum Giftmord mit chemischen Kampfstoffen zeigt klar auf, dass man die Gefährlichkeit dieser Gemengelage begreift.

Würde ein entsprechender Populist in Russland auftreten, mit entsprechendem faschistischem Gedankengut, er könnte sich durchsetzen weil das Volk ab einer gewissen kritischen Masse zu ihm vollständig übergehen würde. Das würde nicht nur das aktuelle System eliminieren, es würde meiner Einschätzung nach eine Gefahr für Europa sondergleichen darstellen.

Meiner rein privaten Meinung nach ist es sogar recht wahrscheinlich, dass es in Russland einen Umsturz nach rechts in Richtung eines tatsächlichen offenen Faschismus geben wird. Bleibt die Frage wann?!


RE: Russland - lime - 02.04.2021

(02.04.2021, 01:17)Quintus Fabius schrieb: Das primäre Problem woran das ganze Land krankt ist heute die Korruption. Eine Mehrheit der Russen träumt zwar von einem (autokratischen) Staat der diese rigoros ausmerzt, praktiziert aber im Alltag selbst Korruption. Als (moralische) Legitimation dafür wird dann explizit genannt, dass die Regierung ja selbst hochgradig korrupt ist und man deshalb auch korrupt sein kann, während man unter einem richtigen Herrscher nicht korrupt wäre.
Man wartet in weiten Teilen des Volkes eigentlich auf eine Art Führer, und eine Mehrheit versteht heute dass Putin dieser herbei gesehnte Autokrat nicht ist. Dieser Erlösungswunsch durch einen Führer wird in Russland durchaus öffentlich diskutiert, beispielsweise wurde Nawalny schon von anderen Politikern als dieser bezeichnet und die Schärfe der Reaktionen des Systems Putin auf Nawalny bis hin zum Giftmord mit chemischen Kampfstoffen zeigt klar auf, dass man die Gefährlichkeit dieser Gemengelage begreift.

Würde ein entsprechender Populist in Russland auftreten, mit entsprechendem faschistischem Gedankengut, er könnte sich durchsetzen weil das Volk ab einer gewissen kritischen Masse zu ihm vollständig übergehen würde. Das würde nicht nur das aktuelle System eliminieren, es würde meiner Einschätzung nach eine Gefahr für Europa sondergleichen darstellen.

Meiner rein privaten Meinung nach ist es sogar recht wahrscheinlich, dass es in Russland einen Umsturz nach rechts in Richtung eines tatsächlichen offenen Faschismus geben wird. Bleibt die Frage wann?!

Ich frage mich nur warum der Westen mal wieder sehenden Auges das Falsche tut? Wie kann man diese Entwicklung ernsthaft noch beflügeln wollen? Meines Erachtens wird die Fehleinschätzung noch größer sein wie beim sogenannten "arabischen Frühling". Jeder meiner Freunde der politisch interessiert ist hat vermutet dass bei diesem am Ende die Islamisten profitieren würden. Warum begreifen das viele Normalbürger aber die Politiker nicht? Ist der Elfenbeinturm schon so hoch?


RE: Russland - Ottone - 02.04.2021

Was genau meinst Du mit "das Falsche tun" und "die Entwicklung beflügeln", was wäre stattdessen Deine Massnahme? Und wer genau ist hier "der Westen"?